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Technische Auslese

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Immer wieder hört man, daß Oesterreich zu wenig Ingenieure und Techniker ausbildet. Wenn sich diese Entwicklung fortsetze, werde nicht nur Oesterreich, sondern ganz Europa von Rußland überflügelt werden, wo’jährlich mehr als zwei Millionen Techniker die Schulen verlassen.

Nun, wie ist die augenblickliche Lage in Oesterreich wirklich? Um eine Ausbildung als Techniker in Oesterreich zu erreichen, kann man zwei Wege einschlagen. Der erste besteht in der Absolvierung einer allgemeinen Mittelschule mit Reifeprüfung (Matura) und anschließendem Studium an einer technischen Hochschule. Nach den Staatsprüfungen erhält der Kandidat ein Diplom und den akademischen Titel „Diplomingenieur“ (Dipl.-Ing.). Der zweite Weg sieht den Besuch einer technisch-gewerblichen Schule (Bundesgewerbeschule) vor. Durch ‘ Abfögürfg’iiridr Abschlüßpttiftitrg (Reifepfjlfung) ‘"känff’dfet Absolvent nach vidfjähriger Industrie-., praxis die Standesbezeichnung „Ingenieur" (Ing.) erreichen. Voraussetzung für den Besuch einer solchen technischen Mittelschule ist die mit Erfolg absolvierte vierte Haupt- oder Untermittelschule (vier Klassen). Ob eine einwandfreie Ausbildung durch den zweiten Weg derzeit erreicht wird, soll im folgenden untersucht werden.

Auf einer Expertentagung in Bad Ischl im Jahre 1946 wurde für das berufsbildende Schulwesen ein neuer Lehrplan festgelegt, der für die Bundesgewerbeschulen eine fünfjährige Ingenieurschule oder eine dreijährige Fachschule vorsieht. Nach Beendigung der Fachschule erhält der Absolvent ein Facharbeiterzeugnis, das ihn als eine fachlich ausgebildete Arbeitskraft qualifiziert. Der Absolvent der sogenannten „Fünfjährigen“ erhält ein Reifezeugnis, das ihn unter gewissen Bedingungen sogar zum Besuche einer technischen Hochschule zuläßt. Ob nun ein Schüler die dreijährige Fachschule oder die fünfjährige Ingenieurschule absolvieren kann, richtet sich nach seinem Studienerfolg am Ende der zweiten Fachschulklasse. Hat er in den einzelnen Unterrichtsfächern keine schlechtere Note als „befriedigend“, so kann er in den dritten Jahrgang der „Höheren“ eintreten. In seltenen Ausnahmefällen kann der Schüler auch mit höchstens drei „Genügend"-Noten in den dritten Jahrgang zugelassen werden. Ansonsten kann der Schüler sein Studium nur mit der dritten Fachschulklasse beenden.

Dieses sogenannte „Ischler Programm ist schon lange genug in Erprobung, so daß es bereits möglich ist, sich ein Bild über seine Bewährung zu machen. Vielfach zeigt es sich, daß ein Großteil der Schüler der ersten Klassen den Anforderungen geistig nicht gewachsen ist. Der Grund hierfür ist, daß die Kinder zu jung die Volksschule verlassen und den Anforderungen der Haupt- und Mittelschule ziemlich hilflos gegenüberstehen. Von hundert Kindern bringen höchstens fünfzehn eine annehmbare Schrift aus der Volksschule mit. In Rechnen und Rechtschreibung sind die Erfolge keineswegs besser. Warum? Die Schule von heute übt den Lehrstoff mit den Kindern nicht mehr ein, sondern hat den so notwendigen Nachmittagsunterricht für das Einüben und Schönschreiben von Anno dazumal längst dem Elternhaus in Form von immensen Hausarbeiten übertragen. Die Haupt- und

Mittelschule soll nun auf ein Fundament aufbauen, das in Wirklichkeit nicht vorhanden ist.

Nachdem nun die Haupt- oder Untermittelschule zur Not absolviert ist, taucht die Frage auf, welchen Beruf das Kind erlernen soll. Als Lehrling in das Gewerbe, die Industrie, den Handel? Nein, denn die Eltern wollen, daß ihr Sohn „es einmal leichter im Leben haben“ soll. Da erscheint eine berufsbildende staaatliche Schule, eine Bundesgewerbeschule, als der glückliche Ausweg. Bestärkt darin wird man noch, daß er immer ein guter „Bastler“ gewesen ist Nun kommen diese Schüler in die Gewerbeschule und bewerben sich um die Aufnahme. Was wird dort verlangt? Vor allem sauberes Zeichnen, lesbare Handschrift, gutes Rechnen und Beherrschung der Unterrichtssprache. Aber nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz bringt diese Kenntnisse tatsächlich mit. Anscheinend ist man det Ansichtrdffese KenhtniSSb1 ‘WCfden dem eintretenden Schüler schon vermittelt’weiden. Nein! Diese Kenntnisse sind Voraussetzung für ein erfolgreiches Studium. Und das Fehlen dieser Kenntnisse ist die Ursache des Versagens vieler Schüler. Ein weiterer Grund für das Versagen liegt darin, daß die Unterrichtszeit von meist 48 Wochenstunden, und auch mehr, ohne Zweifel zu hoch ist. Wenn man freilich daran festhalten will, daß die Gewerbeschule in Oesterreich nicht nur berufsbildend sein, sondern auch Allgemeinbildung vermitteln soll, wäre diese hohe Wochenstundenzahl eigentlich nicht zu hoch.

Nach all dem muß man sich eigentlich fragen, wieso trotz allem so viele junge Menschen den Versuch eines solchen Studiums wagen. Psychologen und Pädagogen haben festgestellt, daß die heutige Jugend von einer erschreckenden Interesselosigkeit erfaßt ist. Das einst so scheel angesehene „Strebertum" fehlt völlig. Wenn sich eine Arbeit oder Aufgabe nicht „spielend" lösen läßt, wird sie einfach beiseite gelegt. „Lerne spielend“ ist der letzte Schrei. Manueller, weil meist anstrengender Arbeit, weicht man nach Möglichkeit aus. Also bleibt nur die „geistige" Arbeit. Und dazu werden die Eltern nur zu leicht verleitet, da das Studium an einer Bundesgewerbeschule wahrhaftig mehr als „preiswert" ist. Kostet doch das eigentliche Schulgeld nicht einmal 100 S für ein ganzes Schuljahr! Ist es daher ‘weitöri vcrwünderlich, Wenn ‘diö ‘Eltern’ rfrit’ rillen Mitteln versuchen, auch unbegabte Kindö¥sin der Schule zu belassen, selbst wenn dies nur durch kostspielige Nachhilfestunden möglich ist? Ist das nicht ein glatter Unsinn: Nachhilfestunden in einer berufsbildenden Schule, wenn die Voraussetzungen für den Beruf eines Technikers überhaupt nicht gegeben sind? Gelingt es aber doch, daß sich ein solcher Schüler bis in den 4. Jahrgang „hinaufrepetiert" hat, dann bleibt den Lehrern nichts anderes übrig, als ihn mit allen Mitteln über die Hürde der Abschluß-

prüfung zu bringen. Lind dann verläßt ein junger Mensch die Schule, auf dessen Kenntnisse und Arbeitsfreudigkeit Oesterreichs Industrie fünf Jahre gewartet hat ! Kommt der Schüler jedoch nur in die dritte Fachschulklasse, ist er verbittert, weil man ihm, seiner Meinung nach zu Unrecht, das höhere Studium unmöglich gemacht hat; als Folge davon absolviert er die Klasse gänzlich uninteressiert. Und dann geht wieder einmal ein „guter Facharbeiter“ in die Praxis Gewiß, die Wirtschaft nimmt sie auf, weil nichts Besseres da ist, und macht sie langsam verwendungsfähig, aber die Kosten hiefür zahlt die Allgemeinheit, indem sie die Preise der Industrie- und Gewerbeerzeugnisse, teils murrend, teils apathisch zur Kenntnis nimmt.

Was wäre also zu tun, um diesen Zustand zu bessern? Zuerst sei festgestellt, daß wir unseren Bedarf an technisch geschulten Kräften nicht künstlich überschätzen sollten. Um jedoch gute Techniker zu schulen, müßte vor allem die Volksschule wieder auf fünf Klassen gebracht werden (9. Schuljahr), damit das Kind mit einer höheren geistigen Reife in die Haupt- oder Mittelschule eintritt. Haupt- oder Mittelschule müßten ferner auf die geistige Vorbereitung des technischen Aufnahmewerbers Rücksicht nehmen. Derzeit ist es leider so, daß die Mittelschule unbegabte Schüler gerne in die Gewerbeschule abschiebt, gleichgültig, ob der Schüler dort Erfolg verspricht oder nicht. Auch in der Mittelschule muß man den Mut aufbringen, den Eltern zu sagen, daß das Kind für ein Studium nicht geeignet ist. Wer geht schon von der vierten Mittelschulklasse in die Bundesgewerbeschule? Zu 90 Prozent sind es Schüler, bei denen wenig Aussicht besteht, daß sie bis zur Matura kommen werden. Von den Mittelschultypen sind also im großen und ganzen keine richtigen Aufnahmewerber zu erwarten. Es bleibt somit nur die Hauptschule Aber auch in der Hauptschule erreichen die Schüler nicht die notwendige Ausbildung für die Gewerbeschule. Die Aufnahmewerber haben größtenteils kein Zeichentalent, ihre Schrift istun- leserlich. Orthographie und Rechnen sind mangelhaft, und das technische Vorstellungsvermögen ist nicht geschult. Mit Ach und Krach besteht man die Aufnahmeprüfung, und kurze Zeit später erkennt man bereits, daß man den Schwierigkeiten der Schule nicht gewachsen ist.

So bleibt kein anderer Ausweg als eine wesentliche Umgestaltung des Lehrplanes der Gewerbeschulen. Es ist ÜMMSflftfc, "VSrfi’hiti ffeigen Mgftsefi’eff etM tefhteifrimft’rtlnd 4 WochOnstunden zü’ vftflah¡: gen. Wer von den Erwachsenen ist imstande, ungefähr sieben Stunden täglich Vorträgen gesammelt zu folgen? Der Lehrplan muß so ge ändert werden, daß das Lehrziel von einem Durchschnittsschüler mit einigem Fleiß und Interesse erreicht werden kann. Das Lehrziel darf nicht darin bestehen, zu versuchen, dem Schüler Kenntnisse zu vermitteln, die ihn zum Besuche einer technischen Hochschule reif machen. Nein. Bei der Abschlußprüfung soll der Schüler nur Kenntnisse nachweisen, die man von einem Fachschulingenieur beim Eintritt in die Industrie erwarten kann. Deshalb müßten die allgemein bildenden Lehrfächer weggelassen werden, weil hiefür ganz einfach keine Zeit vorhanden ist. Es muß dem Schüler unbedingt so viel Zeit bleiben, daß er auch zu Hause studieren und Hausarbeiten machen kann. Die Idee, daß ein Schüler zu Hause für die Schule nichts mehr arbeiten darf, läßt sich nicht verwirklichen. Durch die tägliche Ueberbean- spruchung in der Schule erklären sich die derzeitigen geringen Erfolge der Durchschnittsschüler. Mit ihren unzureichenden Vorkenntnissen sind sie eben nicht in der Lage, mehr zu leisten.

Zum Schluß nochmals: das Schulgeld. Gewiß hat der Staat, also die Allgemeinheit, ein großes Interesse an einer guten Ausbildung des Technikers. Aber dieses Interesse kann einzig und aDein hur darin bestehen, daß der begabte und mittellose Schüler unterstützt und gefördert wird. Die derzeitige Höhe des Schulgeldes an den mittleren Lehranstalten von ungefähr 100 Schilling pro Jahr ist untragbar. Es geht nicht, am daß sich alles,-ob,.arm oder-reich, ob, begabt oder unbegabt zum-Studium drängt,

nur weil dieses Studium praktisch nichts kostet. Wird das Schulgeld auf die richtige Höhe gebracht werden (natürlich immer wieder mit der Einschränkung, daß mittellose Begabte davon befreit werden können), dann wird als erste wohltuende Folge das „versuchsweise Studieren“ der Unbegabten und Desinteressierten schlagartig aufhören. Als weitere günstige Auswirkung werden die Schulen nicht so überfüllt sein und die Lehrer sich wesentlich mehr als bisher mit den einzelnen Schülern befassen können, wodurch das Wissensniveau gehoben würde.

Ich fasse zusammen: Eine grundlegende Verbesserung der Ausbildung unseres technischen Nachwuchses ist nur möglich durch besseren geistigen Unterbau (9. Schuljahr), durch eine Aenderung des Lehrplanes der technisch-gewerblichen Schulen, verbunden mit einer Verminderung der wöchentlichen Unterrichtsstundenzahl, und durch Erhöhung des Schulgeldes bei gleichzeitiger Förderung der mittellosen Begabten durch entsprechend hohe Stipendien. Je früher die verantwortlichen Stellen dieses Problem lösen werden, desto rascher wird Oesterreichs Wirtschaft jene Techniker erhalten, die sie für eine Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen eines wirt- -sahaftlicb. verainigten -Europa1 sb -dringend - nötig haben-,-Wird.

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