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Umwege zur Einheitsschule

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Die; Wandlung unserer allgemeinbildenden Mittelschule aus einer Stätte der Wissensbildung in eine soziale Einrichtung mit gelenkter Freizeitgestaltung scheint unaufhaltsam zu sein. Eng damit verbunden ist die Veränderung in der Aufgabe des Professors: aus dem Mittler zwischen der Wissenschaft und der her- anwachsenden Generation wird immer mehr der Empfänger von Fragebogen. Ihr Inhalt wird von irgendwelchen jugendpsychologischen oder sozialen Instanzen bestimmt, ihr Ziel aber und ihre Auswertung wird dem lediglich zur Ausfüllung befohlenen Söireiber selten oder überhaupt nicht mitgeteilt. Der Schüler schließlich, der von seinen Eltern der Schule anvertraut wurde, um Antwort auf die Fragen „Was ist?“ und „Was ist geworden?" zu erhalten, also das Sein und Werden, Natur und Geschichte als Gegenstand seines Denkens zu erfassen, dieser Schüler wird selbst das Objekt, das den Unterricht bestimmt. Die Frage hat nicht mehr zu lauten „Was wissen Sie?", sondern „Was meinen Sie?" Die methodisch ohne Zweifel richtige Forderung nach Weckung der persönlichen Stellungnahme wird zum Selbstzweck erhoben: statt Wissensbildung ist Meinungsbildung das Ziel.

In dieser Feststellung ist die ganze

Tragik der allgemeinbildenden Mittelschule eingeschlossen: auf dem Fundament des kritischen Realismus errichtet, mit dem Ziel der Erkenntnis des Absoluten und Allgemeinen — daher ihr Name — wurde sie von den Baumeistern eines das Absolute leugnenden Relativismus umgebaut und sucht nun unter ihrem Dach alles zu vereinen, was wertfreie Wissenschaft zutage förderte, angefangen vom Historizismus bis zum Psychologismus unserer Tage. Zur. einzigen Norm wurde immer ausschließlicher: „was man braucht". Mit diesem Grundsatz ist kurzsichtiger Nützlichkeitsbetrachtung eine verhängnisvolle Bedeutung eingeräumt worden, deren Früchte wir auf fast allen Gebieten des öffentlichen Lebens erkennen.

Dieser Zustand hätte immerhin dem Lehrer die Möglichkeit, geboten, von sich aus seine Schüler zur objektiven Wahrheitserkenntnis und einem T.atsachen- wissen zu führen, eine Möglichkeit, die auch dank der Privatinitiative zahlreicher Lehrer zum Nutzen der Jugend und des Staates ergriffen wurde, aber die persönliche Verantwortung, die ihm, beziehungsweise dem Lehrkörper einer Anstalt damit auferlegt wurde, ist ungeheuer. Sie besagt nichts anderes, als daß jeder Lehrer sich darüber klarwerden müßte, welcher Grad der Wirklichkeitserkenntnis vom Standpunkt seines Faches aus erreicht werden kann und welche Rolle der von ihm gelehrte Gegenstand im Kulturaufbau der Gegenwart einnimmt — Überlegungen, zu denen ihm aber auf der Universität keinerlei Anleitung gegeben wurde.

Stieß auch die extreme Formulierung, mit der ein führender Pädagoge in hoher Stellung als Gegenstand der jeweiligen Unterrichtsstunde die Diskussion über die von den Schülern vorgeschlagenen und zur Sprache gebrachten Ansichten hinstellte, auf Ablehnung, so kann man sich doch nicht des Eindrucks erwehren, daß es sich hier mehr um einen taktischen als um einen tatsächlichen Rückzug handelt. Vorläufig ist der Weg folgender: für die Meinungsbildung ist interessant, wie sie entstanden ist, wie sie formuliert wird. Der Beantwortung dieser Frage werden die Schülerbeschreibungsbogen gerecht. Das „Was" einer Meinung, einer Aussage ist völlig uninteressant geworden. Es ist daher nur konsequent, wenn an der Pflichtschule an Stelle des Katalogs, der Leistungen festzuhalten hatte, dieser Schülerbeschreibungsbogen trat, der alle subjektiven und individuellen Umstände und Anlagen verzeichnet, aber kein Wort über das Wissen verliert. Ist es nicht auch folgerichtig, daß dieser Bogen in diesem Schuljahr für die erste Klasse der Mittelschulen eingeführt wurde, „versuchsweise", nachdem bereits vor einigen Jahren für diese Klasse die Methode der Pflichtschule als verbindlich erklärt wurde? Es wäre übertriebener Optimismus, zu hoffen, daß der Schülerbeschreibungsbogen auf die erste Klasse beschränkt bleibt; näher liegt die Befürchtung, daß er in kurzer Zeit zumindest auf die ganze Unterstufe der Mittelschule ausgedehnt wird.

Eine weitere Etappe „auf dem Weg zum Subjekt" sind die behördlichen Beurteilungen der Klassifikationsergebnisse und Schularbeiten: als Ideal wird die Durchschnittsnote „befriedigend" angesehen; ist dieser Durchschnitt nicht erreicht, so war die Aufgabe vom Lehrer falsch gestellt, das’ Unterrichtsziel wurde nicht erreicht. Daß diese nur anscheinend der Leistungssteigerung dienende Beurteilung in Wirklichkeit zu einer völligen Preisgabe des objektiven Wissensgutes führt, zeigt eine Durchsicht der Maturathemen: so wurde zu demselben Termin von der einen Anstalt für Griechisch eine Übersetzung aus Aristoteles’ Metaphysik verlangt, von einer anderen jedoch die jedem Kind bekannte Stelle aus dem Neuen Testament „Die Weisen aus dem Morgenland". Darf man sich bei solchen Extremen noch wundern, wenn der Wert des Zeugnisses an- gezweifelt, ja, nachdem man bewußt die Vorbedingungen dazu geschaffen hat, offen die Abschaffung des Zeugnisses überhaupt und der Matura (das letztere in eigens dafür geschaffenen „Arbeitsgemeinschaften zur Schulreform") verlangt wird?

Einen weiteren Schritt zur Einheitsschule stellt die laut propagierte „staatsbürgerliche Erziehung", das Vertrautwerden mit den demokratischen „Spielregeln", dar. Ein häßliches Wort, das den ganzen Unernst der zugrunde liegenden Auffassung erkennen läßt: Relativismus und „Spielregeln" haben kein Interesse am Ernst der Wahrheitsfindung, ihr ganzes Trachten zielt nur darauf, die Meinungsäußerung in einigermaßen urbanen Formen abzuwickeln, jede Wertung jedoch von vornherein auszuschließen.

Stellen wir uns nun die Frage: Wem dienen diese ganzen Bestrebungen?, so gibt’es nur die eine Antwort: sie sind als Etappen auf dem Weg zur Einheitsschule gedacht. Die durch den Kult der Methode unter der Patronanz eines verzärtelnden Psychologismus erreichte Niveausenkung der Untermittelschule, äußerlich schon gekennzeichnet durch die für diese Stufe und die Hauptschule gleichen Lehrbücher, würde, wenn der Gefahr nicht begegnet wird, bald so weit gediehen sein, daß es nur noch eine Anerkennung des de-facto-Zu- 6tandes wäre, wenn man die Mittelschule ganz liquidierte. Durch die Aufnahme von Pflichtschullehrern ohne Prüfung und ebenso von Mittelschullehrern in die Hauptschule wird die personelle Ausgleichung bereits vorbereitet, heute unter sehr anerkennenswerten sozialen Erwägungen, morgen aber als selbstverständlicher Ausgleich auch für die Übernahme aller an die Unterstufe der Mittelschule oder Einheitsschule gefordert. Die überlaut verkündete Warnung vor dem Mittelschulstudium sorgt auch da beizeiten für den hiezu notwendigen Lehrermangel: denn die Kumulierung noch nicht angestellter geprüfter Mittelschullehrer in Wien und Niederösterreich, auf die sich die Warnung stützt, darf nicht übersehen lassen, daß nicht nur in den genannten Gebieten für manche Fächer bereits der Nachwuchs sehr gering ist, sondern auch, daß beispielsweise für die angeblich so über füllten Fächer Deutsch-Englisch seit Monaten vergeblich Lehrer in Salzburg gesucht werden.

Das letzte Ziel aller dieser wie von unsichtbarer Hand gelenkten Bestrebungen ist die „Einheitsschule". Sie wird zwar nicht mehr genannt. Die alten Wege nämlich, die von sozialen und politischen Fahrzeugen befahren wurden, haben nicht zum Ziel geführt, da ihre Fracht keinen Anklang fand; so sucht man neue Wege, nicht nur in den „Neuen Wegen", im Schatten üppig sprießender methodischer und jugendpsychologischer Bäume. Hüten wir uns vor diesem Zaubergarten!

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