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Unsere Mittelschule in ernster Gefahr

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Die Debatte um die zukünftige Gestaltung der österreichischen Schule kristallisiert sich allmählich um bestimmte wichtige Punkte. Da der erste Vorstoß zur endgültigen Liquidierung der österreichischen Mittelschule keinen durchschlagenden Erfolg hatte, glaubten viele, daß deren bisheriger Bestand gesichert sei, und waren beruhigt. Mit Unrecht. Heute muß man ernstlich mit der Gefahr rechnen, daß das Gebäude unseres Schulwesens und damit die Grundlage der wichtigsten außerhalb der Familie wirkenden Erziehungsmacht zerstört werde.

Man kann nicht an einem Ende April herausgegebenen Erlaß vorübergehen, *der für Wien eine grundsätzlich neue Regelung schafft. Er lautet:

„Im Hinblick auf die Finanzlage des Staates, die eine Beschränkung der Ausgaben auch auf dem Gebiete des Schulwesens unabweisbar macht, hat das Bundesministerium für Unterricht verfügt, daß im kommenden Schuljahr an den Mittelschulen die Schüler planmäßig auf die Wiener Mittelschulen verteilt werden müssen. Es soll dadurch vermieden werden, daß in der einen Anstalt gewisse Klassen überfüllt bleiben oder sogar Parallelklassen eröffnet werden müssen, während andere Schulen noch weitere Sdiüler aufnehmen könnten. Die Eltern werden daher aufmerksam gemacht, daß das Bestehen der Aufnahmsprüfung an einer bestimmten Mittelschule • noch nicht automatisch die Aufnahme an diese Anstalt nach sich zieht, sondern daß nötigenfalls die Überweisung an eine andere Mittelschule vorgenommen werden wird. Dabei werden der Wohnort des Schülers und die Wünsche der Eltern bezüglich der Wahl der Sdiultype nach Möglichkeit berücksichtigt werden. In einzelnen Fällen werden jedoch Versetzungen nötigenfalls auch in den oberen Klassen, insbesondere beim Übergang von der Untermitte'.schule an die Obermittelschule notwendig sein. Auch in diesem Falte wird mit gebührender Rücksicht vorgegangen werden.“ Mit diesem Erlaß wird das Grundrecht der Eltern auf freie und alleinige Wahl der Schultype, welches selbst der Nationalsozialismus wenigstens für die Staatsschulen respektierte, nur mehr bedingt in Geltung gelassen. Die Beunruhigung darüber kam in zahlreichen Elternversammlungen und Lehrerbesprechungen zum Ausdruck. Die bei den zuständigen Behörden vorgenommenen Anfragen erhielten zwar eine beruhigen wollende, aber keineswegs befriedigende Antwort. Es ist nicht zu zweifeln, daß die Absicht der obersten Schulbehörde eine Verletzung der Elternrechte vermeiden will. Aber wie wird die Praxis aussehen? Wie immer auch die Auslegung in Wirklichkeit gehandhabt werden wird, das Gefährliche an diesem Erlaß ist, daß er den Eltern höchstens einen Wunsch, aber nicht das Recht auf die Wahl der Schule einräumt.„

Unterdessen hat in Wien die zielbewußte Liquidierung des altsprachlichen Gymnasiums eingesetzt. Als Grund seiner Abschaffung wurde die Tatsache angegeben, daß es einen veralteten Typ darstelle und sich niemand für diese Art der Schulbildung interessiere. Die Wirklichkeit zeigte, daß die bezirksfesten Gymnasien einen hervorragenden Besuch aufzuweisen hatten. So konnte zum Beispiel in einem Wiener Bezirk das altsprachliche Gymnasium für die erste Klasse des Schuljahres 1947/48 nicht weniger als 72 Anmeldungen feststellen, während die nur 2 Minuten entfernte Realschule bloß 11 angemeldete Schüler zählte. Diese Tatsachen könnte man aber ändern, wenn man das Gymnasium aus seinem Haus, wenn möglich sogar aus seinem Bezirk unter irgendeinem Vorwand „ entfernte. Dadurch entzöge man ihm den festen Stock seiner Schüler, und triebe man noch einige geschickte Personalpolitik dazu, dann müßte das Ziel, kein Interesse für diesen Schultyp nachzuweisen, unbedingt zu erreichen sein.

Einige Beispiele mögen diese Taktik veranschaulichen:

Das Gymnasium Wien III wurde 1945 in das Gebäude des Akademischen Gymnasiums Wien I verlegt. Damals war dieses Provisorium berechtigt, weil das Stammge-bäude anderweitig belegt war. Unterdessen wurde es aber einem Erziehungsheim zugewiesen und so wurde aus früherem Provisorium im Jahre 1947 bereits „Tradition“. Das staatliche Piaristengymnasium Wien VI II-war bis 1938 eine hervorragende Anstalt mit 16 Klassen. 1938 wurde es in eine Oberschule verwandelt und 1945 zunächst wieder als Gymnasium eröffnet. Doch bevor diese Anstalt in ihrer neuen Form wieder bei den Eltern recht bekannt wurde, erfolgte ihre Verlegung in das Gebäude des Realgymnasiums in der Albert-gasse. Eine Schule, die in Untermiete ist, wird von den Eltern nie recht ernst genommen und ist zum Aussterben bestimmt, was auch durch die bevorstehende Auflösung bestätigt wird. Das gleiche Schicksal bedroht das Gymnasium Wien XIX, das in das Gebäude der Anstalt Wien XVIII verlegt werden soll. Ähnliches erfuhr bereits das Gymnasium Wien VI. Eine der am stärksten besuchten Anstalten ist das Gymnasium Wien IX (ursprünglich Maximilian-, dann wasa-gymnasium). Die Sdiule hat eine alte Tradition und war auch die letzten Jahre bemüht, durch ihre Leistungen ihren Ruf zu reditfertigen. Bis 1938 war sie in einem eigenen Stiftungshaus. 1938 wurde dieser Bau von der Gauleitung Niederdonau der NSDAP in Anspruch genommen, die Schule in dem inzwisdien aufgelösten Schottengymnasium untergebracht. 1945 wurde dieser Raub nicht annulierr und das Gebäude in der Wasagasse seinem der Stiftung entsprechenden Zweck nidit zurückbegeben, sondern im Gegenteil:' durch einen Vertragsabschluß an das Zentralkomitee der KPÖ vermietet. Es ergibt sich nun die Groteske, daß das größte Gymnasium Wiens nicht einmal sein eigenes Gebäude hat.

Die Maßnahmen, das Gymnasium in Wien langsam abzudrosseln, werden noch durch den ständigen Hinweis unterstützt, daß die Unterstufe des Realgymnasiums ganz gleich aufgebaut sei und in der 5. Klasse auf Wunsch jederzeit der Übergang auf ein humanistisches Gymnasium gestattet würde. In Wirklichkeit weiß aber jeder Interessierte, dies durch entsprechende Hinweise auf die Schwierigkeit des Griechischen und dergleichen geschickt zu verhindern. Außerdem lehrt die Erfahrung, daß kaum ein Schüler ohne zwingenden Grund die Sdiultype wechselt, die er einmal begonnen hat.

Bei all diesen Regelungen wird weder der Wunsch der Eltern noch die Forderung der Gegenwart nach einer Vertiefung der Mensdiheitsbildung berücksiditigt. Umsonst sind die Vorstellungen und Warnungen führender Wissenschaftler und Männer des kulturellen Lebens, die in der „Österreichischen humanistischen Gesellschaft“ oder im „Verein der Freunde des humanistischen Gymnasiums“ sich zum Schutz dieser edlen Bildungsstätte der Jugend zusammengeschlossen haben. Ungehört bleiben die ernsten Eingaben der Arbeitsgemeinschaft der Altphilologen Österreichs und des Verbandes der christlichen Mittelschullehrer. Mit tiefster Besorgnis müssen sich alle, die sich ihrer Aufgabe, an der Erziehung der Jugend aktiv mitzuarbeiten, bewußt sind, fragen: Cui bono?

Weitergeführt wird die Unterhöhlung des Baues unserer Mittelschule und des Gymnasiums im besonderen durch den provisorischen Lehrplan. Seine Abfassung erfolgte auf der Grundlage von Gedanken, die in eine bestimmte Richtung tendieren. Bei der Formulierung der einzelnen Lehrziele wurde jede Fühlungnahme mit den zuständigen Arbeitsgemeinschaften vermieden. Gegen dieses Vorgehen hat der Ver? band der christlichen Mittelschullehrer Österreichs am 29. Mai 1947 in schärfster Weise Protest eingelegt. Die Arbeitsgemeinschaft der Altphilologen hat im Juni 1947 die Forderung erhoben, daß bei der Abfassung des zukünftigen Lehrplanes in erster Linie Männer aus dem aktiven Schuldienst befragt werden und ihre Richtlinien für die endgültige Formulierung der Bestimmungen allein maßgebend sein müssen.

Der provisorische Lehrplan hat unterdessen die Aufspaltung der österreichischen Mittelschule in eine Unzahl von Typen nur noch gefördert. Außerhalb Wiens und Niederösterreichs fand er keine Anerkennung, und so hat nicht nur jedes Land, sondern, man könnte sagen, jede Anstalt ihre eigenen Lehrpläne, die sich zum Teil oft wesentlich von gleichartigen Anstalten des Nachbargebietes unterscheiden. Für einen durchschnittlich begabten Schüler bedeutet daher ein Ortswechsel bei dieser starken Unterschiedlichkeit der jeweiligen Voraussetzungen — es gibt ja doch allein fünf verschiedene Arten des humanistischen Gymnasiums — entweder den Verlust eines Jahres oder übermäßige Belastung durch Nachlernen, da immer der eine oder andere Gegenstand nachzuholen ist.

Die Inspiratoren dieses Lehrplanes und der ihm vorausgehenden Verordnungen schufen damit eine solche Verwirrung, daß Eltern und Lehrer, mürbe gemacht, jede Lösung, welche eine Vereinfachung verspricht, annehmen. Und die größte Vereinfachung verspricht die Einheitsschule

Die Einheitsschule bedeutet aber, wie schon oft betont wurde, nicht nur eine gewaltsame Nivellierung der natürlichen Talente. Sie hat notwendigerweise, wie die Erfahrung zeigt, die politische Parteischule zur Folge. Fällt jedoch das Gymnasium, dann geht auch eine starke Bindung unseres Volkes an der' abendländischen Kultur und die eigene geschichtliche Vergangenheit und Leistung zugrunde. Dann wird aber auch in •unserem Schulwesen jene kraftvolle Quelle verschüttet, aus der alle anderen Schultypen von hum.inistisdiem Geiste durchdrungen wurden.

Den Höhepunkt aller bisherigen Maßnahmen gegen die österreichische Mittel-sdiule jeder Art stellt der eben bekanntgewordene Plan für das kommende Schuljahr dar. Die zulässige Schülerzahl einer Klasse soll auf 50 erhöht, die Stundenanzahl der Lehrerverpflichtung soll um 2 bis 4 Stunden erhöht und Nebenarbeiten in die Lehrverptlichtung nicht eingerechnet we.rden. Die Konsequenz aus diesem Akt wäre unabsehbar, weil sie die S c h 1 i e-ß u n g v o n 99 Klassen — davon 53 in Wien — und von vier Anstalten mit sich bringen würde. Die gegenwärtige läse scheint dies vielleicht zu rechtfertigen, da alle Schultypen auf Grund der geburtenarmen Jahrgänge bis 1938 unter mrem früheren Schülerstand besucht sind. Doch in wenigen Jahren ist die Situation eine andere: es gibt bereits Volksschulen mit sieben Parallelklassen! Werden jetzt Anstalten aufgelassen, so wird ihre Wiedereröffnung nur unter den schwersten Opfern und zähen Kämpren durchgesetzt werden. Eine weitere Folge ist eine auf Jahre hinausgehende Stellenlosigkeit der jüngeren Lehrer. Die meisten von ihnen waren vom Abschluß ihrer Studien jahrelang durch den Militärdienst abgehalten. Sie haben nach ihrer Rückkehr von der Front oder Gefangenschaft mit Eifer ihre Prüfungen abgelegt, und nun? Sieben Jahre Militär und den Rest des Lebens arbeitslos! Andere sind erst während des Krieges fertig geworden. Dir Aufnahme in den österreichischen Staatsdienst ist bis heute im Lehrberuf noch nicht durchgeführt. Sie wissen nicht, ob sie morgen noch in Dienst genommen werden. Dabei ist1 zu bedenken, daß eine solide Ausbildung der Schüler und eingehende Behandlung ihrer Individualität bei einem Schülerstand von 50 unmöglich ist. Schon bei normaler Ernährung würde eine solche Inanspruchnahme schwere Folgen für Lehrer und Schüler nach sich ziehen; bei der jetzigen Situation bedeutet diese Forderung geradzu Raubbau an der Substanz des Menschen. So sind diese Pläne gleicherweise gegen die Existenz von Lehrer, Schüler und Schule gerichtet. Werden sie durchgeführt, so bedeuten sie den Todesstoß der österreichischen Schule. Aus dem Zusammenbruch des Jahres 1918 konnte unter vielen Schwierigkeiten die österreichische Mittelschule dank der Tatkraft bewährter Schulmänner wieder auf sichere Grundlagen gerettet werden. Der Nationalsozialismus vermochte in den sieben Jahren nicht alles zu zerstören. Und nun? Es haben Eltern, Lehrer und Behörden heute einträchtig dafür zu sorgen, daß das kostbare Gut, das der kommenden Generation in der Schule mit ins Leben gegeben werden soll, nicht durch eine falsche Reformerei und eine kurzsichtige Sparpolitik, die in der Verminderung der Bildung ihren Erfolg sudit. vertan wird.

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