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Die kranke Schule

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„Nur aus der Diskussion von Fachleuten können Brücken und Ubergänge zu gemeinsamen fruchtbaren Lösungen gefunden werden“, schreibt der bekannte sozialistische Schulmann, Autor des nachstehenden Beitrages, in seinem Brief an die Redaktion. Das ist auch unsere Meinung, selbst über so radikale und unserem Standpunkt in vielem entgegengesetzte Reformvorschläge, wie sie im folgenden vorgebracht werden. Möge das Für und Wider, das sie auslösen, Früchte tragen.

„Die Furche“ In dem Aufsatz „Der paradoxe 2. Zug“ in der „Furche“ hat Rudolf Göpfrich mit Verständnis und Einfühlungsvermögen den Stand unserer Hauptschule mit ihren umstrittenen Klassenzügen dargelegt.

Die Hauptschule entstand 1927 im Sog der Einheitsschulidee. Da sich diese nicht durchsetzte, kam es zu einer Kompromißlösung, die im Gefolge der politischen Geschehnisse nicht besser geworden ist. Unsere Hauptschule kann letzten Endes niemanden befriedigen, nicht jene, die Übergangsmöglichkeiten anstrebten, nicht die anderen, die in ihr eine eigenständige Anstalt gleich der früheren Bürgerschule sehen wollten. *

Göpfrich hat mit Recht die Intelligenz der Hände gepriesen. Sind es nur die Hände? Es hat sich längst als Irrtum erwiesen, wenn wir nach Begabungshöhen scheiden. Die Technik dominiert, und mit Recht anerkennen wir auch technische Begabungen, solche, die am Reißbrett arbeiten, und solche, die mit intelligenten Händen am Werke bosseln.

Die Zeit der rasenden Entwicklung, der Automation, der Atomkraft hat unsere Sicht gegenüber den geistigen Dingen erweitert. Die technische Welt ist ebenso des Geistes wie das Gebiet der Philosophie, Geschichte und der Naturwissenschaften. Da wie dort ist die Stufenleiter, die^ von den einzelnen erklommen wird, individuell verschieden. Wir werden aber die Schüler bei ihrer Ausbildung nicht in mehr oder weniger „Erfolgreiche“ einteilen (Krassenzüge), sondern sie nach „Bildungsinteressen“ scheiden. Und nicht zu vergessen: „Allgemeinbildung“ und „Begabtenförderung“ gehen Hand in Hand. Die Demokratie muß beides mit Eifer betreiben, denn die Zukunft hat unsere Welt bereits mit ihrem heißen Atem erfaßt.

Die Hauptprobleme unserer sieh aus den neuen Bedürfnissen immer stärker ankündigenden Forderungen sind:

1. Die Verlängerung des Pflichtschulwesens.

2. Die Neuorganisierung des mittleren Schultypus.

3. Die neue Lehrerbildung.

Das neunte Schuljahr hätte eine berufssuchende und -vorbereitende Funktion. Das zehnte Schuljahr aber würde nach meiner seit Jahren ausgesprochenen Meinung dann seine Aufgabe am besten erfüllen, wenn es zur Verlängerung auch noch eine reifende und reifeprüfende Aufgabe übernähme: durch ein unserer vierklassigen Volksschule vorgesetztes B r ü k-k e n j a h r aus „freier Wildbahn“ zum geregelten Sitzunterricht.

Wie bisher würden sich unsere Sechsjährigen erstmalig in die Schule begeben. Hier erwartet sie zunächst eine einjährige kindergartenähnliche Vorschule. Lehrer, Psychologe und Schularzt würden in den ersten Wochen in Ruhe die Kinder auf ihre Schulreife prüfen. Die wenigen Schulreifen — nach ärztlicher Meinung 10 bis 15 Prozent — träten nach den ersten Wochen der unauffällig, aber gründlich durchgeführten Tests sogleich in die erste Volksschulklasse.

Mit einem Schlag empfingen alle Kinder ein gemeinsames Vortraining in einer alters- und wachstumsgemäßen Weise. Nicht zu sitzen, sondern sich zu bewegen gälte es, und es könnten hier alle Vorübungen des Zählens, Sprechens, Singens, Formens, Malens stattfinden. Vielleicht wäre dieses bewegungspädagogische Jahr die größte Chance für die „Ganzheitsmethode“ des Leseunterrichts. Denn gerade sie vermag mit spielerischem optischem Erhaschen die Lesetechnik anzubahnen.

Ohne Zweifel wäre damit allen Kindern die Wohltat eines gemeinsamen Starts gegeben. Wir wissen, daß der Lehrplan der vierklassigen Volksschule seine Bewährung gefunden hat. Es geht im Wesen nicht um ein neues Volksschuljahr, sondern um höhere Reife.

Wie vollzöge sich nun die Differenzierung? Was träte an die Stelle der Klassenzüge?

Überall, wo heute Hauptschulen stehen, würden unsere Kinder die Allgemeine Mittelschule besuchen, alle Kinder in Stadt und Land. Sie müßte in eine dreijährige Unter-und eine zweijährige Oberstufe geteilt werden. In der ersten Klasse bekämen sie alle den obligaten Englischunterricht, zur Erprobung. In der zweiten Klasse würden die Sprachbegabten und die anderen voneinander geschieden, etwa in I-Klassen mit vertieftem Englisch und A-Klas-sen mit dem Allgemeinenglisch. In der dritten Klasse würden die Sprachstudenten Englisch als Wahlfach bekommen, die Schüler ohne Fremdsprache stärker mit der Muttersprache beschäftigt werden.

Die Oberstufe hätte zahlreiche Parallelklassen. Als „Zentralschule“ vereinigte sie die Abgänger mehrerer Unterstufen-Mittelschulen. Welchen Sinn hätte diese Organisation?

Zunächst: Da alle Oberschulkandidaten, die das Zeug zum theoretischen Studium haben, aus der vierten Klasse der Allgemeinen Mittelschule in die erste Klasse der nun fünfjährigen Oberschule überträten, stünden die vierten und fünften Klassen in ihrer Zahl etwa wie 2:1, also zum Beispiel zehn vierte und fünf fünfte Klassen. Mit der Zäsur: drei Unterstufen- und zwei Oberstufenjahrgänge würden wir in der „Zentralschule“ (Oberstufe der Allgemeinen Mittelschule) die reichsten Differenzierungsmöglichkeiten gewinnen. Die Schüler besuchten im Kernunterricht die ihnen gemeinsamen Fächer, etwa 20 Stunden. Die übrigen Stunden würden sie als Wahlfächer nehmen, wie es ihrem Interesse und ihrer Begabung entspricht.

Der geistig-seelische Organismus wird durch die heutigen vielfach auf reine Merkfähigkeit aufgebaute Gedächtnisleistungen nur einseitig beansprucht. Hier würde zum erstenmal der Versuch gemacht, alle Kinder auf allen ihren sehr voneinander unterschiedlichen Leistungsgebieten zu erfassen.

Es gibt kein Kind, das nicht Irgendwo etwas Positives vollbringen könnte. Dieses Leistungsvermögen aufzustöbern und es zum Motor seiner Ausbildung zu machen, wäre die dankenswerte Aufgabe einer reich differenzierten Mittelschule.

Würde nicht mit Recht eine bisher einseitige, nur literarische Ansprache der Schüler wohltuend manuell-technisch ergänzt? Liegt es nicht auf der Hand, die Begabungen aller Grade auf geistigem und manuellem Arbeits- und Erprobungsfeld zu entdecken? Wäre es nicht hoch an der Zeit, zu der bisher genützten einseitig geistigen Übung nun auch die solide Handarbeit zum Ausgangspunkt der intellektuellen und charakterlichen Entwicklung unserer Kinder zu machen? Schon vor einem halben Jahrhundert hat K e r-schensteiner theoretisch und praktisch den Weg gewiesen. Die handwerklich betonte Mittelschule im Felbertal (Salzburg) bezeugt diese Auffassung zur Genüge.

Dabei glauben wir auf zweierlei hinweisen zu müssen: auf die harmonische Entwicklung aller Menschen, wenn sie auch mit Handarbeit beschäftigt werden, und umgekehrt: daß auch bei den rein praktisch handwerklich Befähigten auf späterer Stufe da und dort eine geistigliterarische Entwicklung zu beobachten wäre. So kämen in Zukunft sowohl die geistig wie manuell ansprechenden Schüler in die Zone der intellektuellen Entwicklung, Bewährung und Auslese.

Nach Abgang der Theoriebeflissenen in die Oberschule verbliebe die fünfte Klasse (zweite Klasse der Oberstufe) als neuntes berufsvorbe-' reitendes und -findendes Schuljahr den Praktikern der handfesten Arbeit der Spezialisten, der kanzleitechnischen Bahn, des Handels, des Kunstgewerbes, der Kunst. — Die Allgemeine Mittelschule hätte den Charakter einer Drehscheibe: Jedes Kind wendete sich allmählich in jene Studien- und Berufsbahn, die ihm anlage-und interessemäßig entspricht.

Die Mittelschulen müßten von dem heutigen Standpunkt, daß alle alles lernen, abkommen. Mit etwa drei Schwerpunkten: der sprachlich-literarischen, der mathematischtechnischen und der naturwissenschaftlichen Richtung wären drei rein geistige Begabungsrichtungen gekennzeichnet. Alle jene, die weiterstudieren wollten, müßten zwei Fächer davon wählen. Wir wollen, daß sie alle auf ihre Rechnung kommen, und glauben, mit der Entscheidung für zwei Wahlfächer unter drei für Lehrer und Schüler eine fühlbare Entlastung, in der Gesamtleistung der Schüler aber eine sichere Leistungssteigerung herbeizuführen.

Für die Oberschulen (gymnasial, real, realgymnasial) wüßten wir eine neue zeitgemäße Form vorzuschlagen, etwa ein Humangymnasium. Dieser Typ käme vornehmlich für alle jene Studenten in Frage, die es in ihrem künftigen Beruf mit Menschen zu tun hätten: Lehrer, Ärzte, Richter, Anwälte, Beamte der Hauptmannschaften, Gemeinden, Spitäler, Versiche-rungs- und Sozialanstalten. Die künftigen Lehrer würden nach dem Humangymnasium eine pädagogische Hochschule oder Akademie beziehen, gefördert durch echtes Ausleseverfahren in allen Mittel- und Oberschulen.

Die Schulreform der zwanziger Jahre brachte uns die Dreißigkinderklassen, ein gewaltiger Fortschritt gegenüber den früheren Massenklassen mit bis mehr als hundert Kindern. Heute ist Erziehung Trumpf. Doch kann man sie nicht schabionisieren, nicht auf Touren bringen. Erziehung ist ein medialer Akt, eine geistigseelische Schöpfung innerhalb einer intimen Gruppe von Mensch zu Mensch. Zwölf bis achtzehn Kinder, Gruppen mit Großfamiliencharak-ter sind das Milieu fruchtbarer Erziehungsarbeit, die vor allem Zeit braucht.

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