Wie eine Bildungsreform aussehen muss: Wünsche von Experten und Betroffenen

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2017 kommt die Bildungsreform in ihre heiße Phase. Doch was erhoffen sich Betroffene und Experten tatsächlich? Neun Neujahrs-Statements.

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2017 kommt die Bildungsreform in ihre heiße Phase. Doch was erhoffen sich Betroffene und Experten tatsächlich? Neun Neujahrs-Statements.

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Es war kein übertrieben harmonischer Jahresausklang für Bildungsministerin Sonja Hammerschmid (SPÖ): Am 6. Dezember musste sie die Öffentlichkeit darüber informieren, dass laut jüngstem PISA-Durchlauf ein Drittel der hiesigen 15-Jährigen in Lesen, Mathematik oder Naturwissenschaften nicht einmal die Basics beherrschen. Und einen Tag später folgte die Meldung, dass sich die Einigung auf eine neue Schulverwaltung ("Bildungsdirektionen") bis ins erste Quartal 2017 verzögert. Spätestens dann soll auch das Gesetz für die Schulautonomie stehen, gegen das die Schulpartner bislang protestieren, weil sie um ihr Recht auf Mitbestimmung fürchten.

Doch ein Erfolgserlebnis war der Ministerin gegönnt: Laut Bildungsinvestitionsgesetz sollen 750 Millionen Euro bis 2025 für den Ausbau von Ganztagsschulen und Nachmittagsbetreuung zur Verfügung stehen. Die wirklich heißen Eisen kommen aber, wie gesagt, erst 2017. Und auch sonst tut sich Einiges: Bei den demnächst startenden Schuleinschreibungen findet erstmals ein bundesweiter förderbezogener Datenaustausch zwischen Kindergärten und Volksschulen statt; Anfang Mai wird die Zentralmatura auch bei der Berufsreifeprüfung durchgeführt; ab 1. Juli können Eltern wegen der "Ausbildungspflicht bis 18 Jahren" als ultima ratio gestraft werden, wenn ihre Kinder keine Schule oder Berufsausbildung mehr durchlaufen; und im Herbst startet in den Kindergärten die Pilotphase des "Bildungskompass", in den ersten Volksschulklassen "Unterrichtsbegleitende Sprachstandsbeobachtung" und an manchen AHS die Neue Oberstufe (NOST). Schließlich führt nach dem Burgenland auch Oberösterreich eine tägliche Bewegungseinheit ein. Bewegt sich also genug in den Schulen? Oder gar zu viel? DIE FURCHE hat neun Fachleute zu ihren Wünschen befragt.

Harald Zierfuss, Bundesschulsprecher und Wiener Landesschulsprecher

"Feedback und Talente fördern"

Das Jahr 2016 hat die Hoffnung auf Reformen geweckt - mit dem Autonomiepaket wurde diese auch teilweise erfüllt. Dennoch hat PISA einmal mehr auf Baustellen hingewiesen, die es nicht geben dürfte. Gerade Talentierte werden etwa nicht in ihren Stärken gefördert -hier hinkt Österreich anderen Ländern massiv hinterher. Dabei sind es doch gerade unsere Stärken, aus denen wir Schüler nach der Schullaufbahn mehr machen wollen. Es braucht also im besonderen Maß ein Fördern und Fordern von Stärken und Talenten.

Damit aus Rohdiamanten ein kostbares Juwel werden kann, brauchen wir vor allem ein Umdenken in Sachen Feedback. Ein Befriedigend auf die Deutschschularbeit mag einem zwar sagen, wo man steht -was es aber verschweigt, ist noch viel wichtiger: Woran kann ich noch arbeiten? Wie kann ich es besser machen? Nur mit diesen zusätzlichen Rückmeldungen kann man sich auch wirklich verbessern, und das brauchen wir in allen Bereichen.

Umgekehrt kann auch der Lehrer mit einem gut durchgeführten Feedback seinen Unterricht verbessern und ihn an die Bedürfnisse der Klassen anpassen, um letztlich mit einem spannenden Unterricht die Schüler vom Stoff zu begeistern. Für 2017 wünsche ich mir also mehr Feedback, mehr Gehör für uns Schüler und mehr geförderte Talente.

Erika Tiefenbacher, Direktorin der NMS Schopenhauerstrasse (Wien 18)

"Vertrauen und Autonomie"

Es bläst uns oft ein rauer Bildungswind um die Ohren: die gesetzlichen Regelungen, die schlechten Testergebnisse, der Unmut in den eigenen Reihen und die guten Ratschläge der Experten (quasi alle Österreicherinnen und Österreicher mit Schulabschluss). Aber wir sind gut angezogen für das Jahr 2017. Ich wünsche mir vor allem Vertrauen in unser Tun. Vertraut darauf, dass wir unseren Beruf als Berufung sehen und nicht als Lehrverpflichtung, denn die meisten erfüllen weit mehr als ihre Pflicht! Als Direktorin wünsche ich mir auch, dass ich im kommenden Jahr wieder mehr leiten darf und weniger verwalten muss - und eine Schulautonomie, die das Unwort "Rahmenbedingungen" ersetzt. Denn ein Rahmen beengt und Autonomie befreit. Befreien wir uns auch von der Zweigleisigkeit "Gymnasien/Neuen Mittelschule" und arbeiten wir zusammen, egal wie wir uns nennen. Ich wünsche uns weiterhin Erfolge, erkennbar in neugierigen, fröhlichen und selbstbewussten Schülerinnen und Schülern. Und ich hoffe auf ein Miteinander, am eigenen Standort und in der Bildungslandschaft. Unsere Initiative "Schule im Aufbruch" legt dabei Fährten, die verfolgt werden können.

Paul Kimberger, Bundesvorsitzender der Pflichtschullehrergewerkschaft

"Mehr Zeit statt Reform-Wirrwarr"

Zukunftsfähigkeit heißt für mich nicht, dass man das Rad der Pädagogik ständig neu erfinden muss. Wir sollten uns zurückhalten mit der Lust, ständig an unseren Kindern herumzuexperimentieren. Wir sollten uns nicht länger selbst verleugnen und Legendenbildungen um sogenannte "PISA-Sieger" beenden. Angesichts des derzeit geradezu absurd anmutenden Reform-Wirrwarrs, der faktenverleugnenden ministeriellen Bürokratie, des krakenhaft wuchernden Verwaltungsirrsinns und der Flut an dilettantischem "Experten"-Geschwätz stellt sich die Frage, was an unseren Schulen wirklich für guten Unterricht benötigt wird. Mein großer Wunsch für 2017: Wir brauchen Zeit. Zeit für die Klasse, Zeit für den Stoff und Zeit für den einzelnen Schüler. Wir müssen Schule wieder so machen, dass die Menschenbildung und das Erkennen von Zusammenhängen in einer komplexen, globalen Welt das Wesentliche sind. Verlassen sollten wir uns dabei aber vor allem auf das pädagogische Können und die Expertise unserer Lehrerinnen und Lehrer direkt vor Ort und nicht auf esoterische Bildungsgurus oder reformeifrige Bildungspolitiker, weit weg jeglicher Realität. Unser Schulsystem nämlich ständig so zu reformieren, dass unsere Kinder "kompetenzorientiert" den Anforderungen der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes entsprechen, ist eigenartig und fragwürdig.

Gernot Schreyer, Bundeselternsprecher (mittlere und höhere Schulen)

"Mitbestimmung an Schulen retten"

Die Absicht des Bildungsministeriums die Mitbestimmungsrechte der Eltern, Schüler und Lehrer zu Grabe zu tragen, zwingt Elternvertreter im Jahr 2017, sich vorerst auf die Rettung der Schuldemokratie zu konzentrieren. Wenn nämlich die Rechte der Schulpartner im Zuge des so genannten "Autonomiepaketes" ersatzlos gestrichen werden, wird es in naher Zukunft keine ehrenamtliche Elternvertretung mehr geben. Unser vordringlichster Wunsch ist daher der bedingungslose Erhalt und Ausbau der Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte der Schulpartner an jedem einzelnen Schulstandort, sowie in den entsprechenden Gremien auf Landes- und Bundesebene. Nur wenn das sichergestellt ist, können wir im Sinne der Verantwortung für unsere Kinder und zu deren Wohle arbeiten. Durch das Zusammenwirken der Schulpartner werden im Interesse der Schülerinnen und Schüler die Voraussetzungen für hohe Unterrichtsqualität gesichert. Die derzeit vorliegenden Gesetzesentwürfe stehen in krassem Gegensatz zu medialen Beschwichtigungsversuchen, lassen wir uns nicht in die Irre führen!

Stefan Hopmann, Bildungswissenschafter (Universität Wien)

"Den Gemeinsinn kultivieren"

Bildungspolitik sieht sich in eine Quadratur des Kreises gestellt. Sie soll gleichzeitig soziale Chancengerechtigkeit und höhere Leistungen, individuellen Erfolg und gesellschaftlichen Nutzen verbürgen. Sie versucht dies durch als Reformen getarnte Eingriffe in das Schulleben zu erzwingen. Der erste wichtige Schritt wäre aber die Einsicht, dass diese im besten Fall unschädlich, wahrscheinlicher kontraproduktiv sind. Der zweite Schritt wäre, sich darauf zu besinnen, was die wichtigste Aufgabe der Schule in Zeiten wie diesen ist. Hier lernt man mit anderen, die man nicht ausgesucht hat, etwas zu leisten, das man nicht allein bestimmt hat. Man lernt Unterschiede anzuerkennen, Widersprüche auszuhalten, Kompromisse einzugehen, miteinander zu streiten und einander zu helfen. Schule ist der wichtigste Ort für die Kultivierung bürgerlichen Gemeinsinns, ohne den Demokratie nicht leben kann. Dafür ist Schulkultur, sind Spiel und Sport und vor allem die Musik wichtiger als das stetige Drehen an Leistungsschrauben. Der Schulforschung nach ist dies zugleich ein Weg, der uns den anderen vier Zielen näherbringt. Nur ist zu befürchten, dass den Verantwortlichen der bürgerliche Gemeinsinn für eine solche Kehrtwende fehlt.

Daniela Strigl, Literaturwissenschafterin und -kritikerin

"Das Potential der Poesie entdecken"

Weil die Einführung der Zentralmatura das Ende eines Literaturunterrichts besiegelt hat, der diesen Namen verdient, wünsche ich mir eine Reform der Reform. Vor allem, dass man sich endlich auf einen Kanon wesentlicher Werke deutscher Sprache oder auch nur eine Leseliste für die schriftliche Matura einigt. Ich wünsche mir den Abschied vom Paradigma des Trainings und von der Sprache der Personalentwickler und eine Neubewertung literarischer Bildungsstandards. Dichtung soll an der Schule nicht als bloße Stichwortlieferantin für aktuelle politisch-ideologische Erörterungen missbraucht werden. Lektüre vermag das kritische Bewusstsein junger Menschen zu schärfen. Vielleicht gilt das Ideal humanistischer Allgemeinbildung ja auch deshalb als überholt, weil "kompetenzorientierte" Absolventen im Erwerbsleben besser funktionieren als solche, die zum Eigensinn erzogen wurden. Jenseits des Nützlichkeitsprinzips, der Jargons und Slogans ginge es darum, einen Sinn für Schönheit zu entwickeln, das existentielle Potential der Poesie wiederzuentdecken und auch künftig utopisches Denken zu wagen.

Heidemarie Lex-Nalis, Sprecherin der Plattform "Educare"

"Kindergarten aufwerten"

Alle Kinder haben das Recht auf Bildung von Anfang an. Zu viele Kinder kommen im derzeitigen Bildungssystem zu kurz, und das bereits im Kindergarten. Maßnahmen wie die verpflichtende Sprachstandsfeststellung und Sprachförderung sowie das verpflichtende Kindergartenjahr versuchen gegenzusteuern. Das sind gute Ansätze, die jedoch ausbaufähig sind. Die Zeit im Kindergarten reicht nicht aus, um die Benachteiligung für jene Kinder auszugleichen, deren Familien nicht in der Lage sind, eine anregende Lernumgebung zur Verfügung zu stellen. Diese Kinder brauchen Unterstützung beim Übertritt in die Schule. Erste Schritte in diese Richtung sind mit den neuen Regeln zur gemeinsamen Schuleingangsphase in die Wege geleitet. Nachhaltig und flächendeckend kann dies jedoch nur gelingen, wenn fortlaufende Bildungsrahmenpläne für Kindergarten und Schule, die auf einem gemeinsam erarbeiteten Bildungsverständnis beruhen, Grundlage der Bildungsarbeit sind. Dazu braucht es die Zusammenführung der pädagogischen Aufsicht und die längst versprochene gleichwertige und teilweise gemeinsame Ausbildung von Elementar- und Primarschulpädagoginnen und -pädagogen.

Mario Steiner, Soziologe und Bildungsforscher (Institut für Höhere Studien)

"Schulabbruch bekämpfen"

Die Bildungsarmut unter Jugendlichen in Österreich wird massiv unterschätzt: Frühe Abbruchquoten bis zu 25 Prozent in manchen Bezirken und bis zu 50 Prozent unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund in manchen Regionen kommen einer sozialen Ausgrenzung gleich, gefährden den sozialen Zusammenhalt und sind eine Hypothek für die Zukunft. Die Zeiten, sich vom trügerischen Schein niedriger "Early School Leaving Quoten" blenden zu lassen, sollten vorbei sein; man müsste das Problem vielmehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. So wichtig Programme wie die "Ausbildung bis 18" sind, werden sie dennoch nicht hinreichend sein. Ich wünsche mir auf der Grundlage zahlreicher durch die Bildungsforschung erbrachter Evidenzen eine Ergänzung dieser Maßnahmen durch ernstgemeinte Systemreformen, die sich der (sozialen) Selektivität im österreichischen Bildungssystem annehmen und die Ressourcen-anstelle der Defizitorientierung in den Vordergrund stellen.

Christiane Spiel, Bildungspsychologin (Universität Wien)

"Mehr lesen, weg von Stereotypen"

Nach 16 Jahren PISA können in Österreich 23 Prozent der Jugendlichen nicht ausreichend sinnverstehend lesen und in den Naturwissenschaften und in Mathematik gibt es die weltweit größten Geschlechtsunterschiede. Ich wünsche mir für 2017, dass Schulen so gestärkt werden, dass Leseprobleme diagnostiziert und Lesekompetenzen der Kinder adäquat gefördert werden können. Alle Jugendlichen sollen nach Abschluss der Pflichtschulzeit nicht nur lesen können, sondern auch verstehen, was sie gelesen haben. Des Weiteren wünsche ich mir einen geschlechtssensiblen Unterricht, der es Buben und Mädchen jenseits von Geschlechtsstereotypen ermöglicht, ihren individuellen Interessen und Begabungen nachzugehen. Auch hier benötigen die Schulen Unterstützung. Schließlich wünsche ich mir, dass die Didaktik in den Naturwissenschaften so weiterentwickelt wird, dass deutlich mehr österreichische Jugendliche die Frage "Im Allgemeinen macht es mir Spaß, naturwissenschaftliche Themen zu lernen" positiv beantworten.

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