WIE NORMIERT muss Schule sein?

19451960198020002020

Ich sehe bei der Zentralmatura die Gefahr einer Nivellierung nach unten nicht: Mindeststandards hindern ja niemanden, sie zu übertreffen. (H. Walser)

19451960198020002020

Ich sehe bei der Zentralmatura die Gefahr einer Nivellierung nach unten nicht: Mindeststandards hindern ja niemanden, sie zu übertreffen. (H. Walser)

Werbung
Werbung
Werbung

Es war ein letzter Aufreger, mit dem sich Laura Rudas vorvergangene Woche von der Politik verabschiedete. Man könne "durchaus über die Matura an sich diskutieren," räsonnierte die SPÖ-Bildungssprecherin gegenüber der APA. Kurz darauf wurde AHS-Lehrergewerkschafter Eckehard Quin (FCG) im Ö1-Morgenjournal mit den Worten zitiert, dass die Matura angesichts zunehmender Aufnahmeverfahren an Unis und Fachhochschulen "eigentlich keine Berechtigung mehr" habe. Das Datenleck beim Bundesinstitut BIFIE, welches u. a. die neue Zentralmatura abwickelt, heizte die Debatte zusätzlich an (siehe unten). Auf Einladung der FURCHE hat sich Quin mit dem Grünen Bildungssprecher und karenzierten Feldkircher Gymnasialdirektor Harald Walser getroffen -und im "Palmenhaus" im Wiener Burggarten über Standardisierungs-Druck, Noten-Willkür und soziale Selektion in Österreichs Schulen diskutiert.

Die Furche: Herr Quin, Sie sind seit Jahren ein heftiger Kritiker der Zentralmatura. Verspüren Sie angesichts des Datenleck-Skandals eine gewisse Genugtuung?

eckehard Quin: Nein, gar nicht. Das Problem der mangelnden Datensicherheit würde ja auch jenes Modell einer "teilzentralen Matura" betreffen, das ich seit vielen Jahren fordere. Das größte Problem besteht darin, dass das Vertrauen in die Datensicherheit generell geschädigt wurde: etwa auch beim Schulverwaltungsprojekt "Sokrates", wo die Sozialversicherungsdaten, Noten und Religionsbekenntnisse aller Schüler zentral gespeichert werden.

harald Walser: Wir Grüne haben längst ein Modell entwickelt, bei dem die Daten sowohl unabhängig vom Ministerium als auch vom BIFIE verwaltet werden. Das würde zudem gewährleisten, dass sie - anonymisiert - auch anderen Forschungseinrichtungen zur Verfügung stehen. Dass etwa die PISA-Daten nur schwer außerhalb des BIFIE ausgewertet werden können, ist unwissenschaftlich. Es ist auch problematisch, dass das BIFIE bei der Abwicklung der Zentralmatura eigentlich hoheitliche Aufgaben des Staates übernimmt. Das gehört ins Ministerium!

Quin: Dass die Rohdaten der Standardtestungen für jeden zugänglich sein sollen, fordern wir schon lange. Das wurde ja nicht aus der Privatschatulle der Frau Bildungsministerin finanziert!

Die Furche: Abgesehen davon, wer die Zentralmatura abwickelt: Stimmt es, Herr Quin, dass Sie die Matura für obsolet halten?

Quin: Nein, meine Kritik war einfach eine systemische: Wenn ich bei Gegenständen wie Deutsch und Mathematik, in denen jeder maturieren muss, für alle zentral dieselben Beispiele festlege, dann muss ich aus ethisch-moralischen Gründen das Niveau so tief ansetzen, dass auch schwache Schülerinnen und Schüler eine realistische Chance haben, diese Hürde zu überspringen. Und wenn durch diese Vollzentralität der Leistungslevel sinkt, wird die Matura à la longue den Wert einer allgemeinen Studienberechtigung verlieren -und tertiäre Bildungseinrichtungen werden immer öfter eigene Aufnahmeverfahren definieren. Dann kann man sich den Aufwand gleich sparen - so weit meine Argumentation. Wir fordern, dass man die Grundkompetenzen durch einen zentral vorgegebenen Teil der Matura absichert, aber den Lehrerinnen und Lehrern weiterhin die Möglichkeit gibt, je nach Schulform, Leistungsstärke und Interesse der Klasse zusätzlich komplexere Aufgaben zu formulieren. Das fordern übrigens auch Schüler und Eltern seit vielen Jahren

Walser: Ich sehe die Gefahr einer Nivellierung nach unten überhaupt nicht. Wenn man Mindeststandards formuliert, hindert das ja niemanden daran, sie zu übertreffen.

Wir haben ja auch weiterhin die Notenskala von eins bis fünf. Derzeit gehen wir aber von der Fiktion aus, dass Maturanoten -wie alle Noten -den Leistungsstand von Schülerinnen und Schülern wiedergeben. Doch sämtliche Untersuchungen von der Volksschule bis zum Gymnasium zeigen, dass dem nicht so ist. Ich unterstelle Ihnen deshalb, dass Ihre Argumente schlussendlich darauf abzielen, gleichsam als verlängerter Arm der ÖVP die Zentralmatura zum Kippen zu bringen.

Quin: Gegen eine Unterstellung kann man schwer argumentieren. Sie stimmt jedenfalls nicht: Ich trete schon seit Jahren für die teilzentrale Matura ein. Ich würde mich auch freuen, wenn die ÖVP mein Anliegen unterstützt, aber sie hat gemeinsam mit der SPÖ die Zentralmatura beschlossen.

Walser: Das war ein Kompromiss mit Hängen und Würgen. Es geht einfach darum, dass wir Standards brauchen, wenn wir objektiv nachvollziehbare Leistungen wollen. Universitäten und Hochschulen haben ein Recht darauf, von ihren künftigen Studentinnen und Studenten bestimmte Mindeststandards zu erwarten. Derzeit ist diese Verlässlichkeit des Schulsystems nicht gegeben: Wenn schon die 14-Jährigen -bei gleichen Noten -Leistungsunterschiede von bis zu drei Unterrichtsjahren aufweisen, dann brauchen wir mehr externe Evaluierung.

Quin: Auch ich fordere das! Die Frage ist nur, wie man sie einsetzt. Noten sind einerseits natürlich variabel. Andererseits haben relativ junge Studien aus den USA gezeigt, dass die Highschool-Noten hinsichtlich des Studienerfolgs aussagekräftiger sind als Aufnahmsprüfungen an den Colleges -weil sie eben auch Aspekte wie Mitarbeit oder Leistungsbereitschaft beinhalten. Mir kommt die Kritik an der Unvergleichbarkeit der Noten insgesamt etwas verlogen vor. Als Pädagoge nimmt man ja immer die Norm der Klasse als Maßstab: Wenn Sie in einer Volksschulklasse, in der kein einziges Kind als Umgangssprache Deutsch hat, einen objektiven Standard anlegen würden, müsste die Notenskala nicht von 1 bis 5 reichen, sondern von 8 bis 25. Außerdem beurteilt man ja auch Leistungsfortschritte, alles andere wäre pädagogischer Nonsens. Um trotzdem eine gewisse Vergleichbarkeit zu erreichen, bin ich für externe Elemente als Additivum - aber nicht als Ersatz!

Walser: Sie haben wunderbar beschrieben, warum ich gegen die Ziffernnote bin. Ich halte sie speziell im Volksschulbereich für ein Unding -und glaube, dass wir auch in der Sekundarstufe 1 weitgehend darauf verzichten könnten. Und zu der von Ihnen zitierten Studie aus den USA: Wir haben bei allen Studien -von PIRLS und TIMSS in der 4. Schulstufe bis zu PISA in der achten -das Phänomen, dass Schülerinnen und Schüler mit derselben Leistung von eins bis fünf benotet werden. Besonders katastrophal wirkt sich das in der Volksschule aus, wo wir anhand des Semesterzeugnisses der vierten Klasse den Zutritt zum Gymnasium regeln. Das ist unverantwortlich und benachteiligt Kinder aus bildungsfernen Schichten.

Quin: Deshalb halte ich auch an diesem Übergang zusätzliche, externe Elemente für sinnvoll. Vor einigen Jahren hat das Kollegium des Landesschulrats für Niederösterreich einen Schulversuch eingereicht, bei dem neben den Noten auch die Ergebnisse von externen Überprüfungen eingeflossen sind. Zusätzlich sollten die Lehrer von Hauptschulen, NMS und AHS bei den Volksschülern Motivations- und andere Tests durchführen -und auf dieser Basis den Eltern Empfehlungen geben.

Walser: Bei einem Motivationstest werden wir vielleicht die Motivation der Eltern herausfinden, aber nicht das wirkliche Leistungsvermögen der Kinder. Wir müssen einfach mit diesem Unding der frühen Trennung aufhören! Es ist nicht möglich, bei einem neuneinhalbjährigen Kind die Leistungsentwicklung vorherzusagen. 13bis 14-Jährige können ihre Neigungen besser einschätzen -und bis dahin haben sich auch die sozioökonomisch bedingten Bildungsbenachteiligungen etwas abgeschliffen. Ganz wegbekommen werden wir sie nie, aber wenn wir entsprechende Mittel zur Hand haben, ist es sehr wohl möglich, manches aufzulösen.

Die Furche: Die Neue Mittelschule, die diese frühe Trennung eigentlich aufheben sollte, wird von Ihnen beiden heftig kritisiert. Was stößt Ihnen am meisten auf?

Quin: Mich stört, dass man für zusätzliche Lehrerstunden an den NMS sehr viel Geld in die Hand nimmt, aber durch zentrale Vorgaben den vernünftigen Einsatz dieser Mittel verhindert. Die Schulen sollen selbst darüber entscheiden! Eine Schihauptschule in Stams hat eben andere Bedürfnisse als eine NMS in Wien-Ottakring. Den zweiten Nonsens sehe ich in der neuen, siebenteiligen Notenskala an den NMS. (In der dritten und vierten Klasse gibt es in Deutsch, Mathematik und lebenden Fremdsprachen "vertiefte Allgemeinbildung" - mit den Noten eins bis vier. Bei "Nicht genügend" rutscht ein Kind in die "grundlegende Allgemeinbildung" und erhält automatisch ein Befriedigend; Anm.). Das heißt, dass ein leistungsschwacher Schüler in diesen Fächern nie die Chance hat, eine gute Note zu kriegen: Denn wenn er in "grundlegender Allgemeinbildung" besser wird als "befriedigend", rutscht er auf ein "Genügend" oder "Befriedigend" im vertieften Bereich.

Walser: Auch ich halte das für einen Irrsinn. Absolventinnen und Absolventen des grundlegenden Lehrplans haben außerdem keine Chance, an eine höhere Schule zu kommen. Während AHS-Schüler bei einem "Nicht genügend" die Möglichkeit einer Wiederholungsprüfung haben und an eine BHS können, gibt es diese Chance in der NMS nicht. Das ist eine klare Benachteiligung. Auch die pädagogische Durchführung war vorsichtig ausgedrückt suboptimal: Denn die Annahme, dass zwei Lehrerinnen und Lehrer in einer Klasse automatisch zur Verbesserung führen, ohne dass ich das in der Aus-und Fortbildung pädagogisch intensiv begleite, war reichlich naiv.

Die Furche: Nun werden die NMS bis Anfang 2015 evaluiert -freilich nicht vom BIFIE, sondern von den Unis Salzburg und Wien...

Walser: Dieses System ohne Evaluierung ins Regelschulwesen zu übernehmen, war unverantwortlich! Man hätte wenigstens den ersten Zwischenbericht abwarten müssen. Quin: Dem kann ich nicht widersprechen! Die Furche: Mehr Widerspruch gibt es Ihrerseits wohl zum Plan der Grünen, eine Schule für alle Sechs-bis 14-Jährigen einzuführen.

Quin: Die Frage der Schulorganisation ist letztlich relativ unwichtig. Entscheidender als die Verpackung ist der Inhalt -und das Maß der Differenzierung. Ohne Differenzierung wird man den einzelnen Kindern nicht gerecht. Das kann man natürlich auch in einem Gesamtschulsystem umsetzen, nur braucht man dazu mehr als 20 Schüler in einem Jahrgang, um das finanzieren zu können. Bei unserer kleinräumigen Schulstruktur wird das sehr teuer. Und ob sich angesichts der Hypo Alpe Adria das Füllhorn über die Bildung ergießen wird, wage ich als gelernter Österreicher zu bezweifeln.

Walser: Interessant, dass einer der vehementesten Befürworter des jetzigen Schulsystems hauptsächlich ökonomisch argumentiert und kaum pädagogische Argumente bringt. Außerdem verschlingt schon das jetzige System enorme Geldmittel. Wenn wir nur die Türschilder austauschen, wäre es mir auch lieber, wir behielten das jetzige System bei. Wir müssen eben durch die Aus-und Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer gewährleisten, dass Kinder wirklich individuell gefördert werden.

Quin: So teuer, wie Sie behaupten, ist das österreichische Schulsystem nicht: Im OECD-Mittel werden 3,9 Prozent des BIP für Bildung ausgegeben, in Österreich sind es 3,6 Prozent, in Finnland 4,1 Prozent und in Norwegen 5,1 Prozent. Auch in der Pädagogik sind wir nicht so schlecht: Wenn man alle elf Staaten vergleicht, die sowohl 2006/07 bei PIRLS und TIMSS teilgenommen haben als auch 2012 bei PISA, dann zeigt sich, dass wir in der vierten Schulstufe in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaft die Plätze 8, 8 und 6 erreicht haben -und in der achten Schulstufe die Plätze 3,4 und 4. Die differenzierende Sekundarstufe 1 ist also nicht das große Problem unseres Schulwesens.

Walser: Also bei den Pro-Kopf-Ausgaben für Bildung liegt Österreich deutlich über dem OECD-Schnitt, wobei viel Geld in der Bürokratie versickert. Außerdem zeigen alle Statistiken, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten bei uns kaum Aufstiegschancen haben. Das ist eine De-Facto-Differenzierung nach sozialen Kriterien.

Die Furche: Manche werfen den AHS-Lehrern vor, sie würden deshalb für den Erhalt des Gymnasiums plädieren, um sich nicht mit mehr "Problemschülern" aus bildungsfernen Schichten oder Migrantenfamilien abmühen zu müssen. Was sagen Sie dazu?

Quin: Das halte ich für eine Unterstellung. Die AHS ist außerdem gar nicht die Schule mit dem geringsten Anteil von Schülern mit nichtdeutscher Umgangssprache: Er liegt hier bei 15,3 Prozent, in der Berufsschule bei 10,6 und in den BHS bei 13,6 Prozent.

Walser: Also, ich fürchte, ganz von der Hand weisen kann man diesen Vorwurf nicht. Er trifft wohl nicht auf die Masse zu, aber ein gewisser Standesdünkel ist bei gewissen Kolleginnen und Kollegen sicher vorhanden. Da kann ich leider aus Erfahrung sprechen.

Die Diskutanten

Harald Walser

Der 60-jährige, promovierte Historiker war von 1978 bis 2008 Lehrer am Gymnasium Feldkirch (ab 2003 auch Direktor). Seit 2008 ist er Nationalratsabgeordneter sowie Bildungssprecher der Grünen. Das Motto des streitbaren Vorarlbergers: "Nit lugg lo!" - "Dran bleiben!" (www.haraldwalser.at)

Eckehard Quin

Der 45-Jährige (ebenfalls promovierter Historiker sowie studierter Chemiker) unterrichtet Chemie am BG/BRG Perchtoldsdorf. Seit 2010 ist der Christgewerkschafter, der als gewiefter Taktiker gilt und mit Verve das Gymnasium verteidigt, Vorsitzender der AHS-Lehrergewerkschaft. (quinecke.wordpress.com)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung