Zuerst die Debatte um die "Neue Mittelschule", jetzt banges Warten auf die neue PISA-Studie: Die Schule ist das große Thema dieses Herbstes. Stefan T. Hopmann, Professor für Schul- und Bildungsforschung an der Universität Wien, über die mangelnde Aussagekraft von PISA und den "unsinnigen" Schulversuchs-Kompromiss der Regierung.
Die Furche: Herr Professor Hopmann, kurz vor Veröffentlichung der neuen PISA-Daten am 4. Dezember lassen Sie nun im Sammelband "PISA zufolge PISA" kein gutes Haar an dieser Studie. Was genau missfällt Ihnen?
Stefan T. Hopmann: Es sind drei Dinge. Erstens muss man sich einmal fragen, was PISA tatsächlich erhebt. Als Antwort bekommt man immer: PISA misst Life-Skills, also notwendige Fähigkeiten und Fertigkeiten. Es gibt aber keine Forschung darüber, dass die Dinge, die PISA misst, überhaupt bedeutsam sind. Was PISA misst, ist eigentlich nur, wie PISA-geeignet die jeweilige Schul- und Wissenskultur ist. Zweitens kann man fragen: Misst PISA denn richtig? Zumindest zu PISA 2000 und 2003 können wir sagen: Nein, tut es nicht. Das Problem ist, dass die einzelnen Teilgruppen, die hier miteinander verglichen werden, reichlich unterschiedlich sind. Diese Fehlerquellen sind größer als die Unterschiede zwischen den beteiligten Ländern. Und drittens geht es um die Frage: Wir wirkt PISA? PISA muss ja einen ganz kleinen Bereich von Wissen finden, der überall gilt - und dann tut man so, als könnte man von diesem kleinen Nukleus auf das gesamte Schulsystem schließen. Das führt aber dazu, dass alles, was sonst noch eine Rolle spielt wie ästhetische Erziehung, kritisches und kreatives Denken, ausgeblendet wird.
Die Furche: Heißt das im Umkehrschluss, dass Schulsysteme auf Grund ihrer kulturellen Einbettung eigentlich nicht vergleichbar sind?
Hopmann: Natürlich kann ich Schulsysteme vergleichen - nur nicht mit diesen Daten. Oder halten Sie etwa den European Song Contest für repräsentativ für die Musikkultur in den beteiligten Ländern? Das Problem ist nicht die Untersuchung als solche, sondern dass auf ihrer Grundlage so weitreichende Behauptungen aufgestellt werden.
Die Furche: Unterrichtsministerin Claudia Schmied hat vermehrt auf PISA-Testsieger Finnland verwiesen, um ihren Vorstoß für die gesamtschulartige "Neue Mittelschule" zu rechtfertigen. Nach den Verhandlungen mit der ÖVP konnte sie jedoch nur sehr begrenzte Schulversuche durchsetzen …
Hopmann: Ich finde es auf jeden Fall gut, wenn es viele Schulversuche gibt. Und bitte nicht an zehn Prozent, sondern an 90 Prozent der Schulen! Ich halte es allerdings für eine merkwürdige Idee zu glauben, dass man damit herausfinden könnte, welche Schulform die bessere ist. Das ist empirischer Unsinn. Ich glaube: Man kann beides gut oder schlecht machen. Die Frage ist, wie man es macht. Die Gesamtschule funktioniert jedenfalls nur, wenn sie Gesamtschule ist. So, wie es jetzt vorgesehen ist, funktioniert es nicht. Da werden nur die Schilder getauscht: Die "Kooperative Mittelschule" kommt runter und die "Neue Mittelschule" rauf - aber die anwesende Population bleibt gleich. Die Frage ist ja etwa: Wie gehe ich damit um, dass ich 80 Prozent Ausländerkinder in einer Schule habe? Ich kann die ja nicht rausschmeißen, damit ich eine ausgewogene Quote bekomme. Einmal gab es sogar die wahnsinnige Idee, man sollte sie mit dem Bus auf die Schulen verteilen. Ich glaube, die war von der FPÖ …
Die Furche: Nein, von der Wiener ÖVP …
Hopmann: Noch schlimmer, aber egal: Vergessen Sie diese Idee! Für jeden Schüler, der vorne neu hineingeschoben wird, gehen hinten drei in eine Privatschule - und zwar die Ressourcenstärksten zuerst. Die Skandinavier haben auch nicht einfach alles umgewidmet, als sie die Gesamtschule eingeführt haben, sondern erst einmal das, was hier die Hauptschule ist, stark gemacht: mit mehr Lehrern, differenziertem Unterricht, anderen Organisationsformen. Die haben die Leute also nicht aus dem Tempel AHS vertrieben, sondern ihnen einfach gezeigt, wie man für Eltern, Lehrer und Schüler eine gute Schule machen kann.
Die Furche: Apropos Tempel AHS: Können Sie die Fundamentalblockade der AHS-Lehrer gegenüber der "Neuen Mittelschule" nachvollziehen?
Hopmann: Ja, schließlich hat ihnen niemand erklärt, was sie erwartet. Aber wenn ich sage: Jetzt müsst ihr doppelt so hart rudern, doch ich verrate euch nicht, wie das Boot aussieht und wohin die Reise geht, dann fühlen sich die Leute eben wie Galeerensklaven und reagieren entsprechend.
Die Furche: Liegt ein Grundproblem nicht darin, dass es in Österreich zwei Arten von Lehrern gibt?
Hopmann: In all den bewunderten Gesamtschulländern gibt es noch heute zwei Lehrerbildungen. Und die werden auch unterschiedlich bezahlt. Wenn wir eine einheitliche Lehrerausbildung vom Kindergarten bis zur Matura einführen würden - und alles zu Gymnasiallehrertarifen, denn herunterstufen kann man ja niemanden -, dann würden wir entweder weniger Lehrer bekommen oder andere Leute als Lehrer: Teaching-Assistants, Hilfslehrer. Keiner kann das ja bezahlen. Das österreichische Schulsystem gehört schon heute zu den teuersten in Europa.
Die Furche: Wo versickert das ganze Geld?
Hopmann: Es wird furchtbar viel für eine unsinnige Organisation ausgegeben. So lange man Schulen über Klassen, Fächer und Einzellehrer organisiert und eine furchtbare 45-Minuten-Einteilung hat, verbrät man Ressourcen. Derzeit darf ein Schulleiter in Österreich auch höchstens darüber entscheiden, ob er die Toilettentür verschließt. Bei allen wichtigen Themen muss er die Schulaufsicht fragen. Die Politiker hätten deshalb besser in ihr Schulgesetz hineinschreiben sollen: "Hiermit verabschieden wir 80 Prozent des österreichischen Schulrechts als vollkommen überflüssig."
Die Furche: Wie autonom und flexibel sollten die Schulen sein?
Hopmann: Sie sollten die Möglichkeit haben, entsprechend ihrer Schülerinnen und Schüler zu budgetieren und sich auch die passenden Lehrer auszusuchen. 80 Prozent Ausländerkinder zu haben, muss dann keine Katastrophe sein. In vielen Ländern bekommt man etwa nicht für jeden Schüler die gleiche Ressource, sondern bei bestimmten Anforderungen Zuschläge. Die Frage ist nur: Sind wir bereit, ungleich zu verteilen? Sind wir bereit, dort mehr Ressourcen hineinzustecken, wo Kinder Sprach- und Lernprobleme haben, als dort, wo Kinder ohnehin schon mit goldenen Löffeln durch die Gegend laufen? Diese Frage müssten wir uns stellen - statt eine blödsinnige Schulstrukturdebatte zu führen, die ohnehin hundert Jahre zu spät kommt.
Das Gespräch führte Doris Helmberger.
Linke Visionen und PISA-Aversionen
Etwas nerve ihn in Österreich besonders, verriet Stefan Thomas Hopmann im März 2006 in einem Furche-Interview:
"Am ersten Tag wird man schon gefragt: rot oder schwarz?"
Mittlerweile wird der 53-jährige gebürtige Göttinger, der zehn Jahre lang an norwegischen Universitäten geforscht hat und nun als Professor am Institut für Bildungswissenschaft der Uni Wien lehrt, selbst gern in Schubladen gesteckt. Erst recht wohl ab kommender Woche, wenn Hopmann den Sammelband "PISA zufolge PISA/PISA According to PISA" (LIT-Verlag) präsentieren wird, in dem 18 Autoren aus sieben europäischen Ländern den OECD-Schülertest kritisch unter die Lupe nehmen. Schließlich wird das Buch nicht nur von Hopmann und seinem Kollegen Martin Retzl herausgegeben, sondern auch von Gertrude Brinek, Assistenzprofessorin an Hopmanns Institut - und nebstbei ÖVP-Wissenschaftssprecherin. "In dem Buch ist keine ÖVP-Politik drin", entgegnet Hopmann. Und: "Ich gehöre keiner Partei an und will auch keiner angehören." Wenn, dann schlage sein Herz eher links - und zwar von Jugend an. Groß geworden in einer gut situierten, sozialdemokratischen Familie ("Wir haben mit Bischöfen und Nobelpreisträgern zu Mittag gegessen!"), war er im Landesvorstand der Jungsozialisten und in der sozialistischen Hochschuljugend aktiv. "Mein Ideal, nämlich Pädagogik als Parteinahme für die zukünftig Abhängigen zu verstehen,
habe ich bis heute nicht verloren", meint der dreifache Vater.
"Was ich aber vielleicht verloren habe, ist meine Naivität."
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