Die Angst vor der Jokerfrage

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Die Lehrer fühlen sich überfordert, sind sich die Lehrergewerkschafter von AHS und Pflichtschulen, Eva Scholik und Walter Riegler, einig: Die Gesellschaft müsste sich entscheiden, ob man PISA-Sieger sein will oder Schule wirklich Familienersatz bieten soll.

Die Furche: Sind die Lehrer bezogen auf die Anforderungen an ihren Beruf überfordert?

Walter Riegler: Ja, es gibt eine Überforderung vom Zeitaufwand her. Lehrer müssen Pflichten übernehmen, die nicht in ihr eigentliches Berufsbild fallen. Stichwort Schüler mit Problemen. Es findet sich niemand anderer, der diese Probleme aufarbeitet. Dem Lehrer bleibt gar nicht die Möglichkeit zu sagen, ich fahre jetzt mit meinem Unterricht fort, sondern er wird notgedrungen abbrechen, um das Problem zu lösen.

Eva Scholik: Es fehlt entsprechendes Fachpersonal an den Schulen. Wir würden verstärkt Schulpsychologen, aber auch Sozialarbeiter brauchen. Ich orte, dass viele Lehrer Hilferufe aussenden, nicht weil sie überfordert sind, sondern weil Schüler Hilfe brauchen, aber diese von den dafür geschaffenen Institutionen nicht aufgenommen werden.

Die Furche: Welche Lehrer sind besonders überfordert?

Riegler: Das ist nicht schulartenspezifisch, sondern abhängig davon, aus welchen Familienstrukturen die Kinder kommen, ob die Familien intakt sind. Ich meine damit nicht nur ein Elternhaus mit Vater und Mutter, sondern eines, in dem Probleme, die innerhalb der Familie entstehen, aber auch Probleme, die Jugendliche aufgrund des Alters mit sich tragen, noch angesprochen und im Idealfall auch verarbeitet werden.

Scholik: Vor zehn Jahren hätte ich noch gesagt, wir haben es leichter. Aber in der Zwischenzeit sind die gesellschaftlichen Veränderungen so weit fortgeschritten, dass wir an der AHS die selben Probleme haben. 50 Prozent der Kinder kommen aus einem familiären Umfeld, das nicht in Ordnung ist, wo Hilfestellungen erforderlich sind.

Riegler: Schule ist nicht mehr sakrosankt, das ist sicher ein positiver Ansatz. Aber es macht die Sache dort, wo es um Entscheidungen geht, schwieriger; wenn man Dinge immer ausdiskutieren und alles bis ins Detail glaubhaft belegen muss. Schüler sind früher besser vorbereitet in die Schule gekommen. Auch gibt es heute hundertfach mehr, was auf Schüler einströmt und sie vom Lernen abhält oder ablenkt.

Die Furche: Autoritäten werden nicht mehr anerkannt.

Scholik: Das ist sicher ein Faktor der Überforderung, dass die Autoritäten in Frage gestellt werden. Ich würde mir wünschen, dass Eltern und Schüler einmal von einer positiven Grundeinstellung ausgehen und nur, wenn sie enttäuscht werden, Kritik üben. Ich habe manchmal das Gefühl, dass Schüler und Eltern über ihre Rechte informiert sind, aber nicht über ihre Pflichten.

Die Furche: Das heißt, Eltern mischen sich zu viel ein?

Scholik: Eltern sind mündiger geworden, das ist ein positiver Zugang, wenn sich diese Mündigkeit mit der Bereitschaft paart, mehr Zeit in die Schulpartnerschaft zu investieren. Die gesellschaftlichen Veränderungen bringen es aber mit sich, dass Eltern weniger Zeit für die Schule aufbringen können.

Riegler: Wir haben von allen Gruppen (von Eltern) etwas. Wir haben eine kleine Gruppe, die ihre Rechte entweder selbstgeschult oder mithilfe eines Anwaltes durchsetzen will. Diese Eltern sagen sich, wir reizen das juristisch aus, egal ob es um eine Note geht, ums Aufsteigen oder um die Möglichkeit, in die AHS zu wechseln. Es kommen immer mehr Klagen auf die Schule zu. Dann gibt es einen großen Bogen von Eltern, die schulfreundlich sind und uns keine Schwierigkeiten machen. Zuletzt gibt es eine kleine, aber größer werdende Gruppe von Eltern, die sich asozial verhalten. Wir haben Eltern, die in den vier Jahren der Volksschule nicht ein einziges Mal an der Schule auftauchen.

Scholik: Ich würde sagen, dass der Anteil äußerst kritischer Eltern bei den gut ausgebildeten größer ist. Ich kann keine Zahlen nennen, aber je besser informiert Eltern sind, desto eher neigen sie dazu, ihre Rechte mithilfe eines Rechtsanwaltes durchzusetzen. Die Zahl der sozial schwierigen Eltern ist bei uns sicher geringer als in den Pflichtschulen.

Die Furche: Welchen Überforderungsfaktor hat die Migration?

Riegler: Hier geht es vor allem um das Sprachproblem. Wenn man einen Lehrer in eine erste Klasse Volksschule setzt, wo von 25 Kindern 24 kein einziges Wort Deutsch sprechen, dann haben Sie die Aufgabe, das erste Jahr umzuwidmen. Die Gesellschaft, die den Lehrern diese Zusatz-Aufgabe aufbürdet, honoriert das aber nicht, sondern am Ende des vierten Jahres wird festgestellt, dass diese Kinder wenig können, was ja nicht verwunderlich ist.

Die Furche: Die angekündigten Maßnahmen zur Sprachfrühförderung greifen also noch nicht?

Riegler: Es gibt immer noch viele Kinder, die erst unmittelbar vor Schulbeginn nach Österreich kommen.

Scholik: Die Frage der Migration belastet die Lehrer an der AHS genauso. Wir haben sehr viele Kinder, die sich zwar im Alltag gut verständigen können, aber die Unterrichtssprache nicht gut beherrschen. Die angesprochenen Maßnahmen gibt es erst seit einem Jahr. Im Bildungswesen haben wir lange Vorlaufzeiten. Natürlich haben wir einen niedrigeren Prozentsatz; aber es gibt Schulen in Wien - ich unterrichte an so einer - mit mehr als 50 Prozent an Kindern mit Migrationshintergrund.

Die Furche: Wie kommen Kinder mit schlechtem Deutsch an die AHS?

Scholik: Die Berechtigung, eine AHS zu besuchen, wird von den Volksschullehrern oft gegeben, wo wir als AHS-Lehrer das nicht tun würden. Aber aus Sicht des VS-Lehrers ist das verständlich, die Kinder haben in den vier Jahren sehr viel gelernt, aber nicht immer genug, um an der AHS dem Unterricht gut folgen zu können.

Die Furche: Wie belastend sind die ständigen Bildungsdebatten (Stichwort Gesamtschule)?

Scholik: Das überfordert die Lehrer nicht; aber sie sind verunsichert, verärgert, und sie fühlen sich zu wenig eingebunden.

Die Furche: Wie hoch schätzen Sie den Prozentsatz jener Lehrer, die an Burn-out leiden?

Riegler: Ich versuche eine Schätzung: 15 bis 20 Prozent von jenen, die über 45 Jahre alt sind. Das Problem ist, dass viele gar nicht wissen, dass sie darunter leiden. Es formen sich andere Krankheitsbilder aus. Das würde niemand so leicht zugeben; besonders nicht als Lehrer, der muss ja alles können, er wurde ja zumindest in der Vergangenheit als Wunderwutzi für alles gehandelt. Viele Kollegen sagen, sie würden nie in eine Wissenssendung (z. B. Millionenshow, Anm.) gehen. Man merkt das immer wieder, wenn als Telefonkandidat ein Lehrer aufgeboten wird, noch dazu ein Biologielehrer und eine Biologiefrage und Gnade Gott, er weiß sie nicht.

Die Furche: Sind auch zu viele Lehrer für den Beruf schlichtweg ungeeignet?

Scholik: Es ist wie in jeder Berufsgruppe, viele sind sehr gut, einige weniger gut geeignet. Wichtig wäre im neuen Dienstrecht Umstiegsmöglichkeiten für jene Lehrer vorzusehen, die nicht mehr wollen. Ein Eignungstest für den Lehrerberuf wäre für mich vorstellbar. Aber auch in den Schulpraktika haben angehende Lehrer die Möglichkeit herauszufinden, ob dieser Beruf für sie passt.

Die Furche: Was soll sich ändern?

Scholik: Wir brauchen dringend Unterstützung bei Problemfällen. Der Lehrer soll die Probleme der Schüler erkennen und sie dem richtigen Fachmann zuführen, wir können aber nicht alle Probleme lösen. Erfolgreiches Lernen ist dann möglich, wenn Schüler die Unterstützung der Familien haben, wenn in der Gesellschaft Lernen, Wissenserwerb, lebenslanges Lernen und Schule positiv besetzt sind. Es ist wenig hilfreich, wenn erfolgreiche Leute sich damit rühmen, in der Schule schlecht gewesen zu sein.

Riegler: Die Frage ist, was will man von uns. Ich könnte durchaus damit leben, wenn man vom Lehrer grundsätzlich etwas anderes fordert und dies auch in der Ausbildung postuliert und entsprechend honoriert. Aber derzeit hat man oben auf der Tagesordnung PISA, die Schule hat im Vergleich zu anderen Ländern einen Spitzenplatz einzunehmen. Und gleichzeitig werden dem Lehrer Aufgaben aufgebürdet, die vom reinen Lernen abhalten. Man kann nicht beides verlangen: Kümmere dich darum, dass der Schüler sozial gefestigt wird; und schau, dass wir einen Spitzenplatz in der PISA-Studie einnehmen.

Das Gespräch führte

Regine Bogensberger.

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