"Noten produzieren Verlierer"

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Die "Laborschule Bielefeld" ist eine weitgehend notenfreie Gesamt- und Ganztagsschule, die zuletzt bei internationalen PISA-Test besonders herausstach. Im Interview erklärt Schulleiterin Susanne Thurn den Erfolg ihrer Bildungseinrichtung.

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Die "Laborschule Bielefeld" ist eine weitgehend notenfreie Gesamt- und Ganztagsschule, die zuletzt bei internationalen PISA-Test besonders herausstach. Im Interview erklärt Schulleiterin Susanne Thurn den Erfolg ihrer Bildungseinrichtung.

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Vor 30 Jahren hat der deutsche Reformpädagoge Hartmut von Hentig die "Laborschule Bielefeld" gegründet. Von manchen gern als "leistungsfeindlich" geschimpft, erhielt die weitgehend notenfreie Gesamt- und Ganztagsschule zuletzt Traumnoten beim internationalen PISA-Test. Im FURCHE-Gespräch erklärt Schulleiterin Susanne Thurn ihre Philosophie.

DIE FURCHE: Die Laborschule Bielefeld, eine einheitliche Schule für Fünf- bis 15-Jährige mit jahrgangsübergreifendem Unterricht, hat bei der internationalen PISA-Studie überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Dennoch fürchten viele Bildungspolitiker bei Gesamtschulen noch immer eine "Nivellierung nach unten"...

Susanne Thurn: Dann hätten die Ergebnisse im PISA-Siegerland Finnland verheerend sein müssen, denn die haben - so wie wir auch - keinerlei äußere Leistungsdifferenzierung und keinerlei Noten. Der Vorwurf der "Nivellierung nach unten" basiert wohl auf folgender Vorstellung: Der Lehrer steht vor der Klasse und belehrt seine Schüler. Dazu muss er ein mittleres Niveau einnehmen, was die Schnell-Lerner unterfordert und die Langsam-Lerner überfordert. Deshalb muss die Gruppe natürlich so homogen wie möglich sein. Aber dann bräuchte man eigentlich 30 verschiedene Schulen und nicht nur drei oder fünf. Wenn ich aber in der Schule verlange, dass jeder sein individuell Bestmögliches leistet, dann nivelliere ich nach oben, dann gehe ich gerade an die Leistungsstarken heran, genauso wie an die Leistungsschwachen.

DIE FURCHE: Haben das die "normalen" deutschen Gesamtschulen, die bei PISA versagt haben, verabsäumt?

Thurn: Natürlich. Sie haben versagt, weil sich dort das Lernen nicht verändert hat. Wenn man in der Schule genauso unterrichtet wie früher, also lehrerzentriert von vorne, mit einem Frage-Antwort-Spiel und dem gleichen Unterrichtsziel für alle, dann kann das nicht funktionieren. Bei uns ist aber die Art, wie jeder einzelne in der Gruppe eine Aufgabe bearbeitet, unterschiedlich: Wenn wir etwa die Französische Revolution behandeln und jeder ein Referat schreiben muss, werden manche mühselig ein oder zwei Seiten und manche 25 Seiten verfassen. Manche werden nur nach dem Schulbuch arbeiten und manche mit Hilfe von Sekundärliteratur. Derjenige, der viel leisten kann, darf sich nicht damit zufrieden geben, dass er den Schulbuchtext interpretiert, sondern er muss bei uns mehr machen. Es kann ja in der Schule nicht darum gehen, über Tests, Noten und das Sitzenbleiben dauernd Gewinner und Verlierer zu produzieren, sondern es muss darum gehen, Kinder in dem zu fördern, was sie können. In Skandinavien ist das ganz normal, da ist meine Schule die normale Schule.

DIE FURCHE: Ab Ende der neunten Schulstufe wechseln aber auch Sie in das Notensystem. Müssen Sie nicht spätestens dann die Leistung der Schüler am Durchschnitt messen?

Thurn: Wir vergeben ja verschiedene Abschlüsse: den gymnasialen Abschluss und den Hauptschul-Abschluss. Und die Noten vergeben wir - die versammelte Gemeinschaft der Pädagogen, die den Schüler ja gut kennen - danach, was wir ihm zutrauen. Es kann etwa das Lebensziel eines Schülers sein, das Abitur zu machen, obwohl er nur schlecht strukturell denken kann und sehr langsam ist. Aber wenn er andererseits sehr fleißig ist, kann es sein, dass wir ihm die bessere Note geben, weil wir ihm zutrauen, dass er es im Gymnasium auf Grund seines Fleißes schafft. Man könnte sagen, das ist hoch ungerecht - aber das verrückte ist: Unsere Schüler halten diese Noten im Gymnasium. Offenbar kennen wir sie gut genug, dass sie das Zutrauen, das wir in sie setzen, einlösen.

DIE FURCHE: Dazu bedarf es engagierter Lehrkräfte - die Sie sich an der Laborschule selber aussuchen können. In Österreich wurde ein ähnlicher Vorschlag der Zukunftskommission mit dem Argument zurückgewiesen, dass sich dann die begehrteren Schulen die besseren Lehrer reservieren könnten...

Thurn: Diese Autonomie funktioniert nur, wenn man das auch kontrolliert. Die Landschulen bekommen sonst überhaupt keine guten Lehrer mehr. Darüber hinaus wird es in den skandinavischen Ländern so gehandhabt, dass die wenig begehrten Schulen - oder etwa Schulen mit mehr Kindern aus Migrantenfamilien - mehr Geld bekommen.

DIE FURCHE: Ihre Schule ist als Ganztagsschule bis 16 Uhr konzipiert. Führt das nicht dazu, dass die Lehrer immer mehr Erziehungsaufgaben übernehmen müssen, für die eigentlich die Eltern zuständig wären?

Thurn: Im Moment ist es umgekehrt so, dass die Familien die Lehrerarbeit machen - über die Hausaufgaben und die Nachhilfestunden. Grundsätzlich ist Kindererziehung nicht die Arbeit einer einzelnen Familie, sondern die Arbeit der Gesellschaft. Es gibt den schönen indianischen Spruch: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind groß zu ziehen. Das Kind darf nicht fixiert sein auf das, was die Eltern ihm bildungsmäßig zu bieten haben. Da ist die soziale Benachteiligung vorprogrammiert.

DIE FURCHE: Bei Ihnen werden bereits Fünfjährige eingeschult. Sind diese Kinder nicht schnell überfordert?

Thurn: Die Sorge wäre berechtigt, wenn die Schulen so bleiben würden, wie sie sind. Es wäre entsetzlich, ein Fünfjähriges Kind an einen Tisch zu setzen, wo es mehrere Stunden ruhig zuhören muss. Doch bei uns können sie ja frei spielen. Manche lernen sogar das freie Spielen erst bei uns - weil die Eltern nicht mit ihnen spielen. Viele gehen ja noch immer von der heilen Familie aus, wo die Mama am Nachmittag mit den Kindern bastelt. Wo gibt es denn das noch? Auch nach 16 Uhr ist ja für das Familienleben ausreichend Zeit. Im Gegenteil, dann sind Eltern und Kinder viel entspannter, weil sie keine Hausaufgaben mehr machen müssen.

DIE FURCHE: Um zur Ganztagsschule zu taugen, müsste Schule zu einem tatsächlichen "Lebensraum" werden - was auch mit enormen (Umbau)Kosten verbunden wäre...

Thurn: Das hat nichts mit Geld zu tun, sondern mit einer anderen Vorstellung von Schule. Wenn unsere Lehrerinnen und Lehrer den ganzen Tag in der Schule verbringen müssten, sähen die Schulen nicht so aus, wie sie das tun, denn das wäre unzumutbar. Die Schweden haben deshalb vor zehn Jahren relativ brutal gesagt: Ab morgen sitzen alle Lehrer 35 Stunden in der Schule. Die Lehrer haben sich dagegen mit Händen und Füßen gewehrt. Doch heute sagen sie, dass sie erst dadurch ihren Beruf neu gelernt haben: Sie haben in der Freizeit die Kinder neu kennengelernt. Sie hatten plötzlich Zeit, mit den anderen Lehrern Gespräche über die Kinder zu führen. Sie haben auch gemeinsame Unterrichtsvorbereitung gemacht. Diese "brutale" Verordnung hat also ein völliges Umdenken punkto Schule in Gang gebracht.

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