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Die Grenzen der Integration

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Integration von behinderten Kindern kann sehr gut funktionieren. Es müssen dafür allerdings Rahmenbedingungen geschaffen werden.

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Integration von behinderten Kindern kann sehr gut funktionieren. Es müssen dafür allerdings Rahmenbedingungen geschaffen werden.

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Die der Volksschule für körperbehinderte Kinder in der Hernalser Hauptstraße in Wien ist eine besondere Klasse. Sie ist ein Beispiel, wie gut Integration von behinderten Kindern in der Praxis funktionieren kann. Unter den 14 Schülern sind vier Kinder mit „sonderpädagogischem Förderungsbedarf” oder einer chronischen Erkrankung. Tomi in der ersten Beihe kann sich beispielsweise seit seiner Geburt nur mit dem Rollstuhl fortbewegen. Er hat Probleme mit. den Gelenken, was unter dem medizinischen Namen „Arthrogrypose” geführt wird. Seine Beine und Hände kann der Sechsjährige nur eingeschränkt koordinieren. Das macht ihm natürlich Mühe beim Schreiben. Aber mit etwas Übung und geduldiger Hilfe von der Frau Lehrerin malt der Sechsjährige fast wie die anderen Kinder seiner Klasse den Buchstaben „H” in sein Übungsheft.

Andrea ist heute krank. Sie ist mehrfachbehindert und braucht ebenfalls gezielte Förderung. Tamara hat einen offenen Wirbelkanal (Spina bifida). Sie muß Windeln tragen und täglich gewickelt werden.

Martin sitzt in der dritten Reihe. Seine Krankheit nennt sich „psychoorganisches Syndrom”. Mit seiner Motorik und auch mit dem Einhalten von Regeln hat er Probleme und braucht daher besonderes Verständnis und Hilfestellung. Diese Probleme sollen sich aber während der Schulzeit wieder geben. „Vor allem in einer Gruppe mit nur wenigen Kindern kann er seine Behinderung gut kompensieren”, erzählt Petra, die, Klassenlehrerin. Wie Tomi ist er beim Unterricht begeistert dabei. Überhaupt fällt auf, wie (relativ) ruhig und harmonisch der Unterricht abläuft. Aber das liegt wohl auch daran, daß die Kinder ihre aufgestaute Energie im Freien austoben können.

In der Pause dürfen die Erstklassier in die angrenzende Parkanlage mit einem großen roten Sportplatz. Petra hilft Tomi in seinen Rollstuhl, damit er mit hinaus fahren kann. Die anderen Kindern stürmen in der Zwischenzeit ins Freie und holen sich Bälle zum Spielen. Am Sportplatz angekommen, läßt sich Tomi von seinem Bollstuhl ohne Hilfe auf den Boden gleiten. Er lacht, als ihm ein anderes Kind einen Ball zuspielt. Er kann zwar nicht so herumtoben wie seine Klassenkameraden, das scheint ihn aber nicht weiter zu stören. Er fühlt sich nicht ausgegrenzt.

Nach der Pause geht der Unterricht mit der Besprechung der Hausaufgaben weiter. Petra unterrichtet zusammen mit ihrer Kollegin, einer speziell ausgebildeten Sonderschullehrerin. Kurz vor Ende des Schultages kommt die Hortbetreuerin. Sie wird mit den Kindern, die erst am Nachmittag von ihren Eltern abgeholt werden, mit-tagessen, spielen und bei den Hausaufgaben helfen.

Die Schule in der Hernalser Hauptstraße ist ein mit viel Glas gestalteter Neubau, speziell konzipiert für bewegungsbehinderte Kinder. Entsprechende Toilettenanlagen mit höhenverstellbaren Waschanlagen sind Standard. Im Gang sind verschiedene Geräte aufgestellt, an denen bewegungsbehinderte Kinder üben können. An einem Gerät mit zwei Stangen trainiert gerade ein Junge seine Beine. Daneben gibt es noch Therapieräume und ein Schwimmbad.

„In unserer Schule haben wir nichtbehinderte zusammen mit körperbehinderten Kindern und auch einige Grenzfälle von geistig behinderten bis zu schwer mehrfachbehinderten Kindern”, erklärt Annemarie Doubek, Schulleiterin.

Der Schwerpunkt liegt aber bei bewegungsbehinderten Kindern. „Bewegungsbehinderte Kinder, auch solche mit leichter Lernschwäche, mischen wir in einem Verhältnis von etwa eins zu vier mit normal begabten Kindern. Das funktioniert sehr gut”, erzählt die Schulleiterin. Wenn die Kinder schwerer behindert sind, sowohl geistig als auch körperlich, dann werden sie - ohne normal begabte Kinder - in Kleinklassen mit vier bis sechs Schülern zusammengefaßt, die kooperativ mit den Integrationsklassen verknüpft sind. Es wird individuell vereinbart, welche Stunden die beiden Klassen miteinander verbringen, etwa Hortstunden, musische Stunden, Sachunterricht oder Ausflüge. Doubek hat mit ihrem Schulmodell großen Erfolg. „Wir haben eine hohe Akzeptanz, auch bei Eltern nichtbehinderter Kinder, da sie wissen, daß unser Leistungsniveau in Ordnung ist. Wir sind so gefragt, daß ich jedes Jahr auch Eltern nichtbe-hinderterKinder wegschicken muß.”

Annemarie Doubek war Anfang der achtziger Jahre bei den Integrationsgesprächen im Ministerium dabei. Damals war es bei weitem nicht selbstverständlich, daß behinderte Kinder eine Schule besuchen konnten. Sie wurden meist als „schulunfähig” eingestuft oder in Sonderschulen von ihren „normalen” Altersgenossen isoliert. Die ersten Schul versuche mit Integrationsklassen brachten gute Ergebnisse. Im Schuljahr 92/93 wurden die Schulversuche in den Volksschulen beendet und in das Be-gelschulsystem übertragen.

Recht auf Integration

Erstmals in diesem Schuljahr gibt es nun auch in den ersten Klassen der Haupt- und Mittelschulen keine Schulversuche mehr, sondern nur mehr reguläre Integrationsklassen. „Leider”, bedauert Luzie Bauer vom Bundesministerium für Unterricht, „gibt es keine einzige erste AHS-In-tegrationsklasse.” Im Schuljahr 96/97 besuchten 5.406 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Volksschule, 2.311 eine Hauptschule. In Sonderschulen, selbständig oder im organisatorischen Zusammenhang mit einer Volks- oder Hauptschule, sind aber nach wie vor 17.657 Kinder gemeldet. Seit heuer haben aber Eltern das Recht, ihr behindertes Kind in einer Haupt- oder Mittelschule anzumelden.

Ein Recht, das in vielen Fällen nur auf dem Papier besteht, kritisiert die bundesweite Elterninitiative „Inte-gration:Österreich”. Der Mitte der achtziger Jahre gegründete Verein unterstützt die Rechte von Eltern, die nicht wollen, daß ihr Kind in eine

Sonderschule gehen muß. Monika Haider, Sprecherin der Elterninitiative beanstandet, daß das seit 1993 bestehende Bundesgesetz in manchen Ländern integrationsfeindlich ausgelegt wird. Ganz schlimm sei es in Niederösterreich. Eltern von behinderten Kindern würden zu Bittstellern degradiert und seien auf den guten Willen der Schulen angewiesen, meint Haider. „Im Gesetz steht zwar, daß Kinder ein Becht auf Integration hätten. Es gibt aber auch einen Freiwilligkeitspassus für Lehrer. Damit wird es für Eltern oft schwierig, eine Schule zu finden, die ihr Kind aufnimmt. Das ist ein bißchen wie eine Herbergssuche und erfordert sehr viel Engagement seitens der Eltern.” Haider ist überzeugt, daß es bei einem Unterricht, der sich nach dem Kind richtet, keine Sonderschulen mehr brauchen werde.

Eine Überzeugung, die aber in der Praxis nicht immer funktioniert, weiß Annemarie Doubek, Leiterin der Hernalser Schule. „Die Integrationsbewegung ist eine wichtige Sache, nur war sie mir ein wenig zu radikal und fanatisch. Nicht überall hat sie gegriffen. Wo sie gegriffen hat, war sie mitunter ein wenig ungesteuert. Und da denke ich, daß Fehler passiert sind.” Überhaupt nichts anfangen kann die Schulleiterin mit dem Begriff der unteilbaren Integration, ein Schlagwort der Integrationsbewegung. Dabei wird die Auffassung vertreten, daß jedes Kind integriert werden kann, egal wie schwer die Behinderung ist. „Ich habe nie gefunden, daß das so einfach ist. Das hat auch bewirkt, daß eine undifferenzierte Integration eingesetzt hat. Es wird die Art der Behinderung zu wenig berücksichtigt.” Im Extremfall kann es sein, daß ein schwer körperbehindertes, ein sehbehindertes, ein gehörloses und ein geistig behindertes Kind zusammen in einer Klasse sitzen. „Ich bin zwar für Integration. Aber wir haben manchmal Gruppierungen, bei denen die Kinder so schwer behindert sind, daß gemeinsamer Unterricht kaum einen Sinn hat. Es gibt Grenzen der Integration. Dazu stehe ich,” sagt Doubek.

Uberforderte Lehrer

Außerdem sollte es Schulen mit einem Schwerpunkt für eine bestimmte Behinderung geben. „Bei uns sind das bewegungsbehinderte Kinder. Es könnten aber auch sehbehinderte, gehörbehinderte oder Kinder mit Lernproblemen sein. Dann wäre die Qualität des Unterrichts auf jeden Fall gewährleistet und die behinderten Kinder optimal gefördert.”

Für unsinnig hält Doubek auch die ab diesem Schuljahr bestehende Möglichkeit, schwer geistig behinderte Kinder in eine AHS zu schicken. „Ich will nicht ausschließen, daß sich ein solches Kind auch in einer AHS-Klasse wohlfühlen kann. Doch das ist sicher die Ausnahme. Es kann sein, daß es dort als Außenseiter seine Zeit absitzt. Diese Kinder brauchen nun einmal etwas ganz anderes. Man muß bedenken, daß das Entwicklungsniveau um Jahre klafft. Kein Mensch würde zum Beispiel auf die Idee kommen, Achtjährige gemeinsam mit den vierjährigen Geschwistern zu unterrichten. Ein Großteil der pädagogischen Zuwendung besteht ja darin, diesejn Kindern die einfachen Dinge der Lebensbewältigung beizubringen. Wie paßt das mit Lehrplänen höherer Schulen zusammen?”

Auch gibt die Schulleiterin zu bedenken, daß diese Form der Integration Lehrer vermutlich überfordert. „Ich kann nicht von heute auf morgen einem Lehrer zumuten, daß er das jetzt auch können muß. Es gibt einen massiven Öffentlichkeitsdruck, wenn ein Lehrer zugibt, daß er das nicht schafft. Dann wird er sofort als sozial negativ eingestuft. Man nimmt an, daß diese Pädagogik funktioniert, wenn man nur den guten Willen dazu hat. Den Iehrern werden fast übermenschliche Kräfte angedichtet. Und danach braucht es sehr viel Mut zu sagen: Na eigentlich ist es nicht so gut gegangen.”

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