Besondere Schüler unter sich

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Individuelle Sonderschul-Förderung gibt Schülern ein wenig kindliche Sorglosigkeit zurück – allerdings in der Exklusion.

Kurz vor halb acht Uhr morgens tollen Kinder vor ihren Klassen in der mit Basteleien dekorierten Aula. Sie plaudern und kichern, bevor die Glocke zum Unterricht schrillt. Ein gewöhnlicher Eindruck einer Schule, die so gewöhnlich nicht ist: Als die Lehrerin Christina Aichinger die Klassentür schließt, sitzen nur vier Buben und ein Mädchen an den Tischen. Sie sind zwischen zehn und 13 Jahre alt und werden nach den Lehrplänen der sechsten und siebten Schulstufe unterrichtet – jeder mit individuell abgestimmten Übungen. Sie sind Schüler des Sonderpädagogischen Zentrums (SPZ) im niederösterreichischen Matzen. Jeder einzelne von ihnen habe „sonderpädagogischen Förderbedarf, so entschieden Pädagogen oder Ärzte und letztlich die Eltern. In mancherlei Hinsicht haben sie es besser als „normale“ Schüler: Jeder hat einen eigenen, großen Tisch. Sogar für Pflanzen, drei Computer und ein weiches Stoffsofa ist Platz.

„Manche glauben, ihre Beeinträchtigung würde man den Kindern deutlich ansehen. Oder hier wären Schüler, die Lehrer mit dem Messer bedrohen“, schmunzelt die 23-jährige Lehrerin Aichinger. Das Gegenteil ist der Fall, wie sich in der Deutschstunde zeigt: Es ist ruhig, die Kinder sind auf ihre Aufgaben konzentriert, bewegen beim Denken still ihre Lippen. Jennifer (Schülernamen von der Redaktion geändert) schlägt Wörter im Lexikon nach und markiert Seite sowie Spalte, Timo ordnet währenddessen alphabetisch Begriffe wie „Ampel“, „Alphabet“ und „Ananas“. Die anderen schreiben Aufsätze, die die Lehrerin später in vollständige Sätze mit logischer Handlung umformulieren und zurückgeben wird – zum Üben für die Schularbeit.

Verhaltensauffälligkeit

Die meisten Schüler hier besuchen den Schultyp, weil sie lernschwach sind und durch ihr Verhalten von Gleichaltrigen abweichen. „Das kann heißen, dass die Frustrationstoleranz sehr niedrig ist. Ein Bub weint sofort, wenn er im Sport verliert oder wenn er etwas nicht versteht. Manche Kinder haben in der Großgruppe große Schwierigkeiten. Im kleinen Rahmen funktioniert es“, erklärt Aichinger. Ärztliche Diagnosen zum Verhalten gibt es selten.

Timo kam von der Volksschule nicht nur aufgrund schwacher Leistungen nach Matzen, er ist sehr in sich gekehrt, blickt im Gespräch zu Boden und antwortet durch Nicken oder Schulterzucken statt mit Worten. Sein Lächeln verrät dennoch Anteilnahme. „Ich möchte einmal Katzenzüchter werden“, verrät er später mit zarter, heller Stimme, die zeigt, dass er in diesem Moment gerne von sich erzählt: „Weil sie schön aussehen und ich mit ihnen spielen kann.“

Timo braucht viel Zuwendung. „In der Volksschule hat er sich unter dem Tisch versteckt. Das war hier nicht anders, erst allmählich hat er mit mir zu sprechen begonnen. Vom Tisch hervorgekommen ist er, als er gesehen hat, dass er die Aufgaben lösen kann, die ich ihm gebe“, so Aichinger. Timo versteckt sich vor neuen Situationen und hätte laut Lehrerin die Hauptschule wohl nicht geschafft, wenn er jede Stunde den Raum oder den Lehrer hätte wechseln müssen. Intelligent genug für die dritte Leistungsgruppe der Hauptschule wäre er. „Wir festigen ihn in seinem sozialen Verhalten. Ich versuche, ihn nach dem Hauptschullehrplan zu unterrichten, damit er später einen Hauptschulabschluss machen kann“, so Aichinger.

Dass Sonderschüler in höhere Schultypen wechseln, kommt allgemein jedoch selten vor. Lediglich jeder zehnte Schüler wechselt von der vierten Schulstufe Sonderschule in die fünfte Schulstufe der Hauptschule. Ins Gymnasium wechseln laut Nationalem Bildungsbericht überhaupt nur zwei Prozent. Wer einmal in der Sonderschule landet, wird dort bleiben – das sagen die Zahlen und wissen die Pädagogen. Beim Übergang von der achten zur neunten Stufe ist es nicht anders: Ein Drittel bleibt in der Sonderschule, rund 23 Prozent wiederholen die Klasse und 27 Prozent treten aus diversen Gründen gar nicht in die nächste Stufe über. Österreichweit sind in den Sonderschulen Migranten überrepräsentiert. Experten vermuten, dass diese Schüler aufgrund eines erhöhten sprachlichen Förderbedarfs einfach bis zur Sonderschule in andere Schulformen abgeschoben werden. SPZ-Direktorin Ingrid Stummer-Rotunno zweifelt das zwar nicht an, kann es aus ihrer 22-jährigen Erfahrung aber auch nicht bestätigen: „Es ist schwer zu sagen, inwieweit Lernschwächen durch die Sprache bedingt sind oder kognitiv. Meistens geht das Hand in Hand, wenn Kinder mit Migrationshintergund aus bildungsferneren Familien kommen. Ein durchschnittlich intelligentes Kind lernt in der ersten Klasse die Sprache und holt auf. „Normalbegabte“ erkennt man mit der Zeit und es käme zu Rückführungen in andere Schultypen.“

Stigma Sonderschule

Das System Sonderschule stigmatisiert. Das weiß auch Christina Aichinger: „Man wird schief angeschaut, wenn man in die Sonderschule geht. Das ist so. Auch für Bewerbungen ist das ein großer Minuspunkt. Eltern schauen daher, dass ihre Kinder ein Hauptschulzeugnis bekommen.“ Die Schüler selbst bekommen diese Brandmarkung im geschützten Raum oft noch nicht mit. „Schule ist cool“, sagt die 13-Jährige Jennifer, die vor allem wegen Aggressionsproblemen ins SPZ kam. Das war nicht immer so. „In der Volksschule war viel Stress. Ich habe mich von den Kindern ausgegrenzt und von den Lehrern links liegengelassen gefühlt. Hier kann ich den Lernstoff schaffen und habe Freunde.“

Eine Möglichkeit, dem „Stigma Sonderschule“ zu entgehen und ein Regelschulzeugnis mit besonderem Vermerk zu bekommen, wäre integrativer Unterricht (siehe rechts). Hier sitzen Kinder mit besonderen Bedürfnissen in Regelschulen, werden aber extra betreut. Integrationsziele sind unter anderem das Abbauen einer gesellschaftlichen Scheu vor der Behinderung, das Aufheben von Trennungen und Vorurteilen – beide Seiten würden profitieren. Diesen positiven Integrationsgedanken sieht Aichinger aber in manchen Fällen an der Praxis scheitern: „Theoretisch sollte es ja dafür eine zweite Lehrperson geben. In der Praxis ist es aber oft so, dass Lehrer fehlen und Kinder mit besonderen Bedürfnissen in Klassen mit 24 Schülern sitzen. Das geht nicht. Ich habe nur fünf Schüler, das ist ein großer Unterschied.“ In der Sonderschule würden Kinder unter diesen Umständen deutlich mehr profitieren. Auch Jörg Ramseger stellt im Sammelband „Behinderte Kinder und Jugendliche in der Schule“ fest: „Die Grenzen der Integration liegen niemals primär bei den ‚Defiziten’ der Menschen mit Behinderungen, sondern beim Selbstverständnis und didaktischen Können der Pädagogen sowie bei den Rahmenvorgaben, die die Gesellschaft und Bildungspolitik zur Verfügung stellen.“

Sorgen um Stigmatisierung macht sich Schülerin Jennifer noch nicht. Auch ihr Bruder besuchte die Sonderschule. Er ist heute Maurer. Von der speziellen Sonderschul-Betreuung profitiert sie klar: Sie schlägt sich weniger. Und: Sie kann morgens vorm Unterricht wieder lachen.

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