Seht her, was ich kann!

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Das österreichische Bildungssystem richtet den Blick noch immer bevorzugt auf die Defizite von Kindern. Konzepte wie der neue Grazer "Stärkenpass" wollen das ändern.

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Das österreichische Bildungssystem richtet den Blick noch immer bevorzugt auf die Defizite von Kindern. Konzepte wie der neue Grazer "Stärkenpass" wollen das ändern.

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Es war ein Schlüsselerlebnis für Klaus Tasch. Der Direktor ging gerade durch seine Schule in der Grazer Klusemannstraße, als ihm ein aufgeregter 14-Jähriger entgegenkam. Der Bursch, der in nicht wenigen Fächern zu kämpfen hatte, suchte verzweifelt seinen Lehrer, dessen Unterricht ausnahmsweise ausgefallen war. Just heute hätte er ihm seine vier Fußballpokale zeigen wollen -Trophäen seiner sportlichen Erfolge, von denen hier an der Schule niemand etwas ahnte.

Diese Szene, die schon einige Jahre zurückliegt, hat sich Klaus Tasch bis heute gemerkt. So wie der 14-Jährige damals hätten auch viele andere Kinder das Pech, dass ihre Stärken im schulischen Fächerkanon nicht gut abgebildet würden, weiß der Direktor: sei es besondere Wendigkeit auf dem Fußballfeld oder außergewöhnliches Einfühlungsvermögen in andere Menschen. "Ich selbst bin ein begeisterter Mathematiker", betont Tasch. "Aber die schulische Gewichtung zwischen dem Satz des Pythagoras und empathischer Gesprächsführung entspricht nicht der Gewichtung später. Man könnte auch sagen: Schule ist wichtig -aber sie ist nicht das Leben."

Gemeinsame Schatzsuche

Um einen ganzheitlicheren Blick auf die jungen Menschen zu gewinnen, hat man in der Klusemannstraße vor sechs Jahren "Stärkenportfolios" entwickelt. Alle Erstklässler der innovativen Schule, die in der Unterstufe als Neue Mittelschule (mit Möglichkeit zum AHS-Abschluss) und in der Oberstufe als (Real-)Gymnasium geführt wird, erhalten dabei eine Mappe: In ihr können sie all jene Produkte oder Aktionen dokumentieren, die ihnen nach eigener Einschätzung in- und außerhalb der Schule besonders gut gelungen sind: vom klassischen Deutschaufsatz über das Foto eines Werkstücks bis zum Mitschnitt eines Rockkonzerts. Die wöchentliche Stunde "Soziales Lernen" mit dem Klassenvorstand soll ihnen dabei helfen, ihre Stärken aufzuspüren; ein Mal pro Semester wird die Mappe zudem in Kleingruppen mit einem zugeteilten Fachlehrer der Klasse besprochen. Nicht nur die Jugendlichen, auch die Pädagoginnen und Pädagogen, die in der Sekundarstufe oft mehr als 100 verschiedene Schüler unterrichten müssen, profitieren von diesem Austausch. Nicht zuletzt wird die Schüler-Lehrer-Beziehung gestärkt - und auch ein Schritt Richtung Berufsorientierung getan.

Die Stadt Graz hat man mit diesem Ansatz jedenfalls überzeugt: Seit September wird an 14 Institutionen ein neuer "Stärkenpass" erprobt: je zwei Kindergärten und Horte, drei Volksschulen, vier Mittelschulen und drei AHS-Unterstufen - darunter auch die Klusemannstraße - nehmen an dem Pilotprojekt teil. Anders als das "Stärkenportfolio" soll der (freiwillige!) "Stärkenpass" die Kinder freilich schon vom dritten bis zum 15. Lebensjahr begleiten und dabei nicht nur den Dialog zwischen Kindern, Pädagogen und Eltern fördern, sondern auch den Austausch der Bildungseinrichtungen über alle Schnittstellen hinweg. Letztlich geht es um eine neue pädagogische Haltung, die man als "gemeinsame Schatzsuche" verstehen kann und die in gemeinsamen Fortbildungen eingeübt wird, betont der Grazer Bildungsstadtrat Kurt Hohensinner (ÖVP):"Unser Bildungssystem ist hingegen oft viel zu defizitorientiert und richtet sich viel zu stark an der Schulfächer-Beurteilung mit Noten aus." Wobei der neue "Stärkenpass" - wie bisher das "Stärkenportfolio" - die herkömmliche Leistungsbeurteilung nicht ersetze, sondern nur ergänze.

"Stärken stärken": Dieses Motto trommelt die pädagogische Forschung schon seit langem; doch in der Praxis hält sich der Blick auf die Schwächen hartnäckig. Die Leidtragenden sind nicht nur Schülerinnen und Schüler mit kognitiven Schwächen, sondern auch "Hochbegabte": Das hiesige Schulsystem sei schlichtweg "talentefeindlich", schrieb etwa der Genetiker Markus Hengstschläger 2012 in seinem Buch "Die Durchschnittsfalle".

Doch wo liegt überhaupt der Unterschied zwischen "Stärken","Begabungen" und "Talenten"? Laut wissenschaftlicher Definition bezeichnet "Stärke" eine persönliche Fähigkeit, die aus eigenen Erfahrungen und Problemlösungen in der Praxis entwickelt wurde. "Begabung" nennt man hingegen das Potenzial zu außergewöhnlicher Leistung; und als "Talent" versteht man das Leistungspotenzial in einem spezifischen Bereich wie Fußball, Klavier oder Sprachen, sofern bereits ein bestimmtes Leistungsniveau erreicht wurde. "Streng genommen muss man also sagen: Jedes Kind hat seine Stärken, aber nicht jedes Kind hat Begabungen", erklärt Marlies Böck vom "Österreichischem Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung" (ÖZBF). Im "Stärkenpass" gehe es freilich um einen "breiten, ressourcenorientierten Zugang", meint die Expertin, die nicht nur am neuen Grazer Tool, sondern auch am geplanten "Bildungskompass" für alle Kindergärten mitgearbeitet hat (s.u.). Ziel sei es, Stärken so weit zu fördern, dass sich daraus Begabungen entwickeln könnten.

NMS-Schüler als Versager?

Wie breit diese Stärken gefächert sind - und wie schwer manchen Kindern ihre Entdeckung fällt - weiß kaum jemand besser als Ursula Pilz. "Die leistungsstarken Kinder haben meist keine Probleme, das Stärkenportfolio zu füllen", erklärt die ausgebildete Sonderschullehrerin, die als Integrationslehrerin in der Klusemannstraße tätig ist. "Und auch viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf sagen ganz selbstbewusst: Ich habe eine Lernschwäche in Mathematik, aber das und das kann ich gut." Schwierigkeiten, ihre Stärken ausfindig zu machen, hätten hingegen oft jene leistungsschwächeren Schüler, bei denen keine konkrete Lernschwäche definiert wurde und die deshalb auch keine besondere Förderung durch eine Integrationslehrerin erhalten: Sie hätten oft das "diffuse Gefühl, eh nichts zu können", weiß Pilz.

Umso mehr plädiert sie in der Schule für eine "Gleichwertigkeit der Fähigkeiten", statt nur die intellektuellen Leistungen zu preisen. Dass das an ihrer Schule mittlerweile gelebt werde, zeige das Beispiel einer Schülerin mit Mathematikproblemen, die sich als begnadete Handwerkerin entpuppte und schon an diversen Vernissagen teilnahm. Sich auf die eigenen Stärken konzentrieren, statt sich ständig mit anderen vergleichen - das wäre die Kunst, so Pilz. "Das Schulsystem läuft leider meist auf Vergleichen und Messen hinaus. Aber die eigentliche Latte liegt immer bei uns selbst."

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