Pauken bis zur Pleite

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Immer weniger Eltern können sich Nachhilfe leisten. Doch der Großteil der 30.000 Schüler, die im Herbst zur Nachprüfung antreten, benötigtHilfe beim Lernen. In der Wiener Lerntafel werden Kinder aus sozial schwachen Familien kostenlos gefördert. Ein Lokalaugenschein.

In einer Koje, abgetrennt von anderen Lernplätzen, sitzt die 11-jährige Michelle neben ihrer Lernhelferin Eva. Die Wiener Studentin diktiert Michelle Sätze aus einem Schulbuch. Es ist die erste gemeinsame Deutsch-Stunde der beiden, viele weitere werden in diesem Sommer noch folgen. Die Gymnasiastin hat im September in Deutsch zur Nachprüfung anzutreten - und ist zuversichtlich, diese Hürde zu nehmen: "Die Lehrerin konzentriert sich nur auf mich. Hier ist es viel gemütlicher als in der Schule.“ Ursache ihrer schulischen Notlage: Michelle ist zwar in Österreich geboren, hat aber von kleinauf mehr Hebräisch als Deutsch gesprochen. In der Volksschule wurden ihre Sprachkenntnisse milde beurteilt, doch mit dem Wechsel an das Gymnasium kamen die schlechten Noten in Deutsch: durchgehend Nichtgenügend.

Das Kind muss es wollen

Michelle ist keine Ausnahme, sondern eher die Regel: Zumindest 70 Prozent der Kinder, die in der Wiener Lerntafel Lernhilfe erhalten, haben einen Migrationshintergrund und benötigen vor allem im Fach Deutsch das, was als klassische Nachhilfe gilt, in der Lerntafel aber anders geboten wird: "Wir wollen uns von der Nachhilfe abgrenzen“, sagt Obmann Stefan Unterberger, "und nicht nur Stoffgebiete nachkauen. Den Kindern das Lernen beizubringen, ist unser Ziel.“ Der Bedarf danach scheint hoch zu sein.

Das Lernzentrum in Simmering ist die einzige Einrichtung in Wien, die auch Schulkindern ohne Migrationshintergrund - allerdings nur jenen aus finanziell benachteiligten Familien - eine kostenlose Lernhilfe ermöglicht. "Jetzt im Sommer wird das Personal knapp, aber wir schicken niemanden weg“, so Unterberger.

Es sind ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit pädagogischer Erfahrung sowie Studierende, die die Schulkinder im Alter von sechs bis 14 Jahren möglichst umfassend zu fördern versuchen. Die Freiwilligkeit des Kindes ist dafür Voraussetzung. "Es gibt keine Kinder, die nicht lernbereit sind,“ meint Unterberger, "es fehlt ihnen oft das räumliche und organisatorische Lernmilieu.“ Die Ursache dafür liegt in den Familien: "Ein Drittel der Eltern will nicht mit den Kindern lernen, ein Drittel kann es nicht, etwa wegen sprachlicher Barrieren, und ein Drittel ist zeitlich überfordert“, berichtet der Initiator der Lerntafel. Ein typisches Beispiel für Überforderung ist ein alleinerziehender, arbeitender Elternteil. Oberstes Ziel in der Lerntafel ist, den Selbstwert der Kinder zu stärken. Angebote wie eine Lese - oder Schreibwerkstatt sollen die Freude am Lernen fördern. Erst dann könne man daran gehen, Fünfer "auszubügeln“, erläutert Unterberger. Das Team behält die Lebensumstände der Kinder im Blick: "Wir kooperieren mit der kinderpsychotherapeutischen Ambulanz. Auch aus dem Kriseninterventionszentrum kommen Kinder zu uns.“

Vor der ersten Lern-Einheit besprechen Eltern und Kind mit der Zentrumsleiterin und der jeweiligen Lernhilfe den schulischen Werdegang, allfällige Lernschwierigkeiten und deren Ursachen. "Wir berücksichtigen Interessen, Stärken, Schwächen, Freizeitverhalten, Lesegewohnheiten, Mediengewohnheiten und kreatives Potenzial ebenso wie die Kommunikation in der Klasse und mit den Lehrkräften“, erläutert Unterberger. Gemeinsam werden die Lernziele erarbeitet. "So erlebt das Kind unsere fachliche und mentale Förderung als Sicherheitsnetz“, erklärt der Psychosoziologe.

Sollte dennoch unklar bleiben, wo der Lernerfolg hakt, regt das Lernteam Untersuchungen zur Hör- und Sehleistung des Kindes oder zu Leistungsschwächen an. "Oft fehlen den Eltern Informationen über Zusatzangebote, die wir ihnen mehrsprachig anbieten.“

Armut geht in Kinderschuhen

250.000 Kinder und Jugendliche in Österreich leben in Armut oder sind unmittelbar davon bedroht. Laut einem Bericht des Instituts für Soziologie der Universität Wien gelten Migrationshintergrund, Leben in der Stadt, Arbeitslosigkeit der Eltern und mehr als zwei Kinder als die größten Risikofaktoren. In Wien lebende Kinder sind stärker von Armut betroffen als Kinder in den anderen Bundesländern. Von den mehr als 20.000 betroffenen Wiener Kindern benötigt etwa die Hälfte Lernhilfe. Ein weiteres Problem in Wien: Arbeitslose Eltern erhalten keinen Hortplatz.

Dass Kinder aus bildungsfernen Familien dreifach benachteiligt sind, zeigt eine Studie des Bildungsinstituts BIFIE: Diese Kinder lesen nicht nur schlechter, sondern erhalten auch bei gleicher Lesekompetenz tendenziell die schlechteren Noten. Zudem treten sie bei gleichen Noten seltener in eine AHS über. Denn in Österreich wird Bildung zu einem großen Teil "vererbt“: Das Haushaltseinkommen bestimmt maßgeblich den Bildungsweg der Kinder, und der ist bereits nach der Volksschule eingeschlagen: "Je weniger die Eltern verdienen, desto eher wechseln die Kinder nicht in die AHS-Unterstufe - auch wenn sie die AHS-Reife hätten. Das setzt sich fort über die Oberstufe bis zum Studium“, kritisiert Sozialexperte Martin Schenk von der Diakonie. Die Armutsgefährdung von Jugendlichen, die nur einen Pflichtschulabschluss haben, ist wiederum drei Mal höher als jene von Uni-Absolventen. Hier schließt sich der Teufelskreis.

Um das soziale Kapital benachteiligter Kinder und Jugendlicher zu stärken, hat die Wiener Lerntafel einen Peer-to-Peer-Unterricht an Wiener Schulen initiiert: Schüler aus der AHS-Oberstufe gehen zwei Mal wöchentlich in eine Hauptschule oder Neue Mittelschule eines sozial schwächeren Bezirks, um dort zu unterrichten. "Wir können beobachten, wie sich die Jugendlichen verändern, die an diesem Projekt aktiv oder passiv teilnehmen. So erkennt etwa eine 17-Jährige aus gutbürgerlichem Haus, dass türkische Mädchen ähnliche Interessen, aber ganz andere Lebensbedingungen haben“, erklärt Unterberger.

Inzwischen spielt Mathematik-Lehrer Laurentius mit dem zwölfjährigen Osman das Brettspiel "Labyrinth“. Der Hauptschüler hat sein heutiges Lernziel erreicht: Brüche rechnen.

"Über das Spielen kommt eine natürliche Kommunikation in Gang. So lernt Osman am besten Deutsch“, erklärt der TU-Student. Er lernt wöchentlich einen Nachmittag mit den Kindern Mathematik. Weil er sich selbst privilegiert fühlt, möchte er ihnen neue Perspektiven eröffnen.

"Mit den sympathischen Kindern hier macht die Arbeit Spaß. Es ist ein gutes Gefühl, wenn sie durch meine Hilfe Fortschritte machen und Erfolgserlebnisse haben“, sagt er, während Osman die Karten mischt.

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