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Fossil eines Weltbildes

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Das Hauptschulgesetz des Jahres 1927 brachte uns die Hauptschule und mit ihr den 2. Klassenzug. Das war ein Novum in der Schulgeschichte Österreichs. Für diese Umgestaltung in unserem Bildungssystem waren keine pädagogischen Gründe maßgebend, denn niemand konnte behaupten, daß die Volks- und Bürgerschule ihre Aufgabe nicht erfüllt hätten oder nicht mehr erfüllen könnten. Das Neue kam aus einer anderen Richtung: aus der Kulturpolitik.

Als der Sozialismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch kultur- und schulpolitisch aktiv wurde, konstruierte er sich ein Bildungssystem, das seiner atomistisch-mechanistischen Weltanschauung adäquat sein sollte und ein geeignetes Instrument zur Umbildung der bestehenden Gesellschaft in eine sozialistische Gesellschaft der „Gleichen und Freien“ abgeben konnte. Das Resultat war die „Einheitsschule“. Sie ist, im Gegensatz zu dem aus unserer christlich-abendländischen Geisteshaltung entstandenen, nach persontypischen Prinzipien organisierten Schulsystem, vertikal in Gruppen zu je vier Jahresklassen geordnet (Grund-, Mittel- und, Oberschule) und horizontal nach Begabungen und Interessenrichtungen. Die Grundschule wird nicht differenziert. Sie war in Österreich im wesentlichen immer einheitlich organisiert und bedarf noch keiner Ausgliederung nach verschiedenen Bildungszielen. Die Mittelstufe (Einheitsmittelschule) sollte nach Begabungen differenziert werden (1. und 2. Klassenzug) und die Obermittelschule nach Interessenrichtungen. Dieses Einheitsschulsystem, das gar nicht so einheitlich ist, wie der Name glauben machen möchte, konnten ihre Verfechter in Österreich nicht verwirklichen, aber es gelang ihnen, den 2. Klassenzug im Schulgesetz von 1927 unterzubringen. Und dieser 2. Klassenzug ist sozusagen der Fuß, den sie in die Tür geklemmt haben, durch die sie die Einheitsschule doch noch in unser Bildungssystem einzuschleusen hoffen.

'VSmiüSk 30 Jahre mit Unterbrechung von 19.34 his 1945, besitzen wir nun die 2. Klassenzüge an den Hauptschulen, und die Diskussion um sie ist nicht verstummt. Das liegt daran, daß der 2. Klassenzug von allen Pädagogen, die das richtige Gespür für die Personalitätsstruktur unseres Schulwesens haben, als Fremdkörper in unserem Bildungssystem empfunden wird, ohne daß dieser Sachverhalt immer ganz klar formuliert werden kann. Darum sei festgestellt: Die Frage des 2. Klassenzuges ist primär eine Frage des Bildungssystems und erst sekundär eine Frage der Methode. Das soll heißen, daß nicht Schulmänner den 2. Klassenzug forderten, weil etwa ihr pädagogisches Gewissen diese Form der Schulorganisation verlangt hätte, sondern daß die Lehrer die Aufgabe erhielten, den ihnen von außen (siehe oben) durch schulfremde kulturpolitische Instanzen aufgezwungenen 2. Klassenzug methodisch für die Schüler fruchtbar zu gestalten. Vor dieser Aufgabe stehen wir heute noch.

Zunächst wurde zur Verteidigung des 2. Klassenzuges und zur Verhinderung seiner intellektuellen Diskriminierung der Versuch gemacht, den Niveauunterschied der beiden Klassenzüge in einen Begabungsunterschied umzudeuten. Die Verfechter der Einheitsschule stehen ja der Milieutheorie nahe, nach der der Mensch ein Produkt seiner Umwelt sei und auch seine geistige Entwicklung nur durch Milieuverhältnisse bedingt werde. Von da aus verstehen wir den Kampf gegen das „Bildungsprivileg“, gegen die „Buchschule“ und die Propaganda für eine Methode, bei der häusliches Lernen (und damit meinte man vor allem häusliches Lernen mit einem Nachhilfelehrer) belanglos sei und nur die Arbeit in der Schule zum Erfolg führe. Von dieser Grundlage aus erklärt sich uns jene unwissenschaftliche und widersprüchliche Diskussion, die von theoretischer und praktischer Intelligenz spricht, dem 1. Klassenzug die Schüler mit theoretischer Intelligenz zuordnet und dem 2. Klassenzug die Schüler mit praktischer Intelligenz, dabei ganz die Tatsache unterschlägt, daß theoretische und praktische Intelligenz ebenfalls Niveauunterschiede darstellen. Mit dieser ungeklärten Begriffslage will man die Unterordnung des 2. Klassenzuges in eine Nebenordnung umdeuten. Es mangelt hier im Namen einer falsch verstandenen und falsch begründeten Humanität am Willen zur Klarheit der Begriffe und der Verhältnisse. Wir meinen, daß die Hauptschuje auch in ihrem Organisationsprinzip den anderen Schultypen gleichgestellt sein soll, das heißt hier, sie soll in einem Bildungsniveau geführt werden. Dann gehört in die Hauptschule, wer hauptschulreif, das heißt fähig und willens ist, ihre Anforderungen zu erfüllen. Es muß eben zur Kenntnis genommen werden, daß mehr als die Milieueinflüsse die Erbanlagen und der Charakter des Menschen seine Leistungen bestimmen.

Wer nicht hauptschulreif ist, gehört in die Volksschuloberstufe. Sie hat mehr Möglichkeiten zur Förderung als die Hauptschule in ihren 2. Klassenzügen. In den 2. Klassenzügen der Hauptschule wird wie in den 1. Klassenzügen nach dem Fachlehrersystem unterrichtet, die Volksschuloberstufe hat Klassenlehrer. Das Fachlehrersystem stellt an die Schüler größere Anforderungen als das Klassenlehrersystem; der Fachlehrer verläßt nach der Unterrichtsstunde die Klasse, die nun durch die stets wechselnde Pausenaufsicht in ihrem Verhalten kontrolliert wird. In der nächsten Unterrichtsstunde betritt je nach dem Stundenplan eine andere Lehrkraft die Klasse. Eine andere Lehrkraft, das bedeutet: ein anderer Mensch, eine andere Persönlichkeit, eine andere Stimme, eine andere Art des Unterrichts; die Umstellung des Schülers von einer Lehrkraft auf eine andere verlangt mehr Konzentrationsvermögen, größere Anpassungsfähigkeit und geistige Beweglichkeit. Die Schwierigkeiten, mit denen die schwächeren Schüler hier zu kämpfen haben, setzen sich um in Disziplinschwierigkeiten und in Konzentrationsschwäche bei der schulischen Arbeit. Der Klassenlehrer der Volksschuloberstufe dagegen steht vom Anfang bis zum Ende des Unterrichts in seiner Klasse. Lehrer und Kinder lernen einander besser kennen, die Atmosphäre ist familien-hafter, die Gefühlslage gleichmäßiger, die Arbeitsweise kontinuierlicher. Der erzieherische Einfluß reicht tiefer und ist nachhaltiger. Schon diese gleichmäßige, ruhige erzieherische Situation wäre für unsere nicht hauptschulfähigen Großstadtkinder eine seelische Wohltat.

Die Volksschuloberstufe hat den weiteren Vorteil der Sachkonzentration. Der 2. Klassenzug der Hauptschule wird nach dem Hauptschul-lehrplan unterrichtet, wenn auch die Anforderungen etwas gesenkt werden. Dabei zeigt sich immer wieder, daß die Kinder des 2. Klassenzuges die Vielfalt des Gebotenen nicht bewältigen und im wesentlichen zuwenig in die Tiefe gehen. Der Stenographieunterricht zum Beispiel ist nach meinen jahrzehntelangen Erfahrungen für rund zwei Drittel der Schüler des 2. Klassenzuges verlorene Zeit, weil sie die Kurzschrift doch nicht erlernen. Diese Zeit würde durch eine Erweiterung des Stundenausmaßes für den Deutsch- und Rechenunterricht an der Volkschuloberstufe besser genützt. Ebenso unproduktiv für die Schüler des 2. Klassenzuges sind physikalische Berechnungen oder chemische Formelentwicklungen und andere Dinge. Der Blick ins praktische Leben zeigt, daß auch heute noch jeder aus der Pflichtschule Entlassene in erster Linie Lesen, Schreiben und Rechnen können muß in einem Ausmaß, das ihn zur Bewältigung seiner Lebensaufgabe tauglich macht. Für die Vermittlung dieses Grundwissens ist aber die Volksschuloberstufe geeigneter als der 2. Klassenzug einer Hauptschule: sie kann sich in den leistungtragenden Fächern wirklich konzentrieren und ihre Abgänger so weit bringen, daß die das in der Schule Gelernte auch tatsächlich beherrschen. In den Realien wird die Beschränkung auf die Anschauung und eine erste Einführung größeren Überblick geben, als eindringende Berechnungen und Formulierungen, die doch nicht haften bleiben. Zu diesen beiden Prinzipien der Person- und Sachkonzentration kommt noch ein psychologisch-personalistisches Moment: Wenn die Kinder in dieselbe Schule kommen und dieselben Lehrer haben, aber eingeteilt werden in die „Gescheiten“ (1. Klassenzug) und in die „Dummen“ oder „Förderungswürdigen“ (2. Klassenzug), dann schafft das Minderwertigkeitsgefühle. Ein Hauptschüler fühlt sich einem Mittelschüler gegenüber bestimmt nicht minderwertiger, denn er weiß, daß der Mittelschüler das höhere Studium anstrebt, während er als Hauptschüler ins praktische Leben eintreten wird. Der Hauptschüler kann auf manches verweisen, was der Untermittelschüler nicht hat (abgeschlossene Bildung, geometrisches Zeichnen, Handarbeiten usw.). Daß es Unterschiede gibt, liegt in der Natur unserer Welt und ist an sich noch kein Grund für Unterlegenheitsgefühle. Wenn aber zwischen zwei Klassen nur ein Niveauunterschied besteht und sonst kein Spezifikum vorhanden ist, dann wird der Schüler des 2. Klassenzuges schon durch diese Art der Schulorganisation auf seine Inferiorität hingewiesen. Die Schüler der Volksschuloberstufe hingegen können auf manches hingewiesen werden, was sie von den Hauptschülern des 2. Klassenzuges auch in positiver Weise unterscheidet und damit in ihnen Personwertgefühle fördert: die Vertiefung im Deutsch und Rechenunterricht, die Konzentration ihrer Arbeitsweise durch den Klassenlehrer, die Intensität der Anschauung.

Es soll schließlich nicht vergessen werden, auf ein soziales Moment hinzuweisen. In den dünn besiedelten Gebieten Österreichs ist es nicht jedem Schulkind möglich, in täglicher Fahrt eine Hauptschule zu erreichen. Es können heute nicht alle hauptschulfähigen Kinder eine Hauptschule besuchen und müssen deshalb mit einem Volksschulzeugnis die Schule verlassen. Da bedeutet es eine Ungerechtigkeit, wenn Kinder, die in der Nähe einer Hauptschule wohnen, ein Hauptschulzeugnis, wenn auch nur über den 2. Klassenzug, bekommen, während schulfern wohnende, aber hauptschulfähige Kinder mit einem Volksschulzeugnis vorliebnehmen müssen, obwohl sie von der Volksschuloberstufe mehr für ihr künftiges Leben mitbekommen als ein Abgänger eines 2. Klassenzuges.

Das Ziel der Hauptschule ist, den Schülern eine über die Volksschule hinausgehende, abschließende Bildung zu vermitteln. Niemand kann behaupten, daß die Abgänger der 2. Klassenzüge einer Hauptschule tatsächlich eine über die Volksschule hinausgehende, abgeschlossene Bildung mitbekommen. Es wäre Zeit, sich zu besinnen und mit dieser doppelten pädagogischen Moral aufzuräumen. Klarheit in der Organisation, Wahrheit in der Deklaration sollten Grundsätze unserer Schulverfassung sein.

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