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Wiederum die Matura…

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Jene alte österreichische Mittelschule, die jetzt in Frage gestellt wird, erfreut sich trotzdem eines nicht geringen Zulaufs, erfreut sich einer nur zu großen Popularität.

Die Eltern aller Berufs- und Beschäftigungsarten schicken ihre Kinder, wenn es irgendwie geht, das heißt wenn die Kinder sich nur einigermaßen dazu eignen, in eine Mittelschule.

Das ist die Regel wenigstens in den Städten.

Die Mittelschule bedeutet für die meisten nur die nicht zu umgehende Möglichkeit beruflichen Aufstiegs in jene mittleren und höheren Beamtenkategorien oder zu den akademischen Berufen. Sie ist geradezu eine Art Luftsog nach aufwärts, in dem man nur eingeschoben zu werden braucht, um mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit „oben“, an der „Oberfläche", aufzutauchen, in jene Gesellschaftsschichte gehoben zu werden, die so allgemein erstrebt wird.

„Mein Bub soll es besser haben als ich": oft genug erklärt der Arbeiter damit dem Direktor die Anmeldung seines Sohnes zur

Aufnahmsprüfung. Und: „Soll es der meine schlechter haben als ich?", wird sich jeder Beamte, jeder Arzt, jeder Ingenieur (oder technische Doktor) denken. Ähnliche Gründe gelten für das Studium der Töchter. Bei ihnen kommt außerdem noch die Besserung der Heiratsaussichten in Rechnung.

Dieses „Besser haben", worin besteht es aber zumeist?

Außer den wenigen, die großen Erfolg haben durch ihre wissenschaftlichen und technischen Leistungen und durch ihre Geschäftstüchtigkeit (in Verbindung mit den Leistungen oder auch ohne sie), landen die Maturanten der Mittelschulen und selbst die Absolventen der Hochschulen meistens auf sehr bescheidenen Posten und fristen mit ihren Familien (oder auch als „behaglichere" Junggesellen) ihr kleines Dasein bis in ihr Alter von einem kümmerlichen Gehalt. Daß sie dieses Leben doch der Tätigkeit in praktischen Berufen: als Arbeiter, Werkmeister, Baumeister, im Gewerbe, im Handel vorziehen (sosehr sie darüber schimpfen), ist erklärlich, zum Teil aus Standesvorurteilen, die ihre materielle Basis längst verloren haben, zum Teil aus dem noch immer geltenden Vorurteil zugunsten des Schreibtisches gegenüber dem Werktisch, zugunsten der Arbeit mit der Feder gegenüber der Arbeit mit der Faust (wobei mehr geistige Arbeit zumeist auf Seite der Faust, des Werktisches, der praktischen Berufe geleistet wird), im Zusammenhang damit aus einer in unseren Landen sehr allgemeinen

Bequemlichkeit und Arbeitsscheu, teilweise freilich wohl auch aus dem Bedürfnis einer gepflegteren Geistigkeit, und wäre es nur eines geistigeren Umgangstones dessen, was man in der Gesellschaft (nicht unter den Pädagogen) Bildung nennt.

Aber gebildete Geselligkeit und gute Lebenssitte, wenn auch nicht raffinierte (auch in gutem Sinn verfeinerte Geistigkeit), gibt es atff allen Stufen der Vorbildung, herab bis zur bescheidensten, auch in den praktischen Berufen, auch beim Fabriksarbeiter — es kann sie wenigstens überall geben. So viel da an alter Volkskultur vielfach zugrunde gegangen ist, es hat sich doch manches erhalten und manches Neue gebildet. Und es hält sich gute Lebenssitte, gute seelische Kultur oft trotz großen inneren und äußeren Schwierigkeiten, trotz Hohn und Selbstpreisgabe ringsum.

Es wäre auch fatal, wenn das Streben nach gepflegteren Lebensformen nur durch jenen Aufstieg im Sog der Mittelschule zu befriedigen wäre. Es werden dadurch dem praktischen Leben, den eigentlich produk-

tiven Berufen, zuviel und gerade oft recht brauchbare Kräfte entzogen. Es sammeln sich zu viele, gerade nicht immer wirklich geeignete Kräfte als hungernde Bewerber um die Beamtenposten und die akademischen Berufsgelegenheiten.

Und der Zweck der Mittelschule ist damit verfehlt. Daß tatsächlich die Mittelschule nicht im richtigen Sinn gewertet, nicht im richtigen Sinn durchlaufen wird, ist der wahre Grund dafür, daß es mit ihr zur Zeit nicht gerade gut steht.

Die Mittelschule soll keine Berufsschule sein, sondern eine einigermaßen in sich geschlossene, höhere allgemeine Bildung gebende Schule, mit der man sich dann, nach der Reifeprüfung, erst einer besonderen Berufsausbildung zuwenden könne. Diese besonderen Berufe aber sind die akademischen Berufe. Es ist schon falsch, entspricht auch nicht mehr unseren Zeitverhältnissen, daß für Post- oder Eisenbahnstellen und ähnlichen noch in so weitem Ausmaß die Reifeprüfung Zulassung'Bedingung ist. Das Berechtigungswesen für das staatliche Beamtentum bedürfte einer gründlichen Revision.

Es scheint auch eine Wandlung im Zuge zu sein — für die staatliche Beamtenordnung freilich wohl erst im Keime.

Das Fachschulwesen hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr rasch entfaltet. Es ist in einer schon reichen Mannigfaltigkeit neben die Oberstufe der Mittelschulen getreten, und diese Fachschulen werden sicher viele von den Jugendlichen aus den Hauptschulen und aus der Unterstufe der Mittelschulen an sich ziehen, die sonst sich unter allen Umständen durch die oberen Klassen der Mittelschulen gezwängt hätten.

Sp werden die Gymnasien, Realschulen, Realgymnasien entlastet und ihrer eigenen Aufgabe wieder zugeführt werden können. Und es ist höchste Zeit dazu. Die Mittelschulen werden ihrer Aufgabe nur gerecht, wenn sie von der ersten Klasse bis Zur .achten an die Schüler die entsprechenden Anforderungen stellen und alle Ungeeigneten ausscheiden. Es ist nicht wahr (und wird auch jetzt nirgends mehr recht behauptet, ist aber behauptet worden — ich habe es selbst gehört), daß alle Menschen und alle Kinder gleich begabt und gleich geneigt wären, zu einer doch vorwiegend intellektuellen, große Abstraktionsbereitschaft fordernden Geistesarbeit, wie sie derjenige leisten muß, der dann den Anforderungen der Wissenschaft und Technik, des Geistes und der sozialen Ordnung der Gegenwart gewachsen sein soll. Es gibt sehr viele Menschen, die diese Fähigkeit und Neigung nicht in sich haben, und darunter sehr wertvolle, praktisch oder auch künstlerisch begabte.

Die Mittelschule muß in diesem Sinn wieder mit einer gewissen Unerbittlichkeit Auslese üben. Die vielen Berufsschulen (Fachschulen), die jetzt bereitstehen, können wohl außerdem noch die Aufgabe übernehmen — und schicken sich auch an dazu: jene „Bildung“ zu vermitteln, es gibt ja sehr viele Stufen, die für eine der Geistigkeit der Menschen entsprechende kulturell gepflegte Geselligkeit erforderlich ilt. Und es ist nur gut, wenn auch manche von jenen intellektuell begabteren Jugendlichen, die für die Mittelschule sehr wohl oder sogar in besonderem Maß geeignet wären, den Weg einer der Berufsschulen einschlagen. So bleiben auch den praktischen Berufen geistig überlegene, führende Köpfe erhalten, zukünftige Unternehmer, Wirtschaftsberater, auch Ministerialbeamte und Minister.

Es sollte wohl auch mit den geplanten Verwaltungsakademien, Beamtenberufsschulen in weiterem Umfang, ernster gemacht werden, als es schon geschieht (zum Beispiel in Polizei-, Bahndienstschulen und dergleichen). Und es sollte bei der geförderten Überprüfung des Berechtigungswesens die Möglichkeit des Übertrittes in solche Beamtenschulen von der vierten oder sechsten Mittelschulklasse geschaffen werden.

Dann würden jenem Sog durch die Mittelschule, hinauf bis zur Matura, die nötigen Siebe entgegehstehen. Und es würden auch die erforderlichen Ableitungskänäle mit ihrem Sog offenstehen. Es würde sich der Auftrieb verbreitern über alle höheren Berufsschulen, und die so Hinauf- getrageneri, Hinaufgestiegenen, wirklich Ausgebildeten wäret! von vornherein besser verteilt auf alle die Funktionen, die im Gesellschaftsorganismus mit geeigneten Kräften besetzt sein wollen.

Die Mittelschulen aber könnten die für ihre Art der Ausbildung Geeigneten dann auch tatsächlich richtig ausbilden.

Jetzt ist es doch so, daß in jeder Klasse ein Drittel ungefähr den Anforderungen „eigentlich" nicht entspricht (den Anforderungen an Leistungen, an Interesse und Arbeitswillen). Dieses Drittel wird aber doch „mitgeschleppt“. Gründe dafür gibt es immer wieder, soziale Rücksichten den Eltern gegenüber (eine Zeitlang spielte auch der „Beschäftigungsausweis“ eine Rolle) oder auch berufspolitische Interessen der Mittelschullehrer selbst. (Wird eine Klasse gestrichen, verlieren vielleicht zwei bis drei Lehrkräfte ihren Posten — und es warten so viele auf Anstellung.) Die Wirkung dieser Rücksichten aber ist, daß in der Klasse für die eigentlich nicht Geeigneten die meiste Mühe und die meiste Zeit des Unterrichts verwendet werden muß, und daß die wirklich Leistungsfähigen und -willigen zu wenig angeregt, zu wenig beschäftigt, zu wenig herangezogen werden können. Sie bleiben geistig unterernährt.

Sie langweilen sich, sie verlieren die Lust. Sie haben ein zu bequemes Dasein — Jahre hindurch, in den Jahren der größten Entfaltung ihrer seelischen Kräfte, der größten geistigen Aufnahmsfähigkeit. Sie verlieren das richtige Arbeiten. Oder erlernen es überhaupt nicht. Und es versagen nachher solche begabte Schüler, denen die guten Noten Selbstverständlichkeit geworden sind — sie haben ihnen ja keinerlei Anstrengung gekostet —, gerade auf der Universität, auf der Technik, ' wo plötzlich ernste Arbeit von ihnen verlangt wird. (Ich kenne einige solche Fälle.)

Diese herabgesetzte Unterrichtsweise wirkt allgemein demoralisierend. Die Nachgiebigkeit der Lehrkräfte wird auch von den weniger Begabten, den Arbeitsunwilligen insbesondere, ausgenützt. Und das Bildungsniveau sinkt in jeder Klasse und damit auch für den Abschluß des Studiums: bei der Matura. Damit sinkt aber auch der Wert des Mittelschulstudiums selbst und die Achtung vor der Mittelschule. — Diese am meisten gerade bei jenen Schülern, die alle Nachsicht der Lehrkräfte am unverschämtesten ausgenützt haben. Es gibt Schüler, die zu einer Zeit, da andere junge Leute schon ehrliche Arbeit leisten müssen und leisten, Monate und Jahre verbummeln, mit einigem Schwindel und einiger Scheinarbeit doch immer wieder „durchkommen“ und schließlich auch durch die sehr weiten Maschen der Reifeprüfung schlüpfen; dann aber stehen sie, mit robustem Gewissen, das Reifeprüfungszeugnis in der Hand, anspruchsvoll und auch gleichberechtigt neben so vielen anderen, die wirklich etwas geleistet, sich wirklich ein sehenswertes Wissen und Können erworben haben.

Man könnte nun sagen: „Um diesem Übelstand abzuhelfen, was gibt es Einfacheres, als eben die Mittelschulen, die alten Gymnasien, Realschulen, Realgymnasien aufzulassen? Errichten wir eben jene allgemeinen oder Einheitsmittelschulen im Rahmen der schon bestehenden Hauptschulen für die gesamte Jugend zwischen 10 und 14 Jahren! Dann ist kein Unterschied zwischen den Schülern dieser Altersstufe, und die Entscheidung nach dem vierzehnten Jahr wird sicher nicht so einseitig zugunsten der höheren Schulen fallen (die der Oberstufe unserer Mittelschulen entsprechen würden). Es würden sich die verschiedenen Interessenrichtungen schon mehr herausgestellt haben, und es würden so auch die übrigen höheren Schulen (der Altersstufe von 15 bis 18 Jahren): die höheren Berufsschulen von vornherein den entsprechenden Zulauf haben.“

Das klingt nicht übel. Aber es ist eben doch einzuwenden, immer wieder einzuwenden, daß damit der richtige geistige Unterbau für die gekappten Oberstufen der jetzigen Gymnasien, Realschulen, Realgymnasien zerstört wäre. Es würden dann

1 In dem vorausgegangenen Artikel „Um die Einheit unserer Mittelsdiule" („Die Furche" vom 18. September 1948) ist ein Druck- oder Schreibfehler unterlaufen: au( Seite 4 unten sollte es heißen: „die Vertikale der alten Mittelschule" (nicht: „der Hauptschule“).

auch gerade in den neuen „Mittelschulen“, das heißt den verallgemeinerten Hauptschulen, die besonders Begabten und für das höhere Studium Geeigneten geistig unterernährt bleiben. Und das in sehr ausschlaggebenden Jahren der Entwicklung. Die große Masse der Mitschüler hätte ja weder die Fähigkeit noch die Lust noch auch die Bestimmung zu intensiverer Geistesarbeit, zur Übung in abstrakterem Denken. Es wäre denn, daß man schon auf dieser Stufe entsprechend „differenzierte“, das heißt etwa drei Klassenzüge nebeneinander führte mit immer höheren Anforderungen: die schon bestehenden zwei Klassenzüge der (städtischen) Hauptschulen und noch einen dritten, der das Niveau der Unterstufe unserer Mittelschulen hielte. Das aber würde organisatorisch kaum je durchführbar sein und käme schließlich auf die Aussonderung einer „Examensschule“ (wie sie in Dänemark besteht) und damit einer Art neuer Eliteschule hinaus. Es würde auf Umwegen das wieder hergestellt, was man abgeschafft hätte: ein Unterbau speziell für die Oberstufen der alten Mittelschulen, wie wir ihn als Unterstufe in den ersten vier Klassen dieser Mittelschulen schon haben, und zwar in der wünschenswerten lehrplan- und lehrkraftmäßigen Einheit mit ihnen.

Es hätte wenig Sinn, die vertikale Geschlossenheit der bestehenden Mittelschulen zu stören, um sie dann unter weit weniger günstigen Umständen wieder zu suchen.

Viel mehr für sich hat die andere Regelung, die sich bei einer richtigen Beurteilung der Leistungen und Fähigkeiten und Neigungen der Mittelschüler von selbst ergeben muß. Wird die Auslese in sinnvoller Weise (gescheit, natürlich, nicht borniert) durchgeführt, dann werden die höheren Klassen von selbst immer weniger Schüler aufweisen. — Die Basis der ersten Zulassung zum Mittelschulstudium (wir bleiben bei dem Wort „Studium“) wird noch verhältnismäßig breit sein müssen, die Aufnahms

Prüfungen in die erste Klasse werden nicht viel strenger sein können als bisher. Dann aber werden die Anforderungen von Klasse zu Klasse steigen. Die Auslese kann auch immer sicherer durchgeführt werden. (Gewisse Möglichkeiten, soweit die Verschiedenartigkeit der seelischen Entwicklung in Frage kommt, müssen auf jeden Fall offenbleiben.) Die meisten Schulen werden sich, der Schülerzahl nach, pyramidenförmig aufbauen, es wird dort, wo auf der Unterstufe zwei, vielleicht drei Klassen parallel geführt wurden, auf der Oberstufe nur eine Klasse bestehen, die ihrerseits bis zur Reifeprüfung auch noch ällmählich kleiner wird.

Auf diese Weise würde der Wert der „Matura“ (wir behalten neben der offiziellen und richtigen Bezeichnung „Reifeprüfung“ dieses etwas sonderbare Wort mit Humor bei, das sich offenbar die Studenten selbst ge bildet haben — sprachlich einwenden ließe sich ja auch einiges gegen das Wort »Abitur"), würde der Wert der „Hochschulreife' wieder steigen, ihr innerer Wert wie ihr Ansehen. Und trotzdem würde das ängstliche und doch so bequeme, alle rechtzeitige Vorsorge hinausschiebende Wort: „Wenn er (der Sohn) nur einmal die Matura hat…“, nicht mehr so allgemein sein. Man wird schon früher zusehen, was für den Buben (oder das Mädel) das Gescheitere, das Gemäßere sei. Es werden einige der Motive nicht mehr gelten, die früher die Reifeprüfung so ausschließlich begehrenswert machten. Es wird mit der Güte der höheren Berufsschulen auch der Wert und das Ansehen der praktischen Berufe steigen. Und gerade hier täte in weiten Kreisen, nicht zuletzt in der Arbeiterschaft selbst, ein gründlicher Gesinnungswandel not.

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