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Die Gefahr der provisorischen Lehrpläne

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Eine kritische Stellungnahme zu den provisorischen Lehrplänen für Mittelschulen 1946 muß damit beginnen, daß im Gegensatz zu allen bisherigen Lehrplänen, die sich auf allgemeine, zielgebende Richtlinien aufbauten, die Lehrpläne 1946 in den leeren Raum gestellt sind. Bezeichnend für die ganze Arbeit ist doch der Umstand, daß zuerst sogar nur Stundentafeln herauskamen, ohne jede Erläuterung über Stoffverteilung auf die einzelnen Klassen. Man hat also die Lehrerschaft auf eigene Gefahr experimentieren lassen, obwohl nach Kriegsende und nach der notwendigen Säuberung sehr viele jungif mit dem österreichischen Schulwesen nicht vertraute Kollegen in den Dienst traten. Nach Jahr und Tag kamen die provisorischen Lehrpläne, die eine bloße Stoffansammlung sind, ohne eine Spur von Konzentration, ohne jeden Hinweis auf die Zielsetzung des Unterrichts, die doch für die Darbietung der einzelnen Stoffe maßgebeftd ist, und ohne jeden Versuch einer Ver.anke- rung an ethischen Werten, foe brennende Frage, wie die Schule ihrer Aufgabe als B i 1 d u n g s- und Erziehungsanstalt gerecht werden soll, ist außer acht gelassen. Natürlich mußte sich eine Überfüllunig mit Wissensstoff ergeben. Die längst gesicherte Erkenntnis, daß mehr als fünf tägliche Unterrichtsstunden zu 50 Minuten der Jugend nicht zugemutet werden könne , ist vernachlässigt, ja, es sind in der Stundentafel geradezu Täuschungsmanöver vorgenommen worden, um für den ersten Blick die Überlastung der Schüler zu verschleiern. So ist die Leibeserziehung einmal eingerechnet, dann wieder steht schamhaft in einer Fußnote zu der einen (!) offiziellen Turnstunde: „Hiezu ein zweistündiger Frei- luftnachmittag", wodurch natürlich die Gesamtzahl der Unterrichtsstunden der Klasse ansteigt. Es wurde eine Fremdsprache als relativ obligat erklärt, nur damit man sie nicht mitzuzählen braucht, während man andererseits die Lehrer auffordert, dafür zu sorgen, daß alle Schüler diesen Unterricht besuchen, weil ja die moderne Sprache nützlich ist. Man ’wollte anscheinend auch niemandem wehe tun und so hat man, in jeder- Klasse jedem Gegenstand seine zwei Stunden eingeräumt und auch damit längst gewonnene Erkenntnisse der Pädagogik über den Haufen geworfen. Es gibt kaum mehr tragende Fächer, cfie jungen Menschen werden aus einer Stoffwelt in die andere geworfen, und nirgends bleibt die Zeit, die für die wahre Bildung unerläßlich ist. Bildung braucht Ruhe. Ein Lehrer, der ein zweistündiges Fach, noch dazu bei einer solchen Stoffanhäufung, vorträgt, ist Wissenschaftler, nicht Erzieher. Daran ändert, die Tatsache nichts, daß gelegentliche Bemerkungen zu einzelnen Fächern in gutgemeinter, aber an der Psyche des Schülers glatt vqrübergehender Weise dartun, es werde ein besonders schönes Erlebnis sein, wenn zum Beispiel im philosophischen Einführungsunterricht der Philo- sophielehrer sich die einzelnen Fachlehrer zu Vorträgen über die Grenzgebiete Hirer Disr ziplinen einlädt. Wenn nun die Lehrer gleiche Grundeinstellüng haben, werden die Schüler von ihrer Richtigkeit um so mehr überzeugt sein, wenn nicht, würden sich äußerst fruchtbare Diskussionen ergeben. Wir sind nicht der Meinung. Abgesehen von der „Hetz“, die es dabei gibt, wenn ein Lehrer gegen den anderen Stellung nimmt, führt ein solches Verfahren entweder zum Skeptizismus: „Wer weiß, ob es eine Wahrheit gibt?“ oder, zu einem Eklektizismus — von jedem ein bißchen. Außerdem wird von jungen, noch nicht reifen Menschen die Art der Darstellung,

Temperament und Wortwahl und nicht die sachliche Richtigkeit den Ausschlag geben. Und um selbst einzugreifen, dazu fehlt doch der Jugend die Vorbildung und auch der Horizont und die Lebenserfahrung.

Und wenn in manchen Fächern ein buntes Gemisch von Angaben sich findet, unter dem der Lehrfr die Auswahl erst treffen soll, so in der „Unterrichtssprache“, darf es einem doch nidit wundern, wenn wieder die kritische Stimme laut wird: „Wonach die Auslese? Welches Ziel soll ich erreichen?“ Daß unter den als Beispielen angeführten Werken solche genannt sind, die mari seinerzeit mit Recht als Kitsch, sogar auch als Schmutz und Schund bezeichnet hat, sei hier nur nebenbei bemerkt. Es darf angenommen werden, daß der Gesamtredaktor der provisorischen Lehrpläne sidi auf die Empfehlung einer Persönlichkeit verlassen hat, die den Begriff der Sauberkeit in der Literatur nicht kennt, nur den des krassesten Realismus. Ein Novum ist es auch, wenn der Lehrplan der Mathematik zugibt, daß man mit dem vorgesehenen Lehrstoff in einer Klasse ohnedies nicht fertig werden kann und daher in den Bemerkungen die Beendigung des Pensums in der, höheren Klasse voraussieht. Ist das nodi'ein Lehrplan?

Erstaunlich ist, daß ein Werk, das unter Ernst Fischer als erstem Staatssekretär für Unterricht des befreiten Österreichs in Angriff genommen wurde und aus der von ihm eingarichteten schulwissensdiaftlichen Abteilung des Unterrichtsministeriums liervor- gegangen ist, in so auffallender Weise alle Erkenntnisse der wissenschaftlichen und praktischen Pädagogik verleugnet, also wirklich als rückschrittlich angesprodien werden muß, während Fischers Partei und seine Freunde sich doch sonst dem „Fortschritte“ verschrieben haben. Zu bedauern ist, daß die fast vollendeten drei Jahre seit der Befreiung noch nicht diesen Schutt weggeräumt haben, daß nicht auch die schulwissenschaft- liche Abteilung selbst ihr Werk als unhaltbar erkannt und es zurückgezogen hat. Hat sich dort noch nicht herumgesprochen, daß in allen Bundesländern zu einer Zeit, wo sie untereinander und .mit der Wiener Zentrale nicht in Verbindung treten konnten, weil es noch keine Post gab, wie auf Verabredung die österreichischen demokratischen Lehrpläne von 1928, beziehungsweise 1935 wieder eingeführt wurden, mit kleinen Abweichungen, die die besonderen Erfahrungen der letzten Vergangenheit berücksichtigten? Das war keine Verabredung, sondern ein Ergebnis ruhiger, sachlicher Überlegung, ' und das hat allenthalben zur Aufnahme guter, österreichischer Sdiukradition geführt — überall, nur nicht in der Wiener Zentrale. Hier wollte man in der schulwissensdiaftlichen Abteilung eigene Wege gehen, Wege, die nur Zu deutlich in Erinnerungen an die Jahre um 1920 steckenbleiben, die spätere Entwicklung, fast ein Vierteljahrhundert, vernachlässigen, das Rad der Geschichte zurückdrehen und noch einmal das Heil in einer Fehlkonstruktion suchen, die nach mißglückten Versuchen schon im Jahre 1927 durch einen einhelligen Beschluß des damaligen Nationalrates, also der Ghristlichsozialen, der Sozialdemokraten und der kleinen Parteien, beendet wurde, der am 2. August den neuen Schulgesetzen die Sanktion gab.

Länger kann es nicht mehr verborgen bleiben, daß die provisorischen Lehrpläne Schrittmacher der Einheitsschule sein wollen, und so muß sich alle Kritik an den provisorischen Lehrplänen §pgen den Einheitssdiulgedanken wenden als gegen das Proton Pseudos.

Wer wie der Verfasser dieses die Schuil- versuche von 1919 bis 1926 aus eigener Anschauung kennt, braucht sich nicht erst von den Kollegen der Hauptschule sagen zu lassen, daß die Einheitsschule jeder Erfahrung Hohn spricht. Der Hauptschulkollege führt heute wie damals darüber, daß von ihm verlangt wird, er solle seine Schüler mittelschulreif machen, wieder Klage, denn er weiß nur zu gut, daß der ihm anvertraute Durchschnitt eine ganz andere Behandlung brauäit und im Hinblick auf die Lebensanforderungen, denen er entgegengeht, ganz anders belehrt werden muß. Und der Mittelschullehrer weiß, daß von den wenigen Hauptschülern, die von der Übertrittsmöglichkeit Gebrauch machen, die meisten mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen haben, die nicht in einem Mangel der Begabung liegen müssen, sondern darin, daß sie einen weiten und steilen Weg zurückzulegen haben, ehe sie den anders vorgebildeten Mitschülern nachkommen können. Wozu also immer noch der Ruf nach der Einheitsschule? Wozu künsteln die prnvisori- sdien Lehrpläne an der Stundentafel herum, um ja die völlige Angleichung an die Hauptschule herauszubringen? Wozu soll die Hauptschule womöglich zwei Fremdsprachen, darunter Latein, tradieren?

Das alte Schlagwort vom Bildungsprivileg der „Besitzenden“ ist längst durch die Tatsachen widerlegt. Man lese nur die Erörterungen Professor Petschls im Jahrgang 1947 der „Furche“ nach! Es ist längst eine Binsenwahrheit, daß seit langem schon jedes begabte Kind, wenn ein ernstlicher Wille vorhanden ist, studieren kann, ganz gleidi, welchen Rock der Vater trägt. Man könnte also wirklich verwundert sein, mit welcher Hartnäckigkeit gewiße Kreise immer noch für die Einheits- sdiule schwärmen. Da hat kürzlich ein von Hofrat Furtmüiler in der Nummer IX-X, 1947, von „Erziehung und Unterricht" veröffentlichter Aufsatz schlagartig eine bisher anscheinend doch wohl mehr verstedet- gehaltene Argumentation beleuchtet. Furt- müller, dtr die Jahre des Nationalsozialismus in der Fremde zugebracht hat, spricht vom Schulwesen des Westens und stellt es an sich richtig dar, verbirgt jedoch sorgfältig die Tatsache, daß man dort heute die Einheitsschule ablehnt, daß die letzten Reformen bewußt von der Einheitsschule abrücken, weil sie den ungeheuren, nicht wieder aufzuholenden Zeitverlust erkennen, den die wirklich Begabten durch die Einheitsschule erleiden. Er verbirgt auch, daß der ganze Westen eine grundsätzlich ganz andere Auffassung von Bildung hat, der er seine Schule eben anpaßt, während unsere Wege andere sind. Dort wird vor allem eilt gewisses Ebenmaß von Bildung und Wissen erstrebt und durch das College vermittelt. Bei uns trachtet man, höhere Bildungsziele zu erreichen, soweit es nur irgend möglich ist — das entspricht der Zentralstellung Österreichs im Herzen Europas, das entspricht seiner Sendung als Träger der abendländischen Kultur, das ist einer der Aktivposten in unserem sonst armen Lande. Wir können uns nicht den Luxus vergeudeter Zeit leisten. Dazu pädagogische Unterschiede! Wir haben nicht die Möglichkeit, die Kinder in ganz kleinen Gruppen zu fünf und zehn zu unterrichten, wie es vielfach im Westen der Fall ist. Beim Unterricht in diesen kleinen Gruppen kann natürlich ein Tempo erreicht werden, das einigermaßen gutmadit, was früher durch das Mitge- Schlepptwerden in der Einheitsklasse versäumt wurde.

Nicht diese Erwägungen sind es aber, sondern eine neue Formulierung des Begriffs

Bildungsprivileg ist es, die Furtmüiler verrät. Nach ihm ist nämlich Bildungsprivileg nicht ein Privileg auf Bildung, sondern ein Privileg der Bildung, der Begabung. Ohne es direkt auszusprechen — dazu ist er wohl zu klug —, läßt er erkennen, daß er und seine Freunde die Einheitsschule deswegen wollen, damit nicht die Begabten etwas vor den weniger Begabten voraushaben sol.en. Er meint, daß man den Vorsprung, den der von der Natur Begnadete ohnedies schon hat, nicht noch durch die Ausbildung dieser Fähigkeiten vergrößern solle, und wünscht also, daß der Begabte so lange warten und leerlaufen soll, bis ihn der weniger Begabte eingeholt hat. Nun fehlt noch, daß Furtmüllers Freunde den bildenden Künstlern verbieten, schöpferisch tätig zu sein, weil die än deren Menschen ihnen darin nicht folgen können, und daß der zünftige Bergsteiger nidit klettern darf, weil die vielen anderen auch nicht klettern.

Ist man sidi einmal darüber klar, daß die_ provisorischen Lehrpläne auf den völligen Zusammenschluß der Untermittelschule und der Hauptschule abzielen, erscheint es nicht mehr wunderbar, daß Stundentafel und Lehrstoffverteilung so verkrampft sind Zweifellos ließe sich bei richtiger Trennung von Haupt. und'Mittelschule auf der Unterstufe der Mittelschule vieles sinnvoller gestalten, aber auch die Hauptschule würde ihrer Fesseln ledig werden. Die Jahre vor Beendigung der eigentlichen Schulpflicht könnten für das fähige Kind besser zu grundsätzlicher geistiger und moralischer Er ziehungsarbeit ausgenützt werden, so daß spater die Gegenstände, deren Stoffe einen höheren Grad von Eir icht in die Zusammenhänge brauchen, leichter unterzubringen wären. Vor allem könnten die Fächer, deren Betrieb der jugendlichen Psyche vor der Pubertät leichter fällt, auch schon zu dieser Zeit einsetzen. Eines müssen die endgültigen Lehrpläne, die hoffentlich in nicht allzu ferner Zeit in ganz Österreich einheitlich und stufenweise ein,geführt werden, ganz besonders beachten, daß die Buntheit der Stundentafel verschwindet, die „Zwergfächer", wie sie wegen ihrer geringen wöchentlichen Stundenzahl genannt zu werden verdienen. Wir wollen eine Mittelschule, die Auslese schule ist, mit einer fließenden Auslese während der ganzen Jahre, eine Mittelschule, die in ihrer Zielstellung den Bedürfnissen Österreichs in seiner Stellung als Hüter der abendländischen Kultur gerecht wird, eine ungeteilte Mittelschule, die lanzstätte wahrer Bildung ist, die in aller Ruhe die Elemente einer Weltordnung und damit einer Weltanschauung aufbauen hilft.

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