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Schule und Berufswahl

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Das reiche Maß an Alltagssorgen, das uns allen heute zugemessen ist, greift auch schon in eine Altersstufe hinein, der es eigentlich noch erspart bleiben sollte. In welcher, man möchte fast sagen Behaglichkeit, ist die Generation vor uns noch ihrem Schulstudium nachgegangen, ihre „Sorgen“ bestanden vielleicht in höheren Anforderungen nach Fleiß- und Gedächtnisarbeit“, dafür lagen vor ihr noch zahllose Möglichkeiten in der Berufsgestaltung und vor allem zwischen dem Studienabschluß und dem Beginn der Universitätszeit, jenes herrliche Vakuum eines „Dolce far niente“, voller Erleichterung im Blick auf die über-standene Matura, voller Erwartungen auf die Geheimnisse von Kolleg und Couleur. Heute aber ist der Not des totalen Krieges die Not der totalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Erschütterung gefolgt, in die eine Generation hineingewachsen, die weit über ihr Alter ernst geworden ist und darum auch der Frage der Berufswahl mit einer gewissen Nüchternheit gegenübersteht, wie sie der früheren Jugend fremd war. Im folgenden soll kurz gezeigt werden, wie aus der Praxis des Schullebens diese Frage beantwortet wird, sie wurde nicht an Hand von Statistiken gestellt — die Jugend hat eine gesunde Abneigung gegen die Sturmflut von Formularen, von der auch sie sich sdion belästigt sieht —, sondern die Frage wurde innerhalb des Deutschunterrichtes durch die Behandlung von Aufsatzthemen erörtert.

Vielleicht, daß die Realschule, an der diese Umfrage geschah, gerade in unserer Notzeit den gegebenen Schultyp darstellt, sosehr auch der Verfasser als überzeugter Humanist einen Abbau des Gymnasiums, der übrigens ein Erbe nationalsozialistischer Tendenz wäre, bedauert. Denn hier erfolgt bereits nach dem vierten Jahr ''— notwendige Zäsur, in der sich die Vu. zehnjährigen für die Vorbereitung auf einen mehr praktischen Beruf entscheid m können. Es sind doch schon kleine individuelle Ansätze, aus denen sich der eine einer Gewerbe- oder Wirtschaftsschule zuwendet oder der Lehrerbildungsanstalt, wobei natürlich in dieser Altersstufe der Einfluß des Elternhauses eine wesentliche Rolle spielt. Aber immerhin, die meisten dieser Vierzehn- bis Fünfzehnjährigen zeigten schon eine ziemliche Sicherheit, als sie das Thema behandelten, behandeln durften: „Was ich einmal werden möchte.“ Daß bei Realsdiülern die Erstrebung technischer Berufe vorherrscht, ist naheliegend, doch weisen einige auch auf die Möglichkeit der Wahl eines freien Berufes hin, während der Staatsdienst nur für Wenige als etwas Verlockendes erscheint. Aus diesen kleinen, schlichten Arbeiten spricht oft ganz persönliches Erleben, eine so notwendige Ergänzung zum leider oft unvermeidbaren Schematismus des Schultages, den doch jeder echte Lehrer als solchen empfinden wird, wenn er nicht nur „Schulbeamter“ ist, sondern zum Herzen dieser „seiner Kinder“ vorzustoßen sucht. Und gerade die Scheu der Entwicklungsjahre läßt nur selten ein persönliches Wort über die schmalen Lippen dieser Buben kommen; man sieht giur ihre Augen leuchten, wenn sie spüren, daß man ihnen nicht nur in irgendeinem Fach die Hand führen will, sondern auch bereit ist, ihnen für die unmittelbaren Fragen des Lebens die Hand zu reichen. Die einfache Beantwortung der Berufsfrage im Sinne des väterlichen Vorbilds ist heute kaum mehr gegeben, nur 18 Prozent dieser Arbeiten leiteten ihre Berufspläne aus dieser mehr traditionsgebundenen Haltung ab. Diese wird ja heute vielfach durch höhere Gewalt ausgeschaltet, so etwa der Offiziersberuf, den 35 Prozent der kleinen Schreiber vor vier Jahren noch ergreifen wollten.

Noch interessanter gestaltete sich diese Umfrage in einer 7. Realschulklasse, :n der das Thema: „Die Grundsätze meiner Berufswahl“ lautete. Vorausgeschickt sei, daß es sich gegenwärtig bei einer Klasse, die bloß ein Jahr von der Matura trennt, nur in ganz wenigen Fällen um Siebzehnjährige handelt. Der Klassendurchschnitt bewegt sich zwischen 18 und 19, der älteste Schüler der erwähnten Klasse entstammt gar dem Jahrgang 1925 und kehrte erst im März dieses Jahres aus einjähriger Kriegsgefangenschaft zurück. Dazu tritt noch eine nicht unbedeutende Eigenheit: Abgesehen davon, daß die meisten dieser jungen Menschen nach dem Drill in der HJ durch die fast täglichen Gefahren der Luftangriffe gegangen und zum Teil selbst schon am Flakgeschütz oder im Feld gestanden sind, lastet jetzt auf ihnen die Sorge um den Vater, dessen sie gerade in ihren Jahren so dringend bedürften. Bei 10 Prozent der genannten Klasse ist der Vater heute noch vermißt, bei 40 Prozent befindet er sich in irgendeinem Anhaltelagei oder gar im Gefängnis.

Es bietet sich einem da eine seltsame Statistik dar: Vater Oberlandesgerichtsrat oder Chefingenieur a. D., heute Hilfsarbeiter, Hochschulprofessor oder Forstmeister a. D., heute im Lager H. Die Familie hat mit schwerer materieller Not zu kämpfen und doch soll dem Jungen das Studium ermöglicht werden, oft ist er noch dazu der Älteste einer größeren Geschwisterschar und muß als solcher zum Großteil für sich selbst aufkommen. Hier wird die Berufsfrage zum ernsten Existenzproblem, hier stellt eine harte Gegenwart die Frage nach dem „Sein oder Nichtsein“ an eine vielleicht noch härtere Zukunft.

Eine Feststellung ist besonders erfreulich: Diese älteren Mittelschüler verzichten in ihren Aufsätzen immer entschlossener auf die heroische Phraseologie des vergangenen Systems, das sie wohl doch eine gewisse Skepsis gegenüber allzu lauter Hybris gelehrt hatte. Ihre Ausführungen sind von einer oft überraschenden Nüchternheit, man spürt, daß diese Generation dem Leben sehr klar ins Auge schaut, wenn auch in ihr — Gott sei Dank! — die Romantiker nicht fehlen. — Immer wieder wird betont, wie eng die Wahl der heutigen Berufe ist, wobei auch das Problem des Auswanderns lebhaft erörtert wird. Wer sich früher auf den Marine- oder Fliegeroffizier freute, hat sich jetzt für Schiffsingenieur, Flugzeugkonstrukteur oder Werkpiloten entschlossen. Die eigentlichen akademischen Berufe sind sehr gering vertreten: Unter 31 Schülern streben neben 4 Medizinern, 2 Schüler die juristische Laufbahn an, einer will Psychologie und Pädagogik studieren, während ein anderer Journalist werden will, dem sich endlich noch einer mit dem geradezu kühnen Plan des freien Komponisten anschließt.

Im Rahmen dieses Aufsatzes wurde die Notwendigkeit einer sinnvollen Berufsberatung lebhaft erörtert, sinnvoll deshalb, weil diese älteren Schüler bei den Arbeitsämtern meist nur mit Kartothekblättern in Berührung kommen und meist nach Ablegung einer „Eidesstattlichen Erklärung“ ziemlich ergebnislos wieder verabschiedet werden. Hiezu sei aus einem dieser Aufsätze wörtlich zitiert:

„Als ich endlich zum Verhör kam, mußte ich einen Fragebogen ausfüllen mit 5 2 Spalten (!). Einen guten Teil der Fragen konnte ich überhaupt nicht beantworten. Nachdem ich diesen scheußlichen grünen Zettel ausgefüllt hatte, kam die „eidesstattliche“ Zeremonie daran; dann sollte ich mich mit dem Beamten aussprechen, und das alles mit 16 Jahren und ohne Beisein der Eltern. Zum Schluß wurde mir noch nahegelegt, doch wieder ein goldenes Handwerk zu erlernen, wozu ich weder Neigung noch Geschick habe ...“

Soweit die Niederschrift; schon dieses Beispiel zeigt wohl, daß die „amtliche“ Berufsberatung noch recht — entwicklungsfähig ist.

Um so mehr sollte die Schule dieses wichtige Gebiet beachten, hier kann sie in zweifacher Hinsicht Brückenbauer sein: Einmal wolhn wir die Wege weisen, zu den verschiedenen Zielen, ermunternd und warnend zugleich und dazu — und das erscheint nur noch weit wichtiger — wollen wir der heranwachsenden Generation eine Brücke schlagen zu einer sinnvolleren Zukunft. Gerade wir, die wir selbst im vergangenen System teils durch Gewalt, teils aus Unvernunft zu leiden hatten, wollen doch diese jungen Menschen keinesfalls entgelten lassen, was ihre Väter falsch angepackt haben Diese Tatbereitschaft findet in einem fördernden Vertrauen, einer männlich-scheuen Anhänglichkeit ihren tiefsten Lohn. Ist es nicht ergreifend, wenn einer seinen Aufsatz mit der vielleicht etwas derben Bemerkung schließt: „Viele junge Österreicher werden auf das Ausland angewiesen sein, aber ich glaube, wenn jemand wirklich Hervorragendes leistet, dann kommt er auch in Österreich hoch ... Im großen und ganzen bin ich optimistisch, denn der Pessimist ist der einzige Mist, auf dem nichts wächst...“ und ein anderer, der von seinem Vater seit Ende 1944 nichts mehr weiß und mit Mutter und Geschwister aus einem aufgelösten KLV-Lager durch halb Rumänien, Ungarn und die Tschechoslowakei fliehen mußte, schließt seinen Aufsatz mit den Worten: „Uns allen bleibt, die wir uns betreffs unserer Berufswahl durch die Schwierigkeiten der politischen und wirtschaftlichen Weltlage behindert sehen, die Hoffnung auf die nädhsten Jahre, und wenn unsere Wünsche nicht ganz in Erfüllung gehen sollten, so wollen wir den Kopf nicht hängen lassen, denn wir sind noch jung.“ — Diese Beispiele belegen nicht nur einen billigen Heroismus der Jugend, sondern sie sind ein neuer Anfang, der nicht übersehen werden darf. Und deshalb hat wohl die enge Zusammengehörigkeit von Schule und Berufswahl, so wie sie hier kurz angedeutet wurde, ein Recht darauf, als ein nicht unwesentlicher Teil der allgemeinen Aufklärungs- und Aufbauarbeit gewertet zu werden. Diese Aufbauarbeit gehört ohne großen Aufwand und ohne stolze Gebärde getan, aber sie geschieht aus der Liebe zur Jugend heraus, für diese und mit ihr als dem wertvollsten Teil unseres Volkes, das wieder gesunden will.

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