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Generation an der Zeitenwende

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Wer immer heute als Verantwortlicher Erziehungsfragen zu lösen hat, ist vor keine leichte Aufgabe gestellt. Aber ich glaube doch, daß die seelische Lage unserer Jugend sowohl ihrer zeitlichen Entwicklung als auch ihrem augenblicklichen Stande nach nicht düster beurteilt werden muß. Man darf nicht vergessen, daß der Großteil dessen, was uns im Augenblick tadelnswert erscheint, ausschließlich auf die unter dem Druck der Notlage noch gänzlich unzureichende Arbeit der Schule zurückzuführen ist.

Es besteht kein Zweifel, daß für die deutsche Reichsregierung als Vollzugsorgan der Parteileitung von Anfang an neben den energischen Kriegsvorbereitungen das Problem der Jugenderziehung im Vordergrund der Reformen stand. Hiebei sind zweierlei Maßnahmen grundsätzlich voneinander zu scheiden. Erstens rein destruktive Anordnungen mit dem Endzweck, der Jugend den naturgegebenen und traditionsgefestigten Nährboden zu entziehen. Sie waren festgelegt durch zwei richtunggebende Sätze: erstens: Jugend wird durch Jugend geführt; zweitens: alle Erziehung geht vom Körper aus. Der erste Lehrsatz schaltete mit einem Schlag die Kompetenz des Elternhauses aus, hob praktisch jede entscheidende erzieherische Einflußnahme der Schule auf und stellte letzten Endes sogar die LehrFunktion der Schule in Frage, insofern sich Kinder alsbald in verschiedenen Unterrichtsfächern (Geschichte, Deutsch, Biologie usw.) dem Lehrer gegenüber darauf beriefen, in der „Schulung“ hätten sie es „anders“ gehört. Der zweite Lehrsatz rührte unmittelbar an die Grundfesten jedes ernst zu nehmenden Erziehungssystems. Alles Religiöse wurde entweder eine Tarnung der Reaktion und verstaubten Philistertums, bestenfalls eine vage Angelegenheit pathetischer Naturschwärmerei und deklamatorischer Pointe in den Reden und Schriften des geliebten Führers oder seines Paradedoktors und anderer verantwortungsloser Menschen. Aber auch das Geistige im umfassenden Sinn des Wortes wurde durch diesen „Erziehungsgrundsatz“ deklassiert. Der geistige Arbeiter wurde zur Type des Filmclowns oder lästigen Sonderlings — wir wollen die Erfahrungen nicht vergessen, die wir in diesem Punkt bei der \ deutschen Wehrmacht gesammelt haben! —, Allgemeinbildung zu einem leeren Phantom, dem Jahrhunderte sinnlos nachgelaufen waren. Humanität als Inbegriff der geistig-ideellen Einheit des Menschengeschlechts war verfemt; an ihre Stelle trat die nationalpolitische Erziehung zum urteils-losati Parteisoldaten. Der junge Mensch brauchte nicht „reif“ zu werden, er mußte rassisch „in Ordnung“ sein.

Dieses konsequente Zerstörungsprogramm war nicht nur in theoretischen Schriften „fachlicher“ Art festgelegt, es wurde durch energische Sofortmaßnahmen (Auflösung der bestehenden Jugendorganisationen, Abschaffung der geistlichen Anstalten, Entlassung und Verhaftung von Lehrern, Geistlichen, sonstigen geistig führenden Persönlichkeiten, Abschaffung der Lehrpläne, des Religionsunterrichtes) in die Tat umgesetzt und durch lärmende Propaganda in Film, Presse und Rundfunk dem Publikum annehmbar zu machen versucht.

An die Stelle der gestürzten Götter traten neue. Die Jugend erhielt vor allem ihre neue Organisation, und in dieser Organisation eine neue, ungekannte Freiheit: Freiheit vom Zwang der Gewissenhaftigkeit, der beharrlichen Arbeit, der Bescheidenheit und des Taktes, des elterlichen Gebotes, der religiös-sittlichen Ordnung. Die Jugend erhielt eine eigene Welt, die zwar nicht „ihre“ eigene, das heißt der Jugendlichkeit entsprechende, dafür aber eine mit viel Eigenwilligkeit ausgestattete Welt war. Sie erhielt Uniform und Ehrenzeichen, Titel und Ränge, Befehlsgewalt und Dienstrecht. Jugendliche Würdenträger redeten in Versammlungen, erließen Verfügungen, amtierten in Büros, befahlen Untergebenen, führten ihre Damen zu Veranstaltungen, brausten per Motorrad oder Autos über die Straßen des Führers oder sonstwohin, klappten mit Absätzen, brüllten Kommandos, gröhlten Lieder, soffen wie Ley und Bürckel — eine schöne Welt, eine tolle Welt, eine Welt filmischer Illusion, Karikatur des Lebens der Erwachsenen: das war die „positive“ Leistung als Ergänzung der negativen Phase in der Frage der Lösung des Jugendproblems.

Und wie reagierte die Jugend auf diesen verfänglichen Anschlag? Zunächst und allem Anschein nach mit ungeteilter Begeisterung. Was die Schule betrifft, so hatte es die Lehrerschaft ihrem unwürdigen Verhalten selbst zuzuschreiben, wenn sie sich vollständig um Kredit und Ansehen sowohl in den Augen der Eltern wie insbesondere in denen der Kinder selbst gebracht sehen mußte. Der an sich außerordentliche kritische, scharf beobachtende Blick des jugendlichen Menschen konnte nicht blind der Tatsache gegenüber sein, daß, wohin immer er fiel, ganz offenbar Doppelzüngigkeit und charakterlose Anpassungsfähigkeit zum persönlichen Erfolg führten. Diese Erfahrung hinwiederum mußte einerseits zur Nachahmung verlocken, andererseits — und das war das eigentlich Schlimme an der ganzen Sache — jedes Vertrauen in eine objektive Wahrheit und in die bis dahin verkündeten Ideale erschüttern. Das Elternhaus zeigte sich teils bestürzt, teils ratlos, teils aber auch gleichgültig oder sogar optimistisch-leichtgläubig. Kein Wunder, wenn minderjährige Söhne und Töchter die Rolle des aufklärenden Propagandisten, in nicht wenigen Fällen sogar des politischen Spitzels in der eigenen Familie übernahmen. Die religiöse Erziehung schließlich war schon seit Jahrzehnten mehr in die Breite als in die Tiefe gegangen. Sie hatte sich zudem in einer letzten Entwicklung allzu sehr im öffentlich-politischen Leben engagiert und besaß viel zu wenig eigenständige Widerstandskraft. Es war also zu verstehen, wenn im Jahr 1938 ernst zu nehmende Erzieher mit großen Besorgnissen den kommenden Dingen entgegenblickten.

Wie aber war die seelische Lage unserer Jugend in Wahrheit schon in den ersten Monaten der neuen Ordnung? Zu dieser Frage seien einige Episoden aus meiner eigenen Erzieher- und Lehrertätigkeit angeführt.

Zu Weihnachten 1938 stellte ich in einer zweiten Klasse Realgymnasium (Oberschule) das Aufsatzthema „Wie ich Weihnachten feierte“. Wie groß war meine Überraschung, als ich von etwa dreißig Arbeiten mit einer einzigen Ausnahme die Beschreibung eines richtigen Weihnachtsfestes mit Christmette, Krippe, Jesuskind und Weihnachtsbaum erhielt. Ein Jahr später veranstaltete eine Klasse (Buben und Mädchen gemischt) der gleichen Schule in der letzten Stunde vor Weihnachten eine kleine Feier. Es war da ein Christbaum mit Krippe vorhanden und die Kinder intonierten „Stille Nacht“ —' allerdings nachdem vorher wie bei einem richtigen Soldatenlied „drei — vier“ gezählt worden war. Später gab ich an einer anderen Anstalt ein Aufsatzthema: „Ein Nachmittag bei der HJ.“. Der Erfolg: mehr als die Hälfte der Klasse erging sich in mehr oder minder versteckten abfälligen Bemerkungen über die sinnlose Zeitverschwendung bei den

Heimabenden, Geländespielen, Singstunden usw. Einige schrieben, sie seien für jede Gelegenheit dankbar, sich von der Teilnahme an den HJ.-Veranstaltungen zu drücken. Dabei war diese Schule neu eingerichtet, die Schüler stammten aus den verschiedensten Teilen des Reiches, so daß man nicht von einer einseitigen Tradition reden konnte. An derselben Anstalt hatte ich als Klassenvorstand einer fünften Klasse das traurige Erlebnis, daß einer meiner Schüler eine Klassenkameradin mit Vorbedacht erschoß. Dieser Vorfall rüttelte natürlich die jungen Leute ganz besonders auf. Ich hatte in der Folgezeit wiederholt Gelegenheit, mit Schülern und Schülerinnen privat ins Gespräch zu kommen und immer wieder wurde die Frage des Religionsunterrichtes, religiöser Veranstaltungen und achtunggebietender Lehrerpersönlichkeiten aufgeworfen. Schüler und Schülerinnen klagten offen über die Mängel der Schulorganisation, die Unmöglichkeit gewissenhafter häuslicher Vorbereitung und die Irrwege der Jugendbewegung, zu der man damals bekanntlich schon durch die Polizei getrieben werden konnte. So konnte der Lehrer, der das Vertrauen des jugendlichen Herzens nicht enttäuscht hatte, tiefer in dieses Herz hineinblicken, das zerrissener, aber auch aufnahmebereiter für das Gute war, als viele es ahnen mochten.

Spätere Jahre führten mich als einfachen Soldaten mit jungen Kameraden zusammen, die leicht meine Schüler hätten sein können.

Und hier wurde das, was ich bisher mit zunehmender Klarheit geahnt hatte, zur Gewißheit. Diese jungen Leute nämlich hatten vielfach ein unvergleichlich richtigeres Bild von dem, was in Deutschland vorging und noch zu erwarten war, als der Großteil ihrer älteren Vorgesetzten. Mit welchem Eifer wurde da der sonntägliche Gottesdienst, die Adventandacht, das Osterfest vorbereitet! Mit wieviel Hingabe, soweit Gelegenheit war, ernsthaftes Studium der Literatur, Kunstgeschichte, Geschichte, Philosophie betrieben! Mit welcher Reife und Gründlichkeit wurde da in kleinen Zirkeln politische, nationale, bildungstheoretische Fragen besprochen! Kein Zweifel: hier im Krieg, befreit von der Pose der Paradeuniform und der Phrase des Parteilautsprechers fand die Jugend sich selbst wieder, nachdem sie durch eine überlaute Propaganda an den alten Idealen irre geworden war, ohne an die neuen glauben zu können.

Ich bin nicht der Meinung, daß der Zusammenbruch des politischen und militärischen Gefüges für unsere Jugend in ihrem Großteil und ihren führenden Köpfen zugleich ein Zusammenbruch ihrer Ideale war. Ich glaube auch nicht, daß wir Erwachsene, die wir die Hauptlast des Neuaufbaues zu tragen haben, mit der Oppositionslust gewisser Altersstufen rechnen sollen. Es ist bestimmt kein übertriebener Optimismus, wenn ich behaupte, daß unsere Jugend h i n g a b e b e r e i t an das Wahre und Große, aufgeschlossen dem Schönen und Guten ist wie kaum die Jugend einer vergangenen Generation. Ich möchte darum auch nicht viel von Hinweisen auf Kriegsverbrecherprozesse und Appellen zur Mitarbeit wissen. Es könnte dies allzu sehr den Eindruck der Mache und Phrase erwecken. Was unsere Jugend braucht, das ist die Ehrlichkeit, die Schlichtheit, der Takt und die zwingende Überzeugungskraft des guten Beispiels. Nichts von Propaganda, nichts von Vereinsmeier-tum dieser oder jener Partei — selbstloses Wirken, schlichtes Reden, beständiges Sein: das schulden wir Reife den Reifenden.

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