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Der junge Herr Jedermann

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Die vor einigen Wochen im Rahmen einer ständigen Sendereihe von Heinz Fischer-Karwin durchgeführte Befragung von Herr und Frau Jedermann ist in der österreichischen Presse lebhaft kommentiert und von vielen Verantwortlichen mit besorgtem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen worden. Die Ergebnisse dieser Befragung sind auch dazu angetan, nachdenklich und besorgt zu stimmen, vor allem deshalb, weil es sich bei den erhaltenen Antworten nicht um unglückliche Zufallstreffer, sondern — wie die ähnlichen Reaktionen bei früheren gleichartigen Gelegenheiten beweisen — um eine für die Bevölkerung unseres Landes durchaus repräsentative Auslese handelt.

Man könnte sich unter Hinweis auf die unausrottbare Tendenz der menschlichen' Nätür, Vergangenes vergangen sein zu lassen, mit einem resignierten- Achselzucken“ zu'ftfeHen'gerJeri1' und zur Tagesordnung übergehen, die einem durch Abwechslungen aller Art für den besorgten Unmut entschädigen könnte. Aber die Lln-wissenheit der älteren Generation, die bei den Befragungen vor allem sichtbar wird, hat eine bedenkliche Rückwirkung, die uns nicht zur Ruhe kommen lassen sollte: sie überträgt sich auf die jungen Menschen, die Krieg und Nazismus nur noch in schattenhafter Erinnerung haben oder gar erst mitten in die unbeschwerte Wohlfahrt unserer zweiten Republik hineingeboren wurden.

Nun könnte man ja sagen — und es fehlt nicht an solchen, mitunter auch wohlmeinenden Leuten, die uns dies vorschlagen —, daß ja dann alle Dinge in schönster Ordnung wären, man könne gerade auf diese Weise von vorn beginnen und unbelastet von den Schrecken der Vergangenheit am Aufbau einer schöneren Zukunft arbeiten. Aber diejenigen, die unserem guten Leben nicht einmal die Hypothek einer ständigen Konfrontierung mit der Vergangenheit auferlegt wissen wollen, übersehen und verkennen, daß ein solcher vorgeblich totaler Neubeginn in Wahrheit eine Einladung an jene wäre, die nur in den sauren Apfel gebissen haben, als sie sich in die österreichische Nachkriegsordnung einfügten, die aber in ihrem Herzen noch immer, wenn auch beileibe nicht mehr Nationalsozialisten, so doch Österreicher mit Vorbehalt, deutschnationalen Rückhalt und innerer Rückversicherung geblieben sind. Ganz zu schweigen von jenen Zeitgenossen, die noch den Segnungen des „tausendjährigen Reiches“ nachtrauern und, so gut sie eben können, durch Mundpropaganda Dolchstoßvarianten und Harmlosigkeitserklärungen der Vergangenheit kolportieren.

Beide Gruppen, die der Harmlos-Unwissenden, die einfach „ihre Ruh' haben wollen“, und die der planvoll arbeitenden Nachzügler der V/eltgeschichte, überwälzen ihre Einstellung auf die Jugend, die einen, weil man sich auch nicht über den Umweg der Probleme und Fragen der eigenen Kinder die unliebsame Vergangenheit zurückrufen lassen will, die anderen, weil sie sich das Gefühl bestätigen lassen wollen, daß sie nicht die Letzten von gestern, sondern die Ersten von morgen sind. Freilich: der junge Herr Jedermann (und alles Gesagte gilt mutatis mutan-dis auch für seine Schwester und Freundin) hat andere Sorgen, als sich um die Vergangenheit zu kümmern und sich pro oder kontra zu exponieren. Er hört den Debatten der Älteren gelangweilt zu und gibt sich auf Sportplätzen, im Kino und im Espresso so ganz der Gegenwart und ihren Annehmlichkeiten hin, daß er keine Zeit findet, die gelegentlich aufgeschnappten Anregungen, die ihn in die Vergangenheit führen könnten, zu verarbeiten. Der junge Herr Jedermann rast frei nach Qualtinger in die Ferne und in die Zukunft, und wenn ihn mitunter auch die Langeweile plagt, so fällt es ihm doch nicht ein, deswegen gleich zum Nachdenken überzugehen und sich mit dem zu beflecken, was in das leidige und als Freizeitvertreib gänzlich ungeeignete Kapitel „Politik“ fällt.

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selbstverständlich..hinzunehmen und .sifh^B^lu;,, über das Woher und Bevor den Kopf zu zerbrechen, ist ebenso natürlich wie die Flucht vor einer nicht restlos verarbeiteten Vergangenheit. Junge und alte Generation reichen sich also, wenn auch aus verschiedenen Motiven, die Hände, und es erscheint fast wie ein unfreundlicher Akt, sie in dieser kurzweiligen Eintracht zu stören. Sollten sich nicht alle das edle Motto „Quieta non movere“ zu eigen machen und die Dinge auf sich beruhen lassen, wo doch ohnehin keine unmittelbare Gefahr für unsere Demokratie besteht und die Jugend so vielfältig abgelenkt ist? Ernst Karl Winter, der allzufrüh verstorbene Mahner, hat einmal gesagt, daß die Erste Republik an der mangelnden Bejahung des Staates Österreich zugrunde ging, und Friedrich Heer stellte der Zweiten keine hoffnungsvollere Prognose, wenn sie sich nicht zu den Männern zu bekennen wagt, die 1938 bis 1945 für die Freiheit und Unabhängigkeit dieses Landes ihr Leben einsetzten. Gewiß: die Neutralität unseres Staates und die krisenfreie Wohlfahrt, der wir uns erfreuen, nimmt uns viele Sorgen weg und erstickt viele Gefahren im Keim, die sonst unweigerlich entstünden. Aber alle Vorteile unserer Position entheben uns nicht von der Verpflichtung, diesen von beiden großen politischen Kräften unseres Landes getragenen österreichischen Staat und das gemeinsam erarbeitete, auch von früher Andersdenkenden bejahte Konzept einer österreichischen Staatsnation zu einer bewußten Realität für alle Staatsbürger zu machen. Es Hegt aber im Wesen dieses Bewußtmachungs-prozesses, daß er nur in klarer Erkenntnis der Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit, nur in schonungsloser Aufzeigung der Feinde Österreichs und ihrer Untaten reifen und Erfolge zeitigen kann. Wenn irgendwo der Satz „Wissen ist Macht“ und die Weisheit des Evangeliums „Die Wahrheit wird euch frei machen“ einen Anwendungsbereich in unserer österreichischen Wirklichkeit zu finden haben, so gerade hier. *

Die Verantwortung liegt bei jenen, die die Zusammenhänge klar verstehen und Einfluß genug besitzen, um Entscheidendes beitragen zu können. Das schon oft erörterte Kapitel „Geschichtsunterricht in den Schulen“ ist als eine der Hauptaufgaben aller mit Erziehung und Unterricht Befaßten anzusehen. Man beginnt sich dieser Verpflichtung auch mehr als bisher bewußt zu werden. So wies das Bundesministerium für Unterricht die Mittelschulen an, Absolventen und Schülern höherer Klassen* “US3 Möglichkeit zu einem Besuch des KZ.s Maut-luiisen SB.'.gebeat und der. neue fräisMent1 des' Stadtschulrates, Dr. Neugebauer, erklärte in einer Versammlung sozialistischer Akademiker, daß er sich persönlich von der Durchführung des Geschichtsunterrichts in den Abschlußklasssen überzeugen und damit dafür sorgen werde, daß der Unterricht auch die Ereignisse der neuesten Zeit umfasse. Es gibt nämlich nicht wenige Geschichtsprofessoren, die aus „Zeitmangel“ oder sonst einem wohlfeilen Grunde beim ersten Weltkrieg stehenbleiben und sich sowie ihren Schülern die Erörterung der nachfolgenden heiklen Kapitel ersparen. Noch schlimmer als dieses verlegene Schweigen ist jedoch die parteilose, gleichsam über den Dingen stehende Scheinobjektivität, die nach dem „Sowohl-als-auch“-Prinzip einer wahrheitsgetreuen Beleuchtung der Vergangenheit ihre Schärfe rauben will. So konnte es zum Beispiel geschehen, daß vor einigen Jahren in der 5. Klasse einer Wiener Mittelschule ein Professor ruhig duldete, wie ein Schüler in einer Redeübung die österreichischen Widerstandskämpfer als Verräter beschimpfte. Erst der leidenschaftliche Protest des Sohnes eines Universitätsprofessors, der als Klassenkamerad des besagten Schülers die Schmähungen mitanhören mußte, brachte einen kleinen Stein gegen den Lehrer und seine merkwürdige Methode ins Rollen.

In der Frage des Bekenntnisses zu Österreich und der Bewertung der nazistischen Vergangenheit gibt es nur eine eindeutige, durch Tatsachen erhärtete Parteinahme. Die menschliche Versöhnlichkeit gegenüber den Unrechtsträgern und Nutznießern von gestern darf uns nicht gegen Verschleierungs- und Wiederbelebungsversuchen des Bösen versöhnlich machen. Der junge Herr Jedermann muß dazu angehalten werden, sich ein Minimum an Kenntnissen anzueignen und ein gewisses Maß an geistiger Anstrengung aufzuwenden, um sich seiner Vergangenheit bewußt ztfWdfen'ttrrf-tfch'S se^%kunf^^w ^Pa zu erweisen. Denn es könnte sein, daß der junge Herr JWfeftnSrfif'VÖff1 lüSIte?1 morgen öäe*r'!fi^er^ morgen wie sein Namensvetter im ehrwürdigen Spiel von den dampfenden Töpfen und goldenen Kälbern, bei denen es sich heute so gut leben läßt, von einer unerwarteten Stimme, sei es die der Not oder sonst irgendeiner Krise, weggerufen und der Verantwortung seines Lebens gegenübergestellt wird. Der neue Erlaß des Unterrichtsministeriums über die bevorzugte Behandlung der Zeitgeschichte, könnte mithelfen, die notwendige Besinnung zu fördern.

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