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Der politische Auftrag

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I.

Nicht ohne Nachdenklichkeit konnte man in' den letzten Wochen anläßlich der Halbjahrtausendfeier der „vorderösterreichischen“ Universität Freiburg die Worte der Stiftungsurkunde Herzog Albrechts VI. lesen, in denen von der großen, über die bloße Existenzerhaltung und praktische Wissensvermittlung hinausgehenden Aufgabe dieser „Stätte der Weisheit“ die Rede ist. Für die Freiburger Universität bedeuteten diese Stifterworte keinesfalls nur allgemein verstandene Prinzipien, sie hatten ihre jeweils konkrete historische Bedeutung. Wenn Honorius III im Jahre 1219 der Pariser Sorbonne das Bild eines weithin die Lande bewässernden Flusses vor das geistige Auge stellt, dann verstand er darunter die Notwendigkeit, Frankreich zu jenem geistig-wissenschaftlichen Zentrum zu machen, das die kirchliche Politik damals als Gewicht gegen die staufische Kaiserpolitik brauchte. Auch sein Zeitgenosse Friedrich II. wußte genau, welche konkrete politische Aufgabe die von ihm gestiftete Universität Neapel zu erfüllen haben sollte. Und ein Jahrhundert später stellte der geniale Luxemburger Karl IV. der Prager Universität von allem Anfang den Auftrag einer Integration der so verschiedenartigen Kräfte im böhmischen Raum. Auch die Wiener Universität kennt einen solchen ausdrücklichen Stiftungsauftrag. Er soll an dieser Stelle nicht zitiert werden. (In Jubiläumsjahren werden dies berufenere Federn tun.)

Hier ist nicht die Rede von historischen Reminiszenzen. Denn das, was hier aus vergangenen Jahrhunderten zitiert wurde, war einmal unmittelbare Tagesförderung, „politisch“ im höchsten Sinne des Wortes. Hier geht es darum, nach der aus dem heutigen Kairos abzuleitenden Aufgabe der Wiener Universität zu fragen, nach jenem Auftrag, der über Selbstzweck und Lehrvermittlung hinausreicht. Vergangene Jahrhunderte scheuten sich nicht, solche Aufgaben der Universität als legitim anzuerkennen, solche Aufträge aus der Hand der Fürsten und Päpste anzunehmen. Das entscheidende Merkmal dieser „Aufträge“ war allerdings, daß sie niemals einen Eingriff in die innere Souveränität und Autonomie der Hohen Schulen bedeuteten, sondern daß sie innerhalb eines Systems des Gleichgewichts der Autoritäten formuliert wurden, das während des Hochmittelalters, als diese Universitäten gegründet wurden, noch halbwegs intakt war. Heute ist dieses klassische Gleichgewicht von Kirche—Reich—Hohe Schule aus einer Reihe von Gründen heraus unwiederbringlich verloren. Es kann also weder eine kirchliche Behörde, welcher Art und welchen Ranges immer, noch irgendeine staatliche Institution mehr einen solchen Sendungsauftrag aussprechen. Er wäre nicht nur praktisch wirkungslos, sondern es wäre sogar von Uebel, wenn er „erlassen“ würde. (Die selbstverständliche kirchliche Ingerenz auf die theologischen Fakultäten bleibt hier unberührt.) Weder ministerielle Verwaltungstätigkeit noch, wie dies erst jüngst wieder von prominenter sozialistischer Seite in geradezu grotesker Blindheit für die Eigenart geistiger Werte gefordert wurde, irgendein (womöglich noch proportionales) parlamentarisches Ausschußgremium haben das innere Recht, den geistigen Auftrag einer Universität im „Heute und Hier“ zu dekretieren.

Und dennoch muß es einen solchen Auftraggeber, eine solche Instanz der Oeffentlichkeit geben. Ihre Aufgabe kann allerdings nur darin bestehen, aufzuzeigen, auszusprechen, was als geistige Notwendigkeit erkannt ist und was im Rahmen der durch die Zeit gestellten Aufträge an die jeweilige Generation durch die Universität und nur durch die Universität geleistet werden kann und muß. Im Dienste dieser Instanz, die man nur sehr vage die „öffentliche Meinung“ nennt, steht nicht zuletzt die verantwortungsbewußte Publizistik.

II.

Unser Oesterreich wird, das ist heute mit größter Sicherheit anzunehmen, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten das Ziel einer immer zahlreicher werdenden Gruppe von Studenten, vielleicht auch von lernbegierigen Dozenten aller Fakultäten werden, die aus den volksdemokratischen Ländern zunächst einmal zu jener Universität streben werden, die ihnen geographisch und traditionell die nächste ist. Ob diese Menschen nun als Flüchtlinge kommen, ob sie, halb geduldet durch das Regime, begrenzte Studienreisen antreten oder ob sie gar als Elitegarde ihrer heimischen Intelligenz zur geistigen Auseinandersetzung hier eintreffen werden, bleibt im Grunde gleich. Die Ereignisse in Ungarn haben eindeutig klargestellt, daß die junge und lebendige akademische Intelligenz dieses Landes (und mutatis mutandis wohl auch der arideren donaueuropäischen Volksdemokratien) zwar nur zu einem sehr geringen Teil als „marxistisch" im strengen Sinn anzusehen ist, daß sie aber auch nicht ohne weiteres irgendeiner Schule oder gar einer politisch-philosophischen Doktrin des Westens zugerechnet werden kann. Längst hat es sich dem Wissenden gezeigt, daß der nur scheinbar alles beherrschende „dialektische Materialismus“, zu dessen Widerlegung heute kaum mehr ein wirklich wichtiger Beitrag aussteht, nur der kleinen Kuppe eines Eisbergs vergleichbar ist, den der nicht sieht, der heute wie gebannt nur auf Marx, Lenin oder gar Stalin starrt. Dieser Eisberg hat keinen Namen, und die verschiedenen Versuche, ihn einem „Ismus“ einzuordnen, scheitern an der Wirklichkeit. Er setzt sich aus einer Fülle wirtschaftlicher, politischer, soziologischer, philosophischer, nicht zuletzt auch theologischer Bestandteile zusammen, die allesamt durch die spanischen Stiefel des offiziellen Stalinismus eingezwängt waren. Je mehr sich — keinesfalls mit Willen der kommunistischen Machthaber, die nur um elastische Anpassungsformen, nicht um wirkliche Wandlungen bemüht sind — dieser Eisberg selbst aus den zurückweichenden Fluten zu heben beginnt, desto deutlicher werden unter der immer kleiner werdenden, bisher einzig sichtbar gewesenen Kuppe die unteren Schichten und Geschiebe sichtbar. Desto schwieriger, ja schließlich auch unsinniger wird es aber auch, die Auseinandersetzung auf rein apologetischer Grundlage zu führen. Die zahlreichen Schulungen und Funktionärskurse zur Ueberwinlung des „dialektischen Materialismus“, die an manchen deutschen Universitäten erwogenen Pflicht-

Vorlesungen über das marxistisch-leninistische System haben bestimmt ihr Gutes, aber sie werden der heute bereits erkennbaren vollen Wirklichkeit nicht mehr gerecht.

Und gerade auf diese Wirklichkeit wird es in den nächsten Jahren für die gesamte freie Welt, ganz besonders aber für Oesterreich, ankommen. Weder eine vorschnelle, der letzten Gründe nicht ansichtige Synthese, eine oberflächliche oder romantisch-sehnsüchtige Verbrüderung, noch eine starre, nur am Tagespolitischen hängende „Widerlegung“ sind die Formen, in denen jene Auseinandersetzung erfolgen kann, die uns nicht erspart bleiben wird.

Tischrunden, Funktionärsrunden, Leitartikel, Broschüren, das alles wird seine Bedeutung nur in einem immer begrenzter werdenden Rahmen behalten. Wichtig und unerläßlich wird sein, daß die Auseinandersetzung mit der uns früher oder später konkret begegnenden Welt des heute noch kommunistisch überdachten donaueuropäischen Ostens von dq Grundlagen her geführt wird. Man kann diefe Fragen gar nicht tief und exakt genug angehen. Dies aber ist letztlich nur der Universität und den anderen ihr gleichgestellten, fachlich gerichteten Hochschulen möglich. In ihren Seminaren und Arbeitsgemeinschaften, in ihren Bibliotheken kann allein jene wirkliche Basisforschung und Fundamentalauseinandersetzung geleistet werden, ohne deren Bewältigung wir zwar rein äußerlich, unter Hinweis auf unsere gefüllten Schaufenster und das Fehlen der Geheimpolizei, den „Kommunismus“ widerlegen, der Grundideologie des innerweltlichen Messianismus, der hinter all dem steckt, kaum begegnen können. Die konkreten Aufgabengebiete einer solchen Arbeit sind so vielfältig, daß sie nur mit einigen Beispielen charakterisiert werden können. Gewiß steht die Nationalökonomie und die poli-

tische Wissenschaft zunächst im Vordergrund. Je mehr aber hier wirkliche Grundlagenforschung getrieben wird, um so deutlicher werden die Perspektiven zur Philosophie, ja zur Theologie hin sichtbar. Die Soziologie beispielsweise sieht ein, daß die exakte Bewältigung ihrer empirischen Aufgaben die (freilich unerläßliche) Vorbedingung für die sich dann erst richtig klärenden Grundsatzfragen darstellt. Die Jurisprudenz kommt, namentlich im Völkerrecht, wenn sie sich selbst ernst nimmt, täglich und stündlich zu Problemen, die in früheren, geruhsamen Jahrhunderten in kleingedruckten Fußnoten als Kuriosa „entarteter" Rechtsverhältnisse behandelt wurden, heute aber internationale Alltagspraxis bedeuten. Sie können nicht mehr ohne Frage nach der philosophischen, theologischen Grundlage gelöst werden. Aber mehr noch: Selbst die exakten Naturwissenschaften, von der Physik bis zur Biologie, Psychiatrie und Hygiene, sie alle müssen spüren, daß sie schon sehr bald durch eine neue Studentengeneratiön aus den volksdemokratischen Ländern Befragungen ausgesetzt sein werden, die nicht einfach in althergebrachter Weise und nur von den gesicherten Fundamenten der eigenen Spezialdisziplin her zu behandeln sind.

Gewiß werden die bedeutendsten Auseinandersetzungen im Bereich der reinen und im weitesten Sinne angewandten Philosophie zu fallen haben. Längst hat es sich nämlich gezeigt, daß die Auseinandersetzung mit dem innerweltlichen Messianismus des Ostens nicht geführt werden kann, wenn .sie sich auf eine billige Widerlegung von Marx und Lenin, die ja nun nicht eben schwierig ist, beschränkt, daß vielmehr die wirkliche Frage bei Hegel, aber auch bei John Dewey, ja noch viel weiter zurückreichend, gestellt werden muß.

HL

Dieses hier so oft wiederholte „muß“ bedeutet — das sei nachdrücklich wiederholt —

einen politischen Auftrag an die Universität, einen Auftrag, den zu formulieren sich der Schreiber dieser Zeilen niemals anmaßen würde, wenn er sich hier nicht auf die Stimmen und Meinungen vieler, sehr vieler qualifizierter Akademiker berufen könnte. Das Wesen dieses politischen Auftrags an die Wiener Universität liegt aber — wie aus dem Gesagten wohl hervorgeht — darin, daß sie ihn nur erfüllen kann, wenn sie ihre Arbeit frei von Politik im parteilichen und tagesgebundenen Sinn verrichtet. Der politische Auftrag der Universität lag und liegt für alle Zeiten darin, soweit menschenmöglich, die Wahrheit zu finden, die Wahrheit in ihrem komplexen Vollsinn. Nur diesem Hoch- und Endziel kann ihre Arbeit dienen, wenn sie nicht zum Zerrbild und zum Verderbnis werden soll. Der politische Auftrag an die Universität kann daher auch heute kein zweckgebundener (von Einzelaufgaben abgesehen) sein. Den politischen Tageszwecken mögen sich alle die vielen privaten odet öffentlichen Gruppierungen, die bestimmt auch ihr Gutes haben, hingeben. Sie mögen schulen, publizieren, polemisieren nach Herzenslust. Sie mögen informieren, glossieren, ja sogar, wie das bei manchen „Experten“ des Kommunismus der Fall ist, auch „schwadronieren“. Ihre gesamte Tagesarbeit aber braucht den Akkumulator, an dem sie sich aufspeisen kann. Und dieser Akkumulator kann nur die Universität sein. Es ist dem Verfasser bekannt, daß er lügen müßte, wenn er behaupten wollte, daß die Universität in ihrem jetzigen organisatorischen Stand für diese Aufgabe, die unabdingbar und auch durch keine andere Institution ersetzbar ist, auch nur im entferntesten gerüstet wäre.

Es bleibt auch abzuwarten, wie sich die nun schon seit langem fälligen Hochschulgesetze spezieller Art in diesem Sinne auswirken werden. Was aber bald und ohne große Umschweife geschehen könnte, wäre die Gründung einer losen, vom streng-formalen Lehr betrieb gesonderten Arbeitsgemeinschaft der Professoren und vor allem der Dozenten, deren endliche Besoldung in einem bloß menschenwürdigen, vielleicht sogar einmal europäisch ausreichenden Sinn ein Problem allerersten Ranges darstellt. Diese Arbeitsgemeinschaft müßte sich — je universaler und vielseitiger, desto besser — das besondere- fachliche Studium der östlichen Forschungs- und Lehrergebnisse in ihren jeweiligen Fachdisziplinen zum Ziele setzen, um für eine Diskussion, eine wissenschaftliche Kontaktnahme mit Hörern aus diesen Ländern gerüstet zu sein. Niemand bilde sich ein, daß wir einen durch die Propagandaerziehung des Marxismus, die auch bei dessen erklärten Gegnern tiefe Spuren hinterlassen hat, gegangenen jungen Akademiker aus Prag, Budapest oder Krakau mit einigen antimarxistischen Slogans oder hinterwäldlerischen „Gegenargumenten“ von Anno dazumal nur im geringsten beeindrucken, geschweige denn „überzeugen“ werden. Unsere Stärke und unser durch die Praxis nicht immer allzu stark untermauertes Selbstbewußtsein liegt einzig und allein in der Wahrheit, in der vollen und reinen Wahrheit, die die Teil Wahrheiten des marxistischmessianischen Denkens in ihrer Begrenzung oder Verkehrung klar zu erkennen und durch die eigene Fülle zu überwinden vermag. Sie zu ergründen, sie zu formulieren, ist das unaufgebbare Geschäft jeder echten Universität, in diesem besonderen Fall aber der zeitnotwendige, konkrete Sendungsauftrag der Universität Wien.

Je deutlicher sich der Zerfall der das Ostimperium noch überlagernden marxistisch-leninistischen Ideologie abzeichnet, desto aktueller wird diese Aufgabe. Immer unbedeutender werden die kurzatmigen Auseinandersetzungen im politischen Vordergrund, immer wichtiger wird es, nicht zuletzt auch zur Klärung des Bewußtseins unserer eigenen akademischen Jugend, das Wurzelgeflecht bloßzulegen und den letzten, geistigen Grundlagen in Erkenntnis und Auseinandersetzung gerecht zu werden.

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