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Diskussion schließt Gewalt aus

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Da hilft nur eines: das Drama mutig bestehen. Die Jungintellektuellen sind nicht Skeptiker wie die Sophisten, die hartnäckig Diskussion fordern; sie stehen vielmehr philosophisch auf dem Boden des extremen kritischen Subjektivismus, der das Mißtrauen zum Prinzip a priori erhebt, gleichen Gorgias,der glattweg jedes Gespräch für sinnlos und unmöglich hält. Der eine oder andere neigt gar zur Philosophie des „Naturrechts des Stärkeren“, die Kallikles lehrt, und wirft hin: „Kie- singer, Lübke? die sind ja keines Tyrannenmordes würdig, auswechselbare Figuren sind es!“ Er übersieht das Geheimnis der Demokratie, das Hans Kelsen uns tradiert: Sie ist die Gemeinschaft, deren Führung auswechselbar ist und in einem fort wechselt, den großen Staatsmann verträgt die Demokratie nicht (Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Auflage, Tübingen 1929, Seite 78 ff.). Die Kerngruppe der studentischen Opposition verwirft die Diskussion; sie verwirft den Staat als solchen, das Recht überhaupt, die Gesellschaft als System. Sie verwirft nicht nur diese oder jene Institution, nicht nur den Inhalt der Sozialordnung, sondern die Rechtsordnung als For m. Solch konsequente Radikalität trifft man selbst unter den Marxisten äußerst selten an: so bei Marx selbst, bei Paschukanis, bei Ernst Bloch. Es sind ernste philosophische Positionen: die Gnosis, der Anarchismus, der Utopismus; ihre Spitzen dringen tief unter die Haut! — Auf der anderen Seite steht der Österreicher: Karl Renner, der den Inhalt angeht, aber die Form des Rechts leidenschaftlich bejaht.

Sonderfall Österreich — du glückliches Österreich!

Wir sind bei Österreich angelangt. Man sollte besser keine Voraussagen wagen. Dennoch sei eine gewagt: In Österreich wird die studentische Unruhe das Augenmaß nicht verlieren; denn in Österreich bejaht jeder eben diesen Staat. Das Außergewöhnliche ist: je mehr links einer steht, desto entschiedener bejaht er dieses Österreich, obschon zum Teil aus anderen Gründen, als es die Motive sind, die einen Konservativen zum Konsens bewegen. Fänden sich österreichische Jungintellektuelle, die den Staat verwürfen, sie gewännen keinen Bundesgenossen: weder unter den Arbeitern, noch den Angestellten, weder bei den Gewerkschaften noch bei den Schriftstellern, Journalisten, Publizisten, den Intellektuellen überhaupt; sie blieben isoliert. Da stehen uns Warschau und Prag näher als Paris oder Berlin. Dort will der Student, wie in Österreich, seinen Staat, seine Ge sellschaft, er steuert innerhalb der Ordnung auf einen besseren demokratischen, liberalen, sozialen, humanen Inhalt los. Hier, in Paris oder Berlin, will der Student das Ganze weggefegt sehen.

Widerstand gegen die Verschwörung des Schweigens

Die zurückgelegte Gedankenstrecke verrät etwas vom Bauplan der studentischen Bewegung, ihrem Grund, dem Gewicht, dem Ziel, zeigt die Umrisse der Möglichkeit einer Antwort. Wir erkennen die todernste Herausforderung zu einer geringstenfalls gleichartigen und -wertigen todernsten intellektuellen und moralischen Antwort. Wir spüren die drückende Last der Verantwortung, die der Politiker wie der Professor, die Staat und Gesellschaft und Wirschaft tragen. Wir ermessen die Oberfläche und Trägheit derer, die da sagen: „Den Marcuse, den Dutschke, den Lefėvre, den Rabehl, den Bergmann, den Cohn-Bendit — die erledigen wir in fünf Minuten, wenn nicht in einer; das ist doch ausgemachter Unsinn, was sie da verzapfen!“ Das „etablierte“ Athen nimmt Alkidamas, Hippias, Lykophron, Antiphon, ja selbst einen Kallikles, Thrasymachos, Glaukon, Gorgias beim Wort, stellt ihnen einen Plato, einen Aristoteles entgegen; es legt, von der links- und rechtsintellektuellen Opposition herausgefordert, den wuchtigsten Grund zum Fortschritt der Menschheit…

Neben den Hintergründen der studentischen Unruhe, die sichtbar geworden sind, stehen die Morde an Kennedy und Martin Luther King, die dem Jungintellektuellen die Idealgestalten rauben; steht die Despotie des Nutzens, vor deren Angesicht die Gesellschaft verdrossen den Rücken krümmt, eine verdrossene Gesellschaft, der das zweckfreie Denken und zweckfreie Handeln abhanden gekommen sind, eine grausige Gesellschaft, die jähzornig mit eigenen Füßen die Quelle ihres Lebens zudeckt. Das scheinbar nutzlose Denken, Dichten, Wissen, Handeln sind es, die das Menschengeschlecht weiterbringen. In der abgestandenen Luft, wo rationell für rational gilt, wo das ökonomische Prinzip, wo die Rentabilität allein regiert, wo der verwünscht kaltherzige Sachverstand, der unbarmherzige „Sachzwang“, die frostige Technokratie, die eisige Bürokratie, der harte Funktionär selbstherrlich die Peitsche schwingt — in solch abgestandener Luft, da regt sich kein Geist von selbst, weil er erloschen ist. Die Demokratie ist ein Staat und eine Gesellschaft, wo jeder einem jeden Fragen stellen darf, wo das Frageverbot Staat und Gesellschaft aus den Angeln hebt. Das zähe, verbissene Bohren von dicken Brettern, mit Leidenschaft, wenn auch mitunter ohne Augenmaß, dieses unerschrockene Fragen des Jungintellektuellen fällt der Vatergeneration auf die Nerven, ist aber die Folge des Ernstes, mit dem jene die Demokratie verstehen und leben. Der mündige Mensch ist ein kritisches Wesen (Aristoteles). Jede Kritik impliziert Konsens und Opposition, Affirmation und Negation. Gleichgewicht waltet theoretisch, abstrakt; praktisch-konkret ist es an dem, daß beim Jungintellektuellen Opposition und Negation, bei den Älteren Konsens und Affirmation vorwalten. Was man „konstruktiv“ heißt, sind beide Paare, gleichermaßen; die Rede von der „destruktiven“ Kritik und Opposition weist in die Gegend des Unsinns. Kritik bedarf der Kriterien und der Orientierung; sie werden dem Jungintellektuellen versagt. Das Recht verfolgt den Richter, der eine denegatio iuris begeht. Die jungintellektuelle Opposition ist die Sanktion dafür, daß die kompetenten Instanzen der Gesellschaft verstummen, wo an sie die Gretchenfrage gerichtet wird. Um handfeste Kriterien, um Orientierung drücken sich in unseren Tagen die berufenen Institutionen samt und sonders herum, von den Kirchen angefangen bis zur Universität — daß dies keine Folge menschlichen Versagens, sondern ein Mangel ist, der im Strukturwandel der Welt gründet, steht auf einem anderen Blatt. Man sollte aber das Unvermögen offen zugeben und nicht so tun, als wisse man Bescheid.

Die Mängel am Hochschulwesen

Wir nähern uns dem Ende und haben jene Marke des Weges erreicht, wo die Universitäten, die Hochschulen mit den eigenen, besonderen Gründen der studentischen Unruhe ins Blickfeld treten.

1. Naturwissenschaft und Soziologie (Verhaltenslehre) geben jene „kritische Masse“ an, wo die Explosion, bei Zündung, nicht zu verhindern ist, und jene Ballungsdichte, wo es „von selbst“, ohne jede Zündung, losgeht. Im Sozialleben sind die Dichteschäden erheblich, was ärger ist: sie sind nicht wieder gutzumachen, es sei denn die ordnende Gewalt entflicht den Massenknoten, lockert die Ballung, dezentralisiert. Auf das Hochschulwesen angewandt berechnet man die „kritische Menge“, die ohne Zündung birst, mit 10.000 Studenten. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft können helfen, so sie mehrere, kleinere Universitäten und Hochschulen bauen, statt daß zentralisiert, monopolisiert, kommassiert wird, statt daß man wenige Universitäten und Hochschulen zu Massen- Lehr- und Forschungsstätten aufbläht. Was keinesfalls angeht, wozu man jedoch in Wien zu neigen scheint, ist Bildungsökonomie restlos in einem Rentabilitätskalkül aufgehen zu lassen. „Kleine Universitäten können wir uns nicht leisten, sie sind unrentabel!“ — lautet die originelle Losung. Nur wacker so weiter, meine Herren, dann haben wir eines Tages den gewaltsamen Aufstand selbst im friedlichen Österreich und ohne „fünfte Kolonnen“, von denen soviel Märchen erzählt werden.

2. Die zweite Mißregelung ist die „Campus“-Universität, womöglich als Dependance einer „City“-Univer- sität; sie gliedert den Studenten wie den Professor just in einer Zeit gesellschaftlich aus, da die Wissenschaft mitten aus der Gesellschaft kommt. Nanterre, als Ableger der Sorbonne, spricht bittere Bände. Nur Architekten am grünen Tisch können solche Ideen entwerfen, die von sozialen und politischen Problemen weniger verstehen als vom Tuten und Blasen.

3. Das .Studium setzt verhältnismäßig spät ein (9. Schuljahr, Dienst im Bundesheer); es dauert zu lang; Staat, Wirtschaft und Gesellschaft tun zuwenig, um dem Jungintellek tuellen, namentlich dem Geisteswissenschaftler, dem Humanisten, die dumpfe Angst vor der Zukunft zu ersparen.

4. Wir Professoren haben noch nicht recht den inneren Wandel der Autorität mitvollzogen, neigen vielleicht wirklich hin und wieder dazu, die Titel, den Talar, die Kette, das Vorlesungspult etwas zu überschätzen und zu vergessen, daß Autorität das Vermögen und die Kunst ist, mit besseren rationalen Argumenten den anderen zu überzeugen (peitho), seine Zustimmung zu gewinnen.

5. Wissenschaft, Universitäten, Hochschulen, Forschung und Lehre, sie begreifen sich selbst noch nicht recht in ihrem neuen Stellenwert und in ihrer neuen Funktion. Naturwissenschaft und Technik und Medizin werden gegen die Geisteswissen-

schäften ausgespielt, diese und jene gegen die Sozialwissenschaften; sie machen einander die Plätze streitig. Man fährt fort, Grundlagenforschung und -lehre wider angewandte Wissenschaft anzuschlagen. Dabei sind derlei Schemata längst überholt. Das Ganze der Wissenschaft verweist auf ein Einheitsprinzip, die rundheraus auszusprechen eher ein Werner Heisenberg oder ein Carl Friedrich von Weizsäcker sich traut als ein Vertreter der „Geisteswissenschaft“, der Denunziation fürchten zu müssen glaubt.

Um eine neue Universitätsidee

Was tun? Auf die Herausforderung denkerisch, moralisch und politisch, jedenfalls gehörig antworten und einsehen, daß die Bildungspolitik zum unbedingten Vorrang aufgerückt ist! Was insbesondere die Wissenschaft tun soll? Das Grund- und Hauptproblem der Gegenwart ist der Weltfriede, der die Einheit des Menschengeschlechts in Gestalt setzt und verbürgt. Keine Flaute, sondern eine Weltordnung, die den Sturm wettstreitender Gegensätze aushält und stest aufs neue austrägt, ohne daß einer nach den Waffen greift, sei es nach dem Maschinengewehr, sei es nach der Atombombe. Der Richter soll den Krieg ersetzen. Die Idee der Einheit des Menschengeschlechts kann der Universität neuen Sinn geben: Auf Lösungen des Problems zu sinnen, ist des denkbar höchsten geistigen Aufwandes wert, dessen der Mensch fähig ist. Hier kann der Jungintellektuelle sein volles Geistvermögen einsetzen, wenn die Universität ihn mit sicherer Hand leitet.

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