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Umstrittene Kulturautonomie

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Nach dem Prinzip, daß die Wissenschaft eine Angelegenheit nicht nur der Wissenschaftler, sondern auch der Gesellschaft sei, hat das System der Volksdemokratien bei den West- und Südslawen auch die Autonomie der Hochschulen in den Prozeß der Demokratisierung und Planung einbezogen. In erster Linie rechnet es sich als besonderes Verdienst an, das höhere Studium in einem Maße popularisiert zu haben, das seine optische Wirkung nicht verfehlt. In den Nachkriegsjahren wurden nicht nur die alten Hochschulen wieder eröffnet, sondern auch viele neue Institute errichtet. Die Warschauer,Univer-s i t ä t ließ sich vorläufig in Lodz nieder, jene von Lemberg übersiedelte nach der Übergabe der Stadt an die Sowjetunion geschlossen nach Breslau. Neue Polytechniken entstanden in Danzig, Thorn und Gleiwitz, während Kattowitz eine Hochschule für Sozialwissenschaften erhielt.

In der Tschechoslowakei wurden die Universitäten in Königgrätz und Olmütz mit der Begründung installiert, daß die Zusaminenballung vieler Schulen in wenigen Orten von Schaden für die kleinerer) Städte in der Provinz sei. Neu ist auch die Prager Hqchschule für Politik an Stelle der früheren „freien Hochschule“, wo Journalisten und die Bildungsoffiziere der Armee und der Gendarmerie ausgebildet werden. Schon aber rufen Pilsen und Reichenberg nach Schulen im HochschuW rang, eine Forderung, die der Staatspräsident Dr. Benesch in seiner Rede anläßlich der Eröffnung der Olmützer Universität deshalb für bedenklich hielt, weil der Mangel an qualifizierten Lehrern noch nicht einen unbegrenzten Fortschritt der Regionalisierung gestatte.

Auch am Balkan wurde die Anzahl der akademischen Einrichtungen vermehrt. In Mazedonien entstand im Vorjahr die jüngste Universität des Staates, die in S k o p 1 j e unterrichtet, obwohl sie noch nicht einmal über eigene Gebäude verfügt. In Bulgarien, wo vor dem Kriege nur Sofia und Swischtov ihre vollakademisdien Schulen hatten, ist nun auch P 1 o v d i mit einer Hochschule ausgestattet worden.

Auch die starke Frequenz dieser Schulen ist mit keiner Periode der Vorkriegszeit vergleichbar. In Polen erhöhte sich die Zahl der Studenten von 50.000 auf 68.000 und die Krakauer Universität allein wies im Sommersemester einen Besuch von über 12.000 Hörern nach, die Posener von 8000, die Breslauer von 6300, die Lodzer von 6000. Besonders kraß wirkte in der Tschechoslowakei die Schließung der Hochschulen während der Kriegszeit. Denn dort verzeichnet das akademische Studium allein in den böhmischen Ländern einen Sprung von 17.387 Studenten im Jahre 1938 auf 4 7.3 6 5 im Studienjahre 1 9 4 5/4 6, eine unerhörte und noch nicht abreißende Entwicklung. In Prag, wo heute 912.000 Menschen wohnen, gibt es nicht weniger als 4 0.0 0 0 in- und ausländische Studenten, obwohl die über 5000 sudetendeutschen Studenten der Vorkriegszeit längst des Landes verwiesen sind. In Jugoslawien wurden im heurigen Frühjahr an 25 Fakultäten 37/192 Studenten, davon allein in Belgr-d 22.000. gezählt und schon strömen wieder 9000 Abiturienten an die Hochschulen.

Während aber nur die Tschechen und die Polen eine Übersättigung mit akademisch gebildeten Berufwerbern fürchten, ist dies bei den Balkanslawen nicht der Fall. Die mk Eifer betrieben Industrialisierung wird eher durch den Mangel an fachlich geschulten Menschen gehemmt und die Realisierung dos Fünf jihresplans in Jugoslawien erfordert Uj End 1951 sogar einen Zuwachs tos 25.000 hochqualifizierten Akademikern, wofür der Plan auch gewiss Vorkehrungen enthält. Deshalb wird hier ganz im Gegensatz zu den Bedürfnissen der Westslawen das Hoohschulsrodiura mit allen Mitteln, empfohlen and die Verteilung der Studenten auf die einzelnen Fachgruppen deshalb gelenkt, weil die freiwillige Berufswahl der Mittelschüler bisher nicht im Einklang mit den Erfordernissen der Wirtschaft stand. Die Inskribierungen an der Belgrader Universität ergaben beispielsweise in diesem Herbst die Tae-sache, daß nur die technische Fakultät mit den Neucinschreibungen zufrieden ist, während die für den Mittelschullehrernachwuchs wichtigen Fächer der Philosophie, der Naturwissenschaften, aber auch die land-und forstwissenschaftliche und die tierärztliche Fakultät einen nur schwachen Zustrom an Hörern melden. Von den Blättern wurde es auch gerügt, daß die Studenten der Philologie mit Vorzug die germanische und romanische Sprachgruppe wählen, hingegen für die Slawistik und vor allem für das Studium der russischen Sprache eine auffallend geringe Neigung bekunden.

Die0 äußeren Formen der Hochschulautonomie wurden von der Revolution kaum berührt. In Polen verkehrt der Unterrichtsminister mit den Hochschulen über einen Hochschulrat, in Jugoslawien über die Rektorenkonferenz, während die Tschechoslowakei die direkte Verständigung des Ministers mit den Rektoren bevorzugt. Hingegen hat die Turbulenz der letzten Jahre den Lehrkörper recht arg in Mitleidensdiaft gezogen. Fast an jeder Hochschule sind Professoren unter dem Titel einer politischen Belastung ausgeschieden, andere von konjunkturell emporstrebenden und nicht immer fachlich gleichwertigen Kräften verdrängt worden. Trotz des Sträubens der akademischen Behörden ist die Neubesetzung eines Lehrstuhles ein Politikum und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei nicht selten ausschlaggebend.

Die Annexion dieser europäischen Oasen in der östlichen Demokratie durch das Regime hat sich zuerst auf kaltem Wege bei den Südslawen vollzogen, wo die Vor-sdiriften des Staates und der Volksfront an die Hochschulen noch den Ton der höflichen Empfehlung lieben,' jedoch nichts anderes mehr sind als Monologe. Hingegen haben sich die tschechischen Hochschulen noch mit größtem Erfolg von parteilichen Einflüssen auf die Wissenschaften selbst freigehalten, denn viele Professoren lehnen es ab, der Politik einen Zutritt zu der „neutralen Zone“ ihrer wissenschaftlichen Forsdiung zu gewähren, auch wenn sie selbst in Parteien tätig sind. In Polen scheint aber der kämpferische Marxismus nicht mehr diese Toleranz zu gewähren, denn er hat nun die Autonomie der Schulen und der Wissensdiaften öffentlich zur Diskussion gestellt. In dem Wochenblatt der linken Sozialisten, ..Kuznica“, verlangt ein Hochschullehrer von den Wissenschaftlern, sie mögen dem Aufbau der Volksdemokratie nicht nur ihre Methoden, sondern auch ihren Geist leihen. „Jede Revolution strebt notwendigerweise zur Integralität und verträgt keine Zone der Unberiihrbarkeit und der Neutralität. Es ist ein naiver Glaube, daß sie die Wissenschaft schonen und auf ihren alten, vorrevolutionären und dadurch konterrevolutionären Pfeilern weiter ruhen läßt, um so weniger, als diese zum wichtigsten Instrument der Verbreiterung und Aufre'-hterhaltung unserer revolutionären Errungenschaften werden muß.“

Konkret verlangt man von den Wissenschaften, daß sie „nicht nur die Loslösung von den liberaldemokratischen und kapitalistischen Lehrsätzen und Systemen vollziehen, sondern diese auch mit der vollen Autorität ihre Qualitäten verurteilen müssen. Die Wissenschaften und die wissenschaftliche Gestaltung müssen demokratisiert in dem Sinn werden, daß sie der raschen und permanenten Zivilisation und dem kulturellen Fortschritt der Volksmassen dienen“.

Als Sprecher der Gegenseite fungieren In diesem Falle die Demokraten und die Katholisch-Sozialen, die geltend machen, daß nichts den Marxismus zu dem bisher nur machtpolitisch unterstützten Anspruch berechtige, die Wissenschaften allein zu beherrschen, zumal sich das Leben nicht in das enge Bett eines noch gar nicht erprobten Systems pressen lasse.

Diese Entgegnung trug ihnen die scharfe Rüge eines polnischen Sozialdemokraten, Jendrechovski, ein, der den Anhängern der Kulturautonomie den Vorwurf machte, sie reservierten Wissenschaft, Kunst und Kultur für jene „besitzenden Klassen“, die im Leben Polens noch existieren oder aus ihm eliminiert wurden. Er unternimmt als erster den Versuch, demagogisch in die Arena zu treten, wo bisher noch die sachlichen Argumente gebraucht wurden. Dabei geht es weder hier noch in Prag um den Wert oder Unwert des Marxismus als einer wissenschaftlichen Theorie, sondern einzig u m die Freiheit des Vortrages ex cathedra, wobei sich gerade die Tsdnechen auf T. G. Masaryk berufen können, dessen wissenschaftliche Laufbahn mit dem Marxismus begann und mit der Verkündung der humanitären Demokratie und ihrem Gesetz der Liebe und Gerechtigkeit ihren Höhepunkt erreichte.

Auch in der studentischen Jugend schlägt der revolutionäre Umbruch noch stürmische Wellen. Die rein politischen Wahlen in die Studentenschaft und in den Fakultätsvereinen sind nichts anderes als lärmende Kopien der Parlamente. Doch darf die Anwesenheit von vielen jungen Menschen in den Parteikadern und in der Staatsverwaltung sowohl bei den Westslawen wie am Balkan nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Mehrheit der Jugendlichen von der Parteipolitik nichts mehr wissen will. Es sind nicht immer die besten Elemente, die von der Revolution emporgetragen wurden und nun von den Kommunisten erwarten, vor dem Anspruch der Sachlichkeit und der beruflichen Eignung geschützt zu werden. Die „fanatische Jugend“, von der ein bejahrter tschechischer Hochschullehrer sagt, sie sei viel zu einseitig, konnte das Interesse der jungen Tschechen an dem kommunistisch geführten Einheits-verband „Verein tschechischer Jugend“ bisher nur mit den gröbsten Schlagern wachhalten, und auch auf akademischem Boden erlischt das Strohfeuer der Begeisterung sofort nach der Wahl der Ausschüsse. Der Großteil dieser Altersschichte steht bei den Westslawen außerhalb der Organisationen oder bevorzugt eine ihrem Wesen angemessene stille Beschäftigung in den unpolitischen Vereinen, weshalb es wohl eine der größten Überraschungen dieses Sommers war, daß zu dem Kongreß der katholischen Jugend in Prag 12 0.0 00 Personen kamen und in einem gigantischen. Umzug für ihre Ideale manifestierten. In diesem Sinne ist auch eine Feststellung der unparteiischen Prager Wochenschrift „Dnesek“ zu verstehen, wonach die Entwicklung in den Studentenvereinen seit der Revolution „von links nach rechts geh t“. Mehr noch, viele Jugendliche sowohl an den Hochschulen wie zu Hause, entziehen sich nicht nur den politischen, sondern auch jenen menschlichen Einflüssen, die sie vor Demoralisation beschützen könnten. In Polen klagt die Linkspresse ebenfalls über eine Absonderung vor allem der Dorfjugend vom Parteienleben, eine Tendenz, die auch auf die unerfreulichen Auseinandersetzungen zwischen dem Regime und der bäuerlichen Opposition um Mikolajczyk zurückzuführen ist.

Noch am stärksten vermochten die Kommunisten in Jugoslawien und Bulgarien die Jugend an ihre Vereine zu fesseln, weil sie es verstanden, deren Aktivität auf nützliche Objekte, wie den Bau der Omladinabahnen, zu lenken. Dieses Vorhaben wird denn auch mit einer kultischen Feierlichkeit abgewickelt, die jede kritische Regung lähmt, weshalb es Jahre dauern wird, ehe diese Jugend nach einer geistigen Begründung der neuen Postulate des Regimes verlangen wird. Hier ist der Unterschied zwischen Hochschulboden und dem praktischen Leben verwischt, es herrscht der Typ des schematisierten Lehrers und eines pädagogischen Systems, das dem Geist mißtraut und den technischen Fortschritt anbetet. Mit erbarmungsloser Konsequenz hält das Regime jede dem Westen entlehnte Idee von dieser Jugend fern. Um sich auch . in der Zukunft vor einer Infiltrierung solcher Ideen zu schützen, soll die „neutrale Zone“ der Hochschulen ausgelöscht werden. Geist kann aber nur durch besseren Geist überwunden werden.

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