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Neopuritanismus der Sowjetjugend

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Die jüngere Tochter eines volksdemokratischen Parteichefs in Südosteuropa hat den Beruf einer Filmschauspielerin gewählt. Unleugbar begabt, lehnt ausgerechnet sie Rollen sozialistischer Heroinen brüsk ab und spielt vorzugsweise Vamps und klassenfeindliche Gesellschaftsdamen. Im Sommer 195 8 bereicherte sie die Chronique scandaleuse der „neuen Klasse“, indem sie sich Hals über Kopf in den Regisseur verliebte und (natürlich gemeinsam mit ihm) den Dreharbeiten wochenlang fernblieb. Nun hat aber Fräulein G. doch seit ihrer Kindheit in Schule und Jugendorganisation, im Elternhaus — kurzum, bei jeder Gelegenheit — eitel gute Lehren und Ratschläge erhalten, die sie eigentlich zur jungen, sozialistischen Heldin hätten formen müssen. Dieser propagierte Idealtyp des Parteinachwuchses opfert bekanntlich persönliche Interessen jederzeit dem Kollektiv, verhält sich schlicht, proletarisch, patriotisch. Getreu nach Lenin, wird die Arbeit um der Arbeit willen geleistet; ganz gleich, ob man dabei Kohle schaufelt oder eine Integralrechnung löst. Unbekümmerte Freizeitgestaltung oder absichtslose Muße, gar eine Vorliebe für trautes Familienleben, fernab von hektischer Betriebsamkeit für die Gesellschaft, werden als Ausgeburten „westlicher Fäulnis“ schroff abgelehnt.

Warum eifert die Genossin G. nicht jenen Leitbildern nach, die ihr gerade in den Jugendansprachen ihres Vaters so eindringlich vor Augen gestellt werden? Eine ihrer Altersgenossinnen bemerkte zu dieser Frage: „Vermutlich ist ihr so ein Heldinnenleben zu langweilig!“ Aber besonders sowjetische Moralideologen fragen heute besorgt, warum eigentlich der sozialistische Heldentypus in der Sowjetjugend sowenig Nachahmer finde. Sogar in der sowjetischen Literatur der letzten drei Jahre sucht man vergebens nach einer ideologisch so intransigenten Hauptfigur, wie sie seinei'zeit Ostrowski] mit dem jungen Pavka Körtschagin in derrt Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ gezeichnet hat. Die jungen Schriftsteller der UdSSR und des gesamten Ostblocks gehen heute von dem so herrlich sieghaften, beinahe fehlerfreien, konfliktlosen, positiven Helden ab und schildern wenigstens die Ausgangslage in ihren Romanen und Erzählungen realistischer. Ihr Tribut an die Ideologie besteht darin, daß eine oder mehrere ihrer Hauptfiguren im Verlauf der Handlung zur Parteilinie und zum Sozialismus bekehrt werden.

GENÜGT DIE IDEOLOGIE?

In Ilja Ehrenburgs „Tauwetter“ sagt der junge Maler Viktor einmal: „Ideen? Ideen sind gefährlich. Es genügt, wenn man eine Ideologie hat.“

Eines Tages erlebt jeder Jugendliche den Widerstreit zwischen Ideologie und Wirklichkeit, obwohl ihre Identität von der Parteidoktrin behauptet wird. Mehr noch: gerade die junge Sowjetintelligenz demonstriert manchmal den offenen Gegensatz zum Marxismus-Leninismus. Die meisten der jungen Hoch- und Fachschüler begegnen zwar der vorgetragenen Lehre mit Konformismus. Diese Anpassung an das proletarische Ideal hindert sie jedoch nicht, ein „kleinbürgerliches“ Versorgungsdenken zu vertreten. Mit einer fast militärischen Disziplin bewältigen sie die zahlreichen Pflichten und Prüfungsfächer, weil heute der Aufstieg in die „neue Klasse“ von der Absolvierung höherer Lehranstalten abhängt. Soferne es sich aber insbesondere um die Jeunesse doree der Oberschichte handelt, droht das Aufkommen eines isolationistischen Bildungs-Klassendünkels.

Gegen diese Abkapselung und Verkarstung der Oberschichte, gegen eine unpolitische Konsumentenhaltung der jungen Intelligentia, gegen lehrbetriebsmäßig geförderte Karrieremacherei der Studierenden richtet sich nicht zuletzt der am 21. September 195 8 in der Moskauer „Prawda“ veröffentlichte Entwurf N. S. Chruschtschows: „Ueber die Festigung der Verbindung der Schule mit dem Leben und über die weitere Entwicklung der Volksbildung im Lande.“ Dieses Programm einer umfassenden, einschneidenden „Reorganisation der Volksbildung“ in der UdSSR ist zugleich ein Eingeständnis, daß es der ideologischen Pädagogik durch das bisher geltende Erziehungswesen nicht gelungen ist, für den Nachwuchs in Staat und Wirtschaft das formende, verbindliche Erziehungsideal zu schaffen. Es geht dabei gar nicht so sehr um den Nachweis der Identität zwischen Sowjetideologie und Wirklichkeit, sondern darum, ob von der jungen Generation die Identität zwischen KP-Führung und Volk, zwischen den Zielsetzungen des heutigen Obrigkeitsstaates und den Wünschen der Jugend als zutreffend empfunden wird.

OBRABOTATJ = STUDIENZULASSUNG ABARBEITEN I

Die Jahrestagung 195 8 der Deutschen Gesellschaft für Östeuropakunde behandelte in Bad Pyrmont das Erziehungswesen und Nachwuchsprobleme der Sowjetunion. Neben erfahrenen Ostexperten steuerten.Mitglieder einer kurz vorher aus Moskau heimgekehrten bundesdeutschen Studentendelegation ihre Reiseeindrücke zum Thema bei. Dem Für und Wider um Chruschtschows schulreformerische Septemberentwürfe ließ sich dabei unter anderem folgendes entnehmen:

Die Verknappung des Arbeitskräftepotentials in der UdSSR ist seit 195 3 offenkundige Tatsache. Geburtenzuwachs und Sterbeziffern der mehr und mehr differenzierten Industriegesellschaft bewegen sich bereits auf dem niedrigen westmitteleuropäischen Niveau. Diese stabilisierten Zuwachsraten zwingen die Sowjetführung zu langfristigen Vorkehrungen, um künftig die steigenden Produktionsziele der Planwirtschaft zu gewährleisten. Intensivierung, Rationalisierung, erhöhte Arbeitsproduktivität des einzelnen in Industrie und Landwirtschaft sollen den zahlenmäßigen Nachwuchsbedarf relativ herabmindern. Zugleich muß aber eine verbesserte Qualifizierung der jungen Berufskräfte einsetzen, um die komplexen Aufgaben des Atomzeitalters zu meistern.

Ideologiepädagogisch bezwecken die Um-planungen des Erziehungswesens einen Rückgriff der alten Bolschewiki auf das arbeitsethisch revolutionäre Zeitalter des jungen Sowjetstaates während der zwanziger Jahre. Damals schon wurde das polytechnische Bildungs- und Ausbildungsideal im Schulsystem experimentiert. Man sprach vom „Absterben der Schule“, weil ihre Aufgaben von der Gesellschaft übernommen würden, das heißt dem Komsomol, der Gewerkschaft, den Parteiinstanzen.

Die anfängliche Schülerräteepisode und der Polytechnisierungsversuch der zwanziger Jahre leiteten während der dreißiger Jahre zu einem Schultyp über, der — sehr bourgeoismäßig — vorwiegend Allgemeinwissen vermitteln wollte. Die eigentliche Stalin-Aera kreierte sodann die Lernschule, um im Fließbandverfahren den Nachwuchsbedarf an Spezialisten mit recht begrenztem Ausbildungsziel zu decken. 1952 war es noch J. W. Stalin selbst, der das Lernschulsystem als unzureichend erkannte und neuerlich die polytechnische Erziehung forderte. Kernstück dieses im September 1958 neu formulierten Programms: zweimalige Unterbrechung der schulischen Ausbildung durch mehrjährigen Arbeitseinsatz vor einer stark gedrosselten Zulassung zum Hochschulstudium. Nach dem Besuch der Grundschulklassen erfolgt für die etwa Vierzehnjährigen die erste vorberufliche Praxis in der- Produktion. Die Mittelschule hat auf polytechnischer Grundlage die Hauptaufgabe, eine möglichst abgeschlossene Berufsausbildung zu vermitteln. Werkunterricht, Ferieneinsätze, tageweise Betriebsausbildung an mittleren Lehranstalten dienen weniger der Vorbereitung zum Studium, sondern sollen vor allem die Basis der mittleren Technikergarnitur verbreitern.

Bereits im Herbst 1958 waren 80 Prozent der Studienplätze an Universitäten und Fachhochschulen jenen Abiturienten vorbehalten, die eine zwei- bis dreijährige Produktionspraxis nachweisen konnten. So versteht man auch den neuen Ausdruck in Schüler- und Elternkreisen, „obrabotatj“ = die Praxis abarbeiten, „ab-fronen“, an die der Aufstieg in die technische Intelligenz geknüpft wird. Den künftigen „Helden der Produktion“ hat die Produktionsschule vorzubereiten. Ob freilich die beantragte pausenlose Betriebsamkeit und ernüchternder Puritanismus im Kindes- und Jugendalter die gewünschten allseitigen Qualitäten der Spezialisten und. Produktionsleiter verwirklichen Kön-I len;“ daran ““zweifelten “westmitteleuropäische! Pädagogen, Psychologen und Soziologen wohl zurecht.

ERZIEHUNGSSYSTEME IM WETTBEWERB

Vortragende und Diskussionsredner der Osteuropatagung zu Pyrmont wiesen darauf hin, daß die bevorstehende Umplanung der Sowjeterziehung durch die bisherige Entwicklung der mittleren und höheren Lehranstalten tendenzmäßig vorbereitet erscheint: rund ein Drittel der 2,1 Millionen Studierenden zählen zum Ingenieurnachwuchs. Von den am 1. Jänner 1958 in der Sowjetunion bestehenden 767 Hochschulen kann man lediglich 39 als Universitäten im herkömmlichen Sinne bezeichnen; die übrigen 728 höheren Lehranstalten sind Fach-Hochschulen mit häufig eng begrenztem Studienziel.

Bereits auf dem XIII. Komsomolkongreß im April 1958 proklamierte N. S. Chruschtschow als Ideal typ. den Werkstudenten, der sein Studium — ohne Unterbrechung seines Arbeitseinsatzes in der Produktion — überwiegend in Fern- und Abendkursen beendet Der erste

ZK-Sekretär der KPdSU, erstrebt als Managertyp von morgen den zähen Selfmademan, der in einem geradezu soldatischen Werdegang den akademischen Bildungsgrad nebenbei erledigt hat. Wehe den Herrensöhnchen, den Faulpelzen und Rowdies, die sich als bis jetzt privilegierter Nachwuchs der „neuen Klasse“ in einem gan-und gar unproletarischen Lebensstil gefallen!

An diesem Punkt aber setzt die Frage ein, ob und wieweit der planrationale Rigorismus zur Renaissance des revolutionären Produktionshelden in der angekündigten Form durchführbar sein wird. Zunächst sind es gar nicht bloß die arrivierten Eltern von Muttersöhnchen und Modepuppen, die ihren Sprößlingen das Spar-tanertum sowjetrevolutionärer Frühzeit ersparen möchten. Ernsthafte Bedenken werden von Universitätslehrern vorgebracht, die verschiedenen Studienfächern ein fünftes, ja sechstes Kursjahr hinzufügen möchten, weil das derzeit geltende Pensum zur vielseitigen technischen Ausbildung der Spitzenklasse einfach nicht mehr hinreiche.

Einen Umbruch des Denkens beinhalten die Reformentwürfe vor allem aber für die Schüler der mittleren Lehranstalten. Ein weit geringerer Prozentsatz als vergleichsweise in Westeuropa wird nach dem Abitur Aufstiegsmöglichkeiten über das Hochschulstudium erhalten. Bis jetzt bot eine fast inflationistische Akademikerbildung breiten Massen der jungen Intelligenz fast unbegrenzte Aufstiegsmöglichkeiten. Künftighin soll nur noch ein sehr geringer Bruchteil der Abiturienten Hochschulreife und die damit verbundene soziale Besserstellung erlangen können.

Die Tatsache, daß seit 1953 bereits eine Anzahl Schulreformen angekündigt, revidiert, zurückgezogen wurden, gestattet ferner die Vermutung, daß unter Umständen auch jetzt heißer gekocht als gegessen wird.

Wie immer aber das neue Umerziehungsexperiment ausgehen wird — so lautete das einhellige Fazit der Pyrmonter Gesprächsteilnehmer —, die neuerlich betonte, zentrale Funktion von Bildung und Wissenschaftsarbeit in der Sowjetunion wird und kann auf die Dauer den Anschluß an den bildungsmäßigen Vorrang einzelner Westländer beschleunigen. Die eigentliche Wettbewerbssituation zwischen Ost und West liegt wesentlich in den gegensätzlichen Methoden der Förderung und Erziehung des geistigen Nachwuchses. Menschenbildung und Menschenbild entgegengesetzter Systeme werden für die Zukunft weit stärker den Ausschlag geben, als produktioneile Steigerungsquoten und Sputnik-Explorer-Kontroversen. Der Westen hat allen Grund, seine bisherigen Anstrengungen auf erzieherisch-wissenschaftlichem Gebiet zu verdoppeln.- Allerdings ist dabei das humanistisch-technische Bildungsideal dem Pragmatismus eingeplanter Einheitserziehung in jedem Falle vorzuziehen.

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