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Im Jahre „Sputnik I“...

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III. Die neue Hierarchie

Die Versöhnung des Sowjetstaates mit der russischen Intelligenz wurde vor allem erzwungen durch die Forderungen des ersten Fünfjahresplanes. Wollte man die Industrialisierung Rußlands weitertreiben, so mußte die Intelligenz im allgemeinen und die technische Intelligenz im besonderen ganz anders als bisher behandelt werden. Die Erfahrungen des ersten Fünfjahresplanes hatten mit aller Klarheit gezeigt, daß der Versuch, in kürzester Zeit aus Arbeitern und Bauern Akademiker zu machen, vollkommen versagt hatte. Von den Absolventen der Arbeiterfakultäten war nur ein kleiner Prozentsatz brauchbar. Noch schlimmer wirkte sich das stalinistische System der direkten Zuteilung von Proletariern an die Seite der Spezialisten in den Laboratorien und Aemtern aus. Ein großer Teil dieser Neuakademiker mußte entlassen werden, da sie die Arbeit vollständig desorganisiert hatten. Daß bei diesen Verhältnissen ein paar hundert verborgene Talente entdeckt wurden, die später Bedeutendes leisteten, änderte nichts an dem Mißerfolg. Nicht nur wurden Milliarden nutzlos verpulvert, sondern auch das Niveau der Schulen und Hochschulen hatte sich erschreckend gesenkt. Dabei verringerte sich die wirklich leistungsfähige Intelligenz zusehends. Die noch arbeitenden Ingenieure wurden so überlastet, daß allgemein in der Bevölkerung der Herzschlag als „Ingenieurtod“ bezeichnet wurde. Eines Tages kam die Geheimpolizei darauf, daß sehr viele hochqualifizierte Ingenieure ihren Beruf verheimlichten. Eine Untersuchung beim staatlichen Trust für Mineralwasserverkauf stellte fest, daß weit mehr als hundert Ingenieure mit hochwertiger akademischer Bildung als Straßenverkäufer von Mineralwasser tätig waren. Es ergab sich, daß das Einkommen eines solchen Straßenverkäufers bedeutend höher war als das eines hochqualifizierten Ingenieurs. Besonders wichtig war, daß

der Straßenverkäufer als Arbeiter galt und daher eine bedeutend bessere Stellung hatte. So, als Straßenverkäufer getarnt, war der Ingenieur all den Diffamierungen enthoben, unter denen er als Akademiker zu leiden gehabt hätte.

Plötzlich wurde das Steuer herumgerissen. Es wurde erklärt, daß die Tendenz der gleichen Entlohnung eine unmarxistische Ketzerei sei. Trotzky wurde mit dieser Häresie belastet. Auch der Vorrang der körperlichen Arbeit vor der geistigen sei eine solche Verirrung. Die neu herausgegebene Parole lautete nun: „Jeder nach seinen Fähigkeiten und jeder nach seinen Leistungen.“ Die hierarchische Ordnung in der sozialen Geltung wie auch in der materiellen Entlohnung wurde entsprechend neu geregelt. Gelernte Arbeit sollte höher bewertet werden als unqualifizierte. Der Aufstieg wurde von der Bildung abhängig gemacht, und die sogenannte schöpferische Arbeit wurde als wertvoller erklärt als die bloß ausführende. Ein heute noch geltendes Beispiel ist die Entlohnung in der Filmindustrie. Bei uns im Westen erhält das höchste Honorar der Filmstar. Nicht so in der Sowjetunion. Wohl wird auch hier ein guter Filmstar hoch bezahlt, doch den weit größeren Lohn erhält der Autor des Drehbuches. Dann folgt der Regisseur und nach ihm oft der Kameramann. Wenn auch die Arbeit des Filmschauspielers gebührend gewürdigt wird, so ist doch nach sowjetischer Anschauung der schöpferische Anteil des Schriftstellers, des Regisseurs und auch des Kameramannes höher zu werten als der des bloß darstellenden Künstlers.

Gleichzeitig setzte eine intensive Propaganda ein, welche die Intelligenz als zur höchsten Gesellschaftsschicht in der Sowjetunion gehörend erklärte. Die Intelligenz wurde mit einer Atmosphäre des Respekts umgeben. Ein ausgeklügeltes

System sorgte dafür, daß die meisten und besten Waren, die besseren Wohnungen und die luxuriösesten Sanatorien eben dieser Intelligenz zur Verfügung standen. Plötzlich wurde bei der Aufnahme in die Mittel- und Hochschulen die proletarische Abstammung nicht mehr verlangt. Umgekehrt, die Kinder der Intelligenz erhielten besondere Vorrechte auf der Hochschule! Bis dahin wurde etwa der Sohn eines Arztes, der in der zaristischen Zeit Hausbesitzer war, vom Hochschulbesuch ausgeschlossen. Von jetzt ab, das heißt etwa von 19 3 5 an, wurde er privilegiert aufgenommen. Wie damals in den Fabriken die Arbeitsdisziplin, so wurde auch die Schuldisziplin wieder rigoros hergestellt. Die Schüler- und Studienräte wurden abgeschafft. Die Disziplinargewalt der Lehrer und Professoren wurde ebenfalls wieder voll anerkannt. Die Organisationen des Komsomols durften von jetzt ab die Lehrer nicht mehr angreifen und kaum noch kritisieren. Umgekehrt wurden sie jetzt zu Hilfsorganen des Lehrpersonals bei der Durchsetzung der Schuldisziplin.

Wir wollen es uns ersparen, auf den langwierigen Weg einzugehen, den die Entwicklung des Bildungswesens und der Heranzüchtung von Wissenschaftlern seither nahm. Wir wollen es nur schematisch darstellen, wie es heute ist.

Grundsätzlich ist jeder Unterricht und jede Weiterbildung in der Sowjetunion unentgeltlich. Von dem Augenblick an, wo sich ein junger Mensch der eigentlichen Berufsausbildung zu widmen beginnt, also vom Augenblick des Eintrittes in eine Fach- oder Hochschule, übernimmt der Staat auch die Lebenshaltungskosten des Studierenden. Es wäre jedoch falsch, anzunehmen, daß dieses System eine ausschließliche Erfindung des Sowjetstaates ist. Viele Staaten, wie etwa Oesterreich-Ungarn bis 1918, verschafften einem jungen- Menschen eine vollkommene berufliche Ausbildung und zahlten ihm während des Studiums den Unterhalt, wenn er sich verpflichtete, nach Absolvierung des Studiums eine bestimmte Anzahl von Jahren in einem bestimmten Zweig des Staatsdienstes zu dienen. Das galt vor allen Dingen für die zukünftigen Berufsoffiziere der Armee und der Marine. Man konnte jedoch auch an der Universität Medizin studieren, wenn man sich dazu verpflichtete, später wenigstens sieben Jahre als Militärarzt zu dienen. Man konnte kostenlos auf der zivilen technischen Hochschule Ingenieur werden, wenn man Sich bereit erklärte, später Marine-Ingenieur zu werden. Dieses System ist frühzeitig in Rußland auch vom zaristischen Staat übernommen und entsprechend den Bedürfnissen des großen Lan-

des weit ausgebaut worden. Allerdings profitierte damals vorwiegend nur der Adel davon.

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Dieses bereits weit ausgebaute System einer staatlich finanzierten Berufsausbildung nahmen die Sowjets als Ausgangspunkt ihrer Reformen. Das war auch logisch, denn jetzt trat jeder Absolvent einer Fach- oder Hochschule in den Staatsdienst. Beim Hochschulstudium hatte man dazu ein ganz interessantes System ausgedacht. Man kann nämlich entweder auf Grund eines allgemeinen Stipendiums oder auf Grund einer „Kontraktion“ studieren. Das Stipendium ist relativ bescheiden. Untergebracht wird ein solcher Student vielfach in Massenquartieren. Für die Ferien stehen ihm relativ bescheidene Erholungsheime zur Verfügung. Ein solcher Student hat jedoch keine besonderen Verpflichtungen für die Zeit nach seinem Studium übernommen. Er kann sich seinen Arbeitsplatz relativ frei wählen. Dagegen bedeutet Kontraktion, daß der Student einen ganz bestimmten Studienvertrag mit einem bestimmten Ministerium, mit einer Behörde oder mit einem Industrieunternehmen abschließt. Die zahlende Stelle übernimmt den Lebensunterhalt des Studierenden. Die geldliche Zuwendung ist bedeutend größer, als es die normalen Stipendien sind. Das Ministerium oder Unternehmen sorgt auch für gute Unterkunft ihrer Studenten. Ihre sozialen Einrichtungen und Erholungsheime stehen ihren Studenten zur Verfügung. Diese unterwerfen sich dagegen der Kontrolle ihrer Auftraggeber betreff gewissenhaften Studiums, und vor allem verpflichten sie sich, nach Studienabschluß eine bestimmte Anzahl von Jahren dort zu arbeiten, wohin man sie schickt. Dieses System der Kontraktion ist durch den Krieg und die Nachkriegsverhältnisse stark durcheinandergebracht worden und spielt heute in der Sowjetunion eine geringe Rolle. Dies ist schon deswegen der Fall, weil der auf normale Weise, das heißt mit den allgemeinen Staatsstipendien studierende Student heute besser lebt, da heute im Gegensatz zur,Zeit vor dem Krieg zahlreichere und kcrrafojftabler eingerichtete Studentenhäuser zur Verfügung stehen.

Das verbesserte System der Heranbildung von Fachleuten und Akademikern ermöglicht es schon heute der Sowjetunion, 7 0 0.0 0 0 I n g e-nieureundTechnikerjährlichneu in die Industrie überzuleiten. Dabei funktioniert noch ein weiteres System. Es ist das System der Abendkurse und vor allem der Fernhochschulen. Auf diese Weise kann jeder Arbeiter bis zum Ingenieur aufsteigen, indem er doch wieder zur freiwilligen Anmeldung von zuerst einmal durch Abendkurse Techniker oder Maturant wird, um dann durch die Fernhochschule zum Ingenieur aufzusteigen. Diese Fern-

hochschulen sind sehr gut organisiert. Sie verschicken Vorlesungen und Seminararbeiten schriftlich, und ebenso schriftlich per Post sendet der Fernstudent die erledigten Arbeiten wieder ein. Jeder, der sich in einen Abendkurs oder in eine Fernhochschule einschreibt, erhält gesetzlich unter voller Bezahlung entsprechenden Urlaub. So haben die Fernstudenten einen Monat zusätzlichen Urlaub, um ihre Jahresprüfung zu machen, und drei Monate Urlaub für die abschließende Diplomprüfung.

Im Vergleich zu den Universitäten und Hochschulen der Vorkriegszeit hat sich das akademische Unterrichtsprogramm in der Sowjetunion verengt. Es ist nicht mehr so universell wie zur zaristischen Zeit und lehnt sich an gewisse Vorbilder des Westens an, indem auf eine Spezialisierung hin tendiert wird.

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Wenn die Sowjetunion in immer größerer Anzahl Ingenieure heranbildet, so bleibt doch das alte russische Problem bestehen, nämlich der Mangel an mittleren und unteren qualifizierten Kräften. Ein großer Teil der Techniker und selbst der Werkmeister rücken zu Ingenieuren auf. Unmittelbar nach Kriegsende war der Mangel an Werkmeistern und qualifizierten Spezialarbeitern so groß, daß man wieder in Anlehnung an das alte Rußland eine Zwangsrekrütierung von Knaben für die neugeschaffenen Gewerbeschulen anordnete. Seit 1946 mußten die dörflichen Gemeinden der Sowjetunion zwangsweise eine bestimmte Anzahl von Knabenrekruten für die neuen Gewerbeschulen stellen. Diese Schulen, die Internate sind und deren Schüler uniformiert sind, lehnen sich eng an große Industriebetriebe an. Damit werden die Gewerbeschüler streng spezialisiert. Mittlerweile ist man doch wieder zur freiwilligen Anmeldung von Schülern übergegangen.

Zur Heranbildung von Wissenschaftlern, die sich der eigentlichen For::lmng widmen, dient

das System der akademischen Grade. Auch hier lehnt man sich eng an das zaristische Vorbild an. Denn auch in der Zarenzeit verlieh die Absolvierung einer Universität noch keinen akademischen Grad. Der Absolvent einer technischen Hochschule erhielt den Titel eines Ingenieurs, der geschützt war, der Absolvent zum Beispiel der medizinischen Fakultät den Titel eines „Arztes“. Die Juristen und Philosophen erhielten nur ihr Diplom, jedoch keinen besonderen Titel. Nur Juristen, die ihr Examen mit Auszeichnung bestanden, erhielten den akademischen Grad „Kandidat der Rechte“ und die Philosophen den ganz mittelalterlich klingenden Titel „Wirklicher Student der Philosophie“. Es kam im alten Rußland immer wieder vor, daß ältere Aerzte, die in der Praxis standen, später doch einmal den Doktorgrad erwarben. Doch im ganzen russischen Kaiserreich gab es keinen einzigen Richter oder Rechtsanwalt, der den Doktortitel trug. Nur wissenschaftlich arbeitende Hochschullehrer verteidigten in den Fakultäten außerhalb der medizinischen eine Doktordissertation.

Diese Tradition haben sich die Sowjets zu-

nutze gemacht. Das System der akademischen Grade soll automatisch die Kader für die wissenschaftliche Forschung liefern. Wer diesen Weg beschreiten will, muß zuerst privat wissenschaftlich arbeiten, um so den ersten wissenschaftlichen Grad zu erwerben. Es ist der Grad des Kandidaten. Es gibt Kandidaten der technischen, der medizinischen und aller anderen Wissenschaften. In dem Augenblick, da jemand diesen Grad erreicht, gehört er zu den wissenschaftlichen Kadern und wird Hochschulen, Universitäten, Forschungsinstituten oder wissenschaftlichen Akademien zugeteilt. Erst wenn es ihm 'nach Jahren gelingt, durch Vorweisung einer entsprechenden Arbeit den Doktorgrad zu erwerben, wird er Wissenschaftler in vollem Sinne des Wortes mit allen materiellen und moralischen Privilegien des akademischen Standes. Dieser ist streng hierarchisch gegliedert. Die Rangordnung ist die folgende: Assistent, Adjunkt, Dozent, Professor, Professor-Chef eines Katheders. Der höchste wissenschaftliche Rang ist die Mitgliedschaft bei den wissenschaftlichen Akademien. Wer diese besitzt, wird Akademiker in besonderem Sinne genannt. Es gibt hier drei

Stufen. Die unterste ist die Mitgliedschaft an der Akademie einer Bundesrepublik. Die zweite Stufe ist die Mitgliedschaft an einer allgemeinen Fachakademie, wie z. B. der Akademie für Medizinische Wissenschaften der Sowjetunion. Die höchste Stufe ist erreicht, wenn man Mitglied der Akademie der Sowjetunion, der Nachfolgerin der alten 1725 gegründeten zaristischen Akademie der Wissenschaften, wird. Alle Mitglieder aller drei Stufen erhalten reichliche Mittel für ihre wissenschaftliche Tätigkeit. Sie besitzen alle ihre eigenen Institute mit zahlreichem Hilfspersonal, in denen sie alleinige Gebieter sind.

Neben diesem System bestehen noch andere Einrichtungen, um zum wissenschaftlichen Fortschritt anzuspornen. Da gibt es die Orden, dann die Ehrentitel. Ein solcher ist von der Zarenzeit übernommen und lautet jetzt: Verdienter wissenschaftlicher Arbeiter. Dieser Titel ist zweistufig. Ihn verleiht jede der Bundesrepubliken und als höhere Auszeichnung auch die Sowjetunion als Ganzes. Der höchste Titel ist: „Held der Arbeit der Sowjetunion“.

Fortsetzung und Schluß in der nächsten Nummer

der „Furche“: „Die oberste Schichte.“

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