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Akademiker gesucht!

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..Sorgen machen mir nicht die großen Probleme, weil sie sich automatisch regeln, sondern die kleinen, weil sie oft falsch gelöst werden.“ Der Vater dieser Weisheit aus dem Verwaltungsressort soll ein alter Hofrat im alten Oesterreich gewesen sein. Si non e vero .... so wird man doch durch die jüngste Entwicklung auf dem Sektor der akademischen Berufe daran erinnert.

Es ist noch nicht lange her, daß vor einer Uebersättigung der allgemeinen Kapazität an Intelligenz, vor einer Ueberfüllung der Hochschulen, vor jedem Studium schlechthin gewarnt und das Problem der Unterbewertung und Unterentlohnung immer neu abgehandelt wurde. Die geistigen Berufe galten als das Sorgenkind der modernen Gesellschaft. Die Selbsthilfemaßnahmen verschiedener ad hoc gebildeter Organisationen, Straßendemonstrationen der Aerzte, Streiks der Mittelschulprofessoren, all das liegt noch nicht weit zurück, und erst in ihrer letzten Nummer wies die Oesterreichische Hochschulzeitung darauf hin, daß die „Vergessenen des Wirtschaftswunders“, mit deren Situation sich der Leitartikel einer Schweizer Wochenzeitschrift befaßte, sich unangenehm in Erinnerung bringen dürften. Wenn die Anzeichen nicht trügen, dürfte das große Problem der Unterbewertung geistiger Arbeit jetzt freilich im Begriff sein, sich „automatisch“ zu lösen.

Eine Anzeige in einer amerikanischen Fachzeitschrift pries jüngst eine Villa mit Swimmingpool und Tennisplatz im Garten, mit Lage an guter Autostraße zum Nationalpark, die Gewährung von Höchstgehalt mit Extraprämien und Leistungszulagen bei Fünftagewoche an, und nur quasi am Rande war vermerkt, daß für all diese Annehmlichkeiten die Tätigkeit eines Elektroingenieurs erwartet werde. Zu solchen Werbemaßnahmen entschließt man sich in den USA bereits, da der Bedarf an qualifizierten Kräften für leitende Funktionen nicht zu decken ist.

Wie immer bei Verschiebungen im volkswirtschaftlich-soziologischen Gefüge machen sich Tempo und Art der Veränderung entsprechend dem Sozialgefälle mehr oder minder stark und plötzlich fühlbar. Was in Amerika schon zur Katastrophe ausartet, ist in Westeuropa immerhin zur Krise gediehen, während w i r erst einige Vorzeichen spüren. In den USA fehlen für die technisch-wissenschaftlichen Forschungslaboratorien allein 75.000 qualifizierte Kräfte. Im Sektor der westdeutschen Maschinenindustrie besteht ein Sofortbedarf (Fehlmenge) an 7000 Ingenieuren. Der Verein deutscher Ingenieure, der diese Zahl erhoben hat, kommt bei ihrer Umrechnung auf den gesamten, alle Sparten umfassenden Ingenieurberuf zu einer Fehlmenge von annähernd 37.000 Ingenieuren in der deutschen Bundesrepublik.'

Allgemeine Strukturwandlungen in Wirtschaft und Produktion machen diesen hohen Bedarf verständlich. Immer mehr steigt der Anteil, den die geistige Arbeit vor der Fertigstellung eines Wirtschaftsproduktes zu leisten hat. Wieviel an Versuchs- und Konstruktionsarbeit verlangt zum Beispiel ein Fernsehgerät oder ein Flugzeug! Mit der Vervollkommnung eines Produktes wächst das Erfordernis geistiger Vorarbeit, es füllen sich die Konstruktionsbüros in dem Maße, wie sich die Fabriksäle im Zeichen der Mechanisierung leeren.

Dazu kommt mit der Erhöhung des Lebensstandards und der allgemeinen Konjunktur eine Ausweitung der maschinellen Produktion, da auch viele ehemals handwerkliche Fertigungen nunmehr in die industrielle Verarbeitung hineinwachsen. Daneben entfalten sich zum Teil geradezu revolutionär ganz neue Industriezweige wie zum Beispiel die Entwicklung der Kunstfaser. So bringen Strukturwandel und Produktionsausweitung einen erhöhten Bedarf an Ingenieuren, und so hat sich die Wertung der geistigen Arbeit nicht lediglich als Folge der wetterwendischen Konjunktur geändert. Der Verein deutscher Ingenieure sucht dieser Sachlage Rechnung zu tragen, indem er in einer Denkschrift zur Erweiterung der Ingenieur-schul-Kapazität forderte, daß die Zahl der Absolventen um die Hälfte gesteigert werde. Es ist interessant, dagegen ein Streiflicht auf die entsprechenden Verhältnisse in Oesterreich zu werfen:

Der Mangel an Ingenieuren, qualifizierten Physikern, Chemikern und Mathematikern wirkt sich schon so weit aus, daß Vertreter bedeutender Firmen sich ihre neuen Mitarbeiter bereits von der Prüfung weg holen. In vielen Instituten ist es kaum noch möglich, wissenschaftliche Hilfskräfte zu gewinnen, ohne auf Werkstudenten zurückzugreifen. Auch die höheren Gewerbeschulen klagen über Lehrer- und Dozentenmangel. Kenner der Verhältnisse behaupten allen Ernstes, daß sich dieser Mangel zur Katastrophe zuspitzen könne, weil hier zu den angedeuteten Veränderungen des Wirtschaftsgefüges und -potentials noch die Unterbewertung der geistigen Arbeit besonders die Jugend zum Abwandern veranlaßt.

In Berkeley (California) bezieht ein emigrierter Elektroingenieur von 27 Jahren ein Einkommen von 12.000 Dollar. Eine Schweizer Firma bat jüngst den Direktor einer unserer führenden höheren Gewerbeschulen um einen geeigneten Absolventen, dem sie 700 Franken Anfangsgehalt geben wolle. „Ich wage dies Angebot“, so sagte der Direktor, „kaum an meine 21 jährigen Maturanten weiterzugeben, weil ich fürchten muß, sie mit solchen Verlockungen alle ins Ausland zu verscheuchen.“

Die Folgen kann sich jeder selbst ableiten: Unsere Industrie wird genötigt sein, die vakanten Ingenieurstellen mit Personen zu besetzen, denen die entsprechende Vorbildung fehlt. Selbst beim besten Willen aber können wir bei solchem Ingenieurersatz nicht mit den Qualitätsleistungen des Auslandes konkurrieren, was sich schnell auswirken wird, da ja nicht allein Menge, sondern auch Güte gefragt wird.

Während der Verein deutscher Ingenieure dringend eine Vermehrung der Ingenieurschulen verlangt, sei darauf hingewiesen, daß eine unserer höheren Gewerbeschulen eine Parallelklasse im nächsten Schuljahr nicht mehr fortzuführen vermag, weil ihr ein Raum für diese Klasse fehlt. Obwohl die Direktoren unserer höheren Schulen sich bereits mit Wanderklassen, Zweischichten-Unterricht. Adaptierung von Gängen, Dachböden, Kellern und selbst Aborten zu Klassenzimmern zu helfen verstanden, läßt sich hier eben kein weiterer Raum mehr finden. Die Folge ist, daß dadurch immerhin jährlich an die 30 Ingenieure weniger herangebildet werden können.

Gewiß handelt es sich nur um ein kleines Problem, wenn der österreichischen Wirtschaft eine Klasse Ingenieure verlorengeht, weil ein paar Quadratmeter Raum fehlen. Stehen bei dem bekannten Kinderschwund übrigens nicht in Volksschulen schon Klassenzimmer leer? Anscheinend hat unser alter Hofrat recht gehabt: Sorgen machen die kleinen Probleme, weil sie so oft falsch gelöst werden.

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