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Am falschen Platze sparen

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Vor Beginn der Budgetberatungen richtete das Organ der Vereinigung österreichischer Industrieller einen eindringlichen Appell an alle mit der Budgeterstellung befaßten Instanzen, das Unterrichtsbudget nicht zu kurz zu dotieren, mit dem berechtigten Hinweis darauf, daß es nicht richtig sei, am falschen Platz zu sparen. Gleichzeitig wurde auf die katastrophale Lage hingewiesen, in der sich vielfach die Industrie befindet, der nicht sosehr Kapital fehle als die Menschen, die ausreichend Kenntnisse besitzen, um etwa mit dem in neuen Maschinen angelegten Kapital umzugehen. Allein in der Privatwirtschaft konnten im Sommer an die 600 Posten nicht besetzt werden, weil die Fachkräfte, vor allem die' Fachschulingenieure, fehlen. Normal wäre nach Ansicht der „Industrie“ ein Verhältnis von vier Mittelschultechni-kern zu einem Hochschultechniker. Das tatsächliche Verhältnis aber ist derzeit 2:1, womit keineswegs gesagt ist, daß die Zahl der Hochschultechniker auch nur einigermaßen ausreicht, um die Nachfrage nach ihnen zu befriedigen.

Nun bedarf aber das heroische und vielfach unbedankte Wirken des Ressortchefs und jener Männer, die für das technisch-gewerbliche Mittelschulwesen verantwortlich sind, nicht nur einer Förderung durch Hergabe von Budgetmitteln, sondern auch durch eine attraktive Lohnpolitik. Das berufliche Schulwesen unseres Landes hat heute einen noch nie erreichten hohen Rang. Das gilt für die technischen Mittelschulen ebenso wie für die Handelsakademien. Nun kann man diesen Rang vor allem dadurch betonen, daß man auf die Massenengagements von Absolventen der berufsbildenden Mittelschulen durch das Ausland hinweist. Es mag sein, daß das versuchte Abwerben fast ganzer Jahrgänge technischer Mittelschulen so etwas wie ein Index der hohen Qualität unserer Schulen ist. Gleichzeitig und wahrscheinlich ungewollt stellt aber die Massenemigration der Maturanten insbesondere technischer Lehranstalten, auch so etwaswie eine Kritik an den Bedingungen dar, die den ausgebildeten jungen Menschen von vielen Unternehmungen geboten werden. Darüber hinaus ist die Art der Entlohnung und auch der oft und oft gebotenen speziellen Beschäftigung hochqualifizierter junger Kräfte auch eine Disqualifikation der Schulen, denen sie entstammen, und wird auch von den Lehrkräften so empfunden. Die Lohnpolitik bei den unteren Rängen aller Dienstnehmer unseres Landes, bei den Jungen vor allem, ist allmählich eine ernste Bedrohung unseres wirtschaftlichen Potentials geworden, das nicht, wie so manche meinen, nur aus Maschinen und Gebäuden besteht, sondern auch aus Menschen, denn, um „Die Industrie“ zu zitieren: „Denken schafft Umsatz.“ Mit Recht hat der Innsbrucker Oberhirte aus Anlaß des letzten OeGB-Kongresses auf diesen Umstand hingewiesen, ebenso wie Präsident Olah das „Anheben“ der Bezüge in den unteren Lohnstufen zu einer der dringlichsten Forderungen der Gewerkschaftspolitik erklärte.

Wenn man nun keine helle Freude darüber haben kann, daß so viele junge Techniker abwandern, soll das selbstverständlich keine Stellungnahme gegen die „Wanderjahre“ der Berufsanfänger sein, sondern ein ernstes Bedenken gegen einen unverantwortlichen Ausverkauf darstellen, der auch dann bedenklich und volkswirtschaftlich falsch ist, wenn man ihn mit dem „Europagedanken“ überdeckt, weil wir anderseits das, was uns „Europa“ an „Gegenlieferungen“ bietet, sehr teuer bezahlen müssen, erheblich höher, als man die Abwandernden zu bezahlen bereit war.

Die Ausbildungskosten eines Schülers an einer technischen Schule sind außerordentlich hoch. Im Durchschnitt sollen sie je Jahr und Schüler an die 9000 S betragen; das sind bei fünf Ausbildungsjahren fast 50.000 S. Dem steht ein Schulgeld gegenüber, das ungefähr ein Prozent der Kosten, und dies maximal, deckt. Die Kosten der Erhaltung des technischen Schulwesens werden in Oesterreich — zum Unterschied etwa von der Bundesrepublik — fast ausschließlich vom Staat getragen. Und nun werden in einer Art von „unsichtbarem Export“ viele und allzu viele Absolventen geradezu gezwungen, sich in einem ausländischen Staat zu verdingen, während das Ausland für das Wissen, dessen Aneignung ihm nichts gekostet hat, kaum etwas an Gegenleistung zu bieten hat. Dagegen müssen wir die Produkte, welche die jungen Oesterreicher — auch infolge des Wissens, das sie sich bei uns aneignen konnten — miterzeugen helfen, teuer kaufen. Ein seltsames Geschäft!

Wozu also, so muß man sich fragen, Millionen, wenn nicht Milliarden für den Ausbau eines Schulwesens aufwenden, dessen „Produkte“ dem Ausland dann kostenlos angeboten werden; wozu die großen Opfer, die wir bringen und noch bringen werden, angesichts der lautlosen und geradezu erzwungenen Emigration eines beachtlichen Teiles unserer jungen Intelligenz? Man sage nicht, vorwurfsvoll an unsere Jugend gewandt, diese Hucht sei ein Ausdruck von Vaterlandsfeindlichkeit oder von Fremdenseligkeit.

Die Gründe liegen im Fehlen der Attraktionen für die jungen Menschen. Wenn die Absolventen nach einem für sie außerordentlich anstrengenden Studium, das nicht nur dem Bund, sondern auch ihren Eltern sehr viel Geld gekostet hat, auf Postensuche gehen, erleben sie zwei große und, weil Berufsanfänger, für ihre künftige Einstellung zum Beruf bestimmende Enttäuschungen:

Zum ersten beim Lohn. Was von nicht wenigen Unternehmungen auf Grund eines völlig veralteten Gehaltsschemas und einer unzureichenden Beschreibung der „Tätigkeitsmerkmale“ an Lohn gegeben wird und auf Grund des Arbeitsvertragsrechtes gegeben werden kann, ist oft beschämend wenig und stellt in manchen Fällen eine provokative Zumutung nicht nur gegenüber dem Stellenwerber, sondern auch gegenüber der ausbildenden Schule und den Eltern dar; wenn man zudem weiß, was man im Westen und — für Könner — auch im Osten im gleichen Fall zu geben bereit ist.

Die vorhandenen Kollektivverträge wie das Denken jener, die sie jeweils routinemäßig formulieren, sind auf das Senioritäts-p r i n z i p („jeder muß sich einmal hinaufdienen“) und auf das Mittelmaß an Leistung abgestellt. Die schulische Vorbildung wird dagegen in den Kollektivverträgen in einer unverständlichen Weise ebenso wie bei der Anstellung selbst vernachlässigt, obwohl man gleichzeitig die mangelhafte Dotierung des Schulbudgets in bewegten Worten beklagt. Will man also teure Schulen nur, um billige Arbeitskräfte aus ihnen zu beziehen? Eine präzise Katalogisierung jener Stellen, die vor allem für die Abgänger berufsbildender Mittelschulen in Frage kommen, fehlt. Sonderverträge werden nur selten abgeschlossen und enthalten auch meist wenig attraktive Bedingungen. Daß es anderseits rühmliche Ausnahmen gibt, soll nicht bestritten werden, auch nicht, daß die Zahl dieser Ausnahmen allmählich wächst und auf eine Umstellung im Denken vor allem der jüngeren Unternehmer hinweist.

Auf Vorhalte wegen zu niedriger Löhne erhält man oft die Antwort, daß es sich ja lediglich um „Anfangsgehalte“ handle, ohne daß man freilich bereit wäre, einen Unterschied zwischen einem wirklichen Anfänger, einem Ungelernten, zu machen und einem jungen, beruflich vorgebildeten Menschen, der sich nur noch spezifische betriebliche Erfahrungen aneignen muß. Schließlich werden oft, wie bei der verstaatlichten Industrie, Generaldirektoren mit Phantasiegehältern engagiert, ohne daß die Herren auch nur einen Teil der von jedem jungen Menschen geforderten minimalen fachlichen Erfahrungen besitzen. Warum 'ist man also geneigt, zweierlei Maß anzuwenden?

Dazu sollte noch bedacht werden, daß wir, ob wir nun Teil eines Gemeinsamen Marktes werden oder nicht, mit der Tatsache der Int e-gration des Arbeitsmarktes, zumindest in Europa, rechnen müssen. Die Löhne des europäischen Westens haben die Neigung, je Branche und je betriebliche Position in den unteren Rängen, zu Einheitslöhnen zu werden. Man kann aber Europa nicht als eine Einheit in der Erzeugung und im Handel verstehen, dagegen den Arbeitsmarkt ausklammern. Das heißt Wirklichkeiten übersehen. Wer junge Arbeitskräfte, die nicht durch Familie oder Eigenheim gebunden sind, zu einem europäischen „Grenzlohn“ engagieren will, muß eben damit rechnen, daß er schlechtestes Material erhält, wie ja vor allem in der Privatwirtschaft die Unternehmungen im allgemeinen so viel an Leistung vom Dienstnehmer empfangen, als sie an Gegenleistung zu geben bereit sind.

Das zweite Uebel ist die Art der Verwendung d e rJ S c h u 1 a b g ä“n g e r. Nicht selten wird eine hochqualifizierte junge Arbeitskraft, die bestens verwertbare betriebswirtschaftliche und technische Kenntnisse einsatzbereit verfügbar hat, zu Arbeiten verwendet, die auch ein Hilfsschüler verrichten könnte. Wie oft werden beispielsweise Handelsakademiker zum Fakturenschreiben und junge Mittelschultechniker ausschließlich zu Arbeiten herangezogen, die auszuführen keine Kenntnisse erfordern. Der Trost, daß man nur auf diese Weise den Betrieb „von unten“ kennen lerne, mag für einige Zeit seine Wirkung nicht verfehlen.

Irgendwann wird aber der junge Mensch das Weite — auch das „weite“ Ausland — suchen. Viele Jahre Erfahrung haben mich erkennen lassen, daß die jungen Menschen unseres Landes, über die abfällig zu urteilen große Mode ist, nicht nur irgendeinen „Job“ wollen, Entlohnung auf jeden Fall, gleich, wie sie verdient wird, sondern auch eine Arbeit, die ihnen Freude macht und in der sie ihr Können unter Beweis zu stellen vermögen.

Anderseits aber werden Protektionskinder, die Beziehungen zu einem großen Mann im Unternehmen haben, gleichgültig, was sie können, auf Posten gesetzt, die man nur bei profundem technischem oder betriebswirtschaftlichem Wissen voll ausfüllen kann. Die Protektion in der verstaatlichten Industrie ist bekannt und unleugbar da. Man übersieht aber, daß es auch in der Privatwirtschaft so etwas wie einen Protektionsproporz gibt, dessen Realisierung kaum etwas mit der Durchsetzung des Leistungsprinzips zu tun hat.

Die unvermeidbar gewordene Förderung unseres berufsbildenden Schulwesens wäre also unzureichend, würde sie lediglich darin bestehen, aus dem Budget mehr Beträge für Schulbauten, Maschinenbeschaffungen und Lehrerhonorierun-genzu reservieren. Ergänzend zur dringlich gewordenen ökonomischen Reform des berufsbildenden Schulwesens ist noch eine Europäisierung unserer österreichischen Lohnordnung — im Interesse der Wirtschaft — ein Gebot der Stunde geworden. Die derzeitige Lohnordnung wie das Denken der Mehrheit der Personalchefs ist schulfeindlich. Man kann also nicht gleichzeitig vom Staat die „Produktion“ einer erstklassigen „Ware“ Schüler verlangen, dann aber nicht bereit sein, diese „Ware“ zu einem angemessenen Preis abzunehmen, ganz abgesehen davon, daß man oft auch nicht gewillt ist, das dienstbereite Produktionsmittel Mensch technisch und betriebswirtschaftlich richtig einzusetzen. Zuweilen kann man sich auch des peinlichen Eindruckes nicht erwehren, daß vielfach nur deswegen eine Vermehrung der Zahl der Schulabgänger gefordert wird, weil man sich auf diese Weise so etwas wie eine lohndrückende „Reservearmee“ sichert. In diesem Fall macht man aber die Rechnung ohne die ausländische Konkurrenz, welche die hohe Qualität der österreichischen berufsbildenden Schulen wohl zu schätzen weiß und daher mit Locklöhnen auf dem Anfängerarbeitsmarkt auftritt.

Was hier gesagt wurde, kann im Einzelfall widerlegt werden, nicht aber im Prinzip. Es geht daher um eine strukturelle Aenderung unserer Lohnordnung, zu der wir dann auf jeden Fall gezwungen werden, wenn wir schließlich ausländische Arbeitskräfte — aber zu anderen Löhnen, als die inländische Lohnordnung für die „Eingeborenen“ vorsieht — engagieren müssen.

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