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Die Vollbeschäftigung

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Die Wirtschaftspolitik unseres Landes ist seit Jahren mehr mit der Bewältigung der Probleme der Prosperität beschäftigt als dem der Depression. Diesen Tatbestand wollen viele Österreicher, die in einem geschärften und durch die Tatsachen seinerzeit gerechtfertigten Krisenbewußtsein aufgewachsen sind, einfach nicht zur Kenntnis nehmen.

Die Wirtschaftslage ist markant vor allem in den Beschäftigungszahlen und in der Rate der Arbeitslosigkeit ausgewiesen. Wir waren in Österreich gewohnt, das, was man Vollbeschäftigung nennt, lediglich als ein volkswirtschaftliches und für Zwecke der Unterrichtsdarstellung brauchbares Modell anzusehen. Daß dieses Modell für uns jemals Wirklichkeit werden könnte, vermochten wir nicht anzunehmen, befanden wir uns doch seit 1919 im Österreich der Ersten Republik in einem Zustand struktureller Arbeitslosigkeit.

Die Maßnahmen der Budgetpolitik, die anhaltende internationale Prosperität und die Anpassung der Arbeitskraftnachfrage an die Strukturen des Arbeitskraftanbots (ausgewiesen am Beispiel des Burgenlandes) ließen einen Zustand auf dem Arbeitsmarkt entstehen, der sich in einem kaum mehr reduzierbaren Minimum an Arbeitslosen darstellt. So gut wie alle einsatzfähigen und einsatzwilligen Arbeitskräfte können derzeit — bei Arbeitslosigkeit — eine ihrer Vorbildung oder ihrem Können angemessene Stellung erhalten. Voraussetzung ist freilich oft ein zumindest zeitweiliger Wechsel des Aufenthaltsortes.

Die Situation auf dem Arbeitsmarkt wird noch durch die Verkürzung der Sollarbeitszeiten laufend verschärft. Mit Recht wird darauf hingewiesen, daß bei Vergleich von Beschäftigungszahlen keineswegs angenommen werden darf, daß einem Beschäftigungsänstieg eine gleich große Steigerung der geleisteten Arbeitsstunden entspricht, da eine Erhöhung der,Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt oft durch eine Reduktion der Arbeitszeiten der bereits Beschäftigten ausgelöst

Ende Juni 1960 gab es in Österreich nur noch etwa 47.000 als arbeitslos Gemeldete, um 25 Prozent weniger als zum Vergleichszeitpunkt des Vorjahres, in dem der Tiefstand erst Ende August mit etwa 59.000 Arbeitslosen erreicht war.

Anderseits zählte man Ende April dieses Jahres 2,270.000 Beschäftigte; 1952 waren es zum gleichen Zeitpunkt 1,944.000 gewesen und 1959 2,225.000. Bei Betrachtung der Rate der Arbeitslosigkeit (zirka zwei Prozent) muß außerdem noch darauf Bedacht genommen werden, daß deklarierte Arbeitslose nicht immer mit Arbeitsfähigen und mit Arbeitswilligen identisch sind. Die Zahl der „freiwillig“ Arbeitslosen nimmt freilich, angesichts der Höhe der gebotenen Löhne in der Hochsaison, in einem beachtlichen Umfang ab.

Wenn man von den noch kaum übersehbaren Folgen der Blockierung der europäischen Integration absieht, kann man annehmen, daß es beim Zustand der Vollbeschäftigung (von der Wintersaison abgesehen) bleiben wird. War. es in einem beachtlichen Umfang der Staat, der anfänglich durch eine sehr bewegliche Budgetpolitik wirtschaftliche Antriebskräfte künstlich aktivierte, ist es heute bereits weitgehend die Privatwirtschaft, welche ausreichend Eigenkräfte besitzt, nicht nur um den gegebenen Aus-rüstungs- und Organisationsstand zu halten, sondern um sich dem internationalen Expansionsstandard anzupassen. In einem gegenläufigen Prozeß vermindern sich daher die vom Budget getragenen Investitionen: 1958: 6,1 Milliarden; 1959: 5,7 Milliarden; und nach dem Voranschlag 1960: 3,9 Milliarden. In den angegebenen Zahlen drückt sich anderseits auch die Tatsache der steigenden Bindung der Ausgaben des Budgets vor allem auf dem Personalsektor aus. -

Eine weitere Steigerung des Bruttonational-produktes ist nur noch möglich, wenn mehr Anlagevermögen und mehr Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Die Erhöhung der Arbeitszeit je Dienstnehmer kann dagegen das Arbeitskräftemanko kaum in einem nennenswerten Umfang beseitigen. Die in den Arbeitslosenzahlen ausgewiesenen Arbeitskraftreserven werden zudem da und dort — aus Tradition — nicht in Anspruch genommen. Man ist nicht gewillt, etwa die Gruppe der älteren Angestellten und Arbeiter, unter denen eine strukturelle Arbeitslosigkeit herrscht, als vollwertig anzusehen. Das Anwerben ausländischer Arbeitskräfte könnte nur auf einigen Sektoren eine Abhilfe bringen, nicht aber in den so gewichtigen Bereichen der Facharbeiter.

Wir müssen feststellen: Nicht allein neue Maschinen, sondern in einem wachsenden Umfang sind es die Menschen, neue Arbeitskräfte, welche den Produktionsplafond, an dem wir heute angelangt sind, durchstoßen können.

1. Auf dem Arbeitsmarkt besteht ein Übe r-hang der Nachfrage nach Arbeitskräften, der je nach Teilmarkt verschieden groß ist. In diesem Tatbestand wird merkbar, daß die Kapazität nicht allein eine Summe von Maschineneffekten ist, sondern auch von menschlichen Arbeitseffekten. Auf dem Arbeitsmarkt des Baugewerbes gab es im August des Vorjahres nur 102 voll einsatzfähige Arbeitskräfte, denen 9664 offene Stellen gegenüberstanden.

2. Wie bei anderen „Waren“ passen sich auch die Anbieter der „Ware“ Arbeitskraft an die Marktsituation an, wenn sie nicht, wie die Staatsangestellten, mit ihrem Lohn an ein gesetzliches Schema gebunden sind. Die K o 11 e ktivvertragslöhne können zwar nicht in kürzeren Zeitabständen an die Chancen und Bedingungen des Arbeitsmarktes angeglichen werden, wohl aber die Effektiv- (I s t-) L ö h n e, die vor allem in expandierenden Branchen in einem beachtlichen Ausmaß gestiegen sind. Daneben sind noch die Lohnnebenleistuagen und die Überstundenentgelte größer geworden.

3. Die weitere Folge der Verringerung wenn nicht in manchen Bereichen des völligen Versiegens des Anbots an Arbeitskräften ist das Ab w e r b e n. Trotz bekundeter Solidarität der Unternehmungen wird sich ein Unternehmer selten die Gelegenheit entgehen lassen, ungenützte Kapazitäten durch das Engagieren von Arbeitskräften der Konkurrenz zu aktivieren. In der Bundesrepublik werden meistens „Kopfgelder“ bis 500 DM geboten. Dazu kommt noch, daß gewisse Branchen und Unternehmungen von sich aus, ohne viel Zutun, eine Sogwirkung auf die Arbeitnehmer anderer Branchen und Unternehmungen ausüben, entweder weil sie besser zahlen (und zahlen können) oder weil der Arbeitsprozeß attraktiver ist. So ist es neben der uns seit Jahrzehnten bekannten Landflucht auch zu einer Bauflucht gekommen. Anderseits müssen oft letzte Arbeitskraftreserven aus dem

Bereich der Agrarproduktion herangezogen werden, Ungelernte, deren Anlernung hohe Anlaufkosten verursacht.

4. Die weitere Folge ist eine bedenkliche Fluktuation der Arbeitskräfte, deren Kosten man leider noch nicht zu ermitteln versucht hat. (In der DBR wechselten 1959 dreißig Prozent ihren Arbeitsplatz.) Die Zahl der Stammarbeiter, die man in ihrer Firmentreue oft noch durch „Stabilisierung“ der Löhne unnütz stark belastet, nimmt ab.

5. Der Zwang zu technischen und organisatorischen Rationalisierungsmaßnahmen (und damit der Gefahr der Fehlrationalisierung) verstärkt sich. Die Erfolge der Bemühungen um Steigerung der Arbeitsproduktivität sind freilich nicht zu übersehen. Die Industriestatistik weist aus, daß im Zeitraum I—IV/1960 der Produktionsausstoß je Beschäftigten um sechs Prozent (berichtigt sogar um sieben Prozent) gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres gewachsen ist. Im angegebenen Zeitraum stieg das Nationalprodukt um 9,3 Prozent, obwohl nur um zwei Prozent mehr Arbeitskräfte beschäftigt wurden.

6. Die Preise — vor allem die politischen Preise — passen sich ebenfalls den Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt an, besonders dann, wenn es sich um lohnintensive Güter handelt oder um Güter, die mit lohnintensiv hergestellten Vormaterialien erzeugt wurden. Manche Unternehmungen „reflektieren“ freilich ohne Nötigung die Verknappung der Arbeitskräfte, indem sie sich nicht der Situation anpassen, sondern sie einfach ausnützen. In einem bemerkenswerten Aufsatz in den „Finanznachrichten“ vom 15. Juli 1960 wird z. B. auf die Methoden einer keineswegs immer gerechtfertigten Preispolitik hingewiesen, die sich darin zeigt, daß man wohl Verknappungen durch Preiserhöhungen Rechnung trägt, einen Anbotsüberhang aber nicht mit einer Preissenkung, sondern mit einer „Mengenregulierung“ beantwortet. Das hat zur Folge, daß Preiserhöhungen, die in der Phase der Prosperität entstanden sind, in der Abstiegsphase nicht berichtigt werden, so daß der nächste Konjunkturaufschwung bereits auf einer höheren Preisbasis ansetzen muß.

Der Verbraucherpreisindex II (vierköpfige Dienstnehmerfamilie) war im Mai 1960 um drei Prozent höher als im gleichen Zeitpunkt 1959. Im Vergleichszeitraum stiegen die Arbeiternettolöhne um 5,5 Prozent. Durch den gleichzeitigen, wenn auch geringeren Preisanstieg wurde die Chance der Dienstnehmer, einen Mehrlohn in einen etwa gleichgroßen Anstieg des Reallohnes umsetzen zu können, nur zum Teil realisiert. Wenn die Reallöhne nur in einem unterproportionalen Umfang gegenüber den Nominallöhnen anstiegen, sind jedenfalls auch Preisantriebskräfte die Ursache, die durch Marktgesetze wie durch mit Hinweisen, auf die Vollbeschäftigung motivierte Willkür und Habsucht ausgelöst wurden und ihren Standort in allen Lagern haben.

DIE VOLLBESCHÄFTIGUNG - EIN MORALISCHES PROBLEM So sehr man selbstverständlich alles, was auf den Bestand einer Vollbeschäftigung hinweist, dankbar begrüßen muß, scheint es geboten, die Abfallwirkungen des Arbeitskräftemangels herauszustellen und sich gleichzeitig dessen bewußt zu sein, daß man sie nicht so sehr mit wirt-schaftspolitischen oder fiskalischen Maßnahmen, geschweige denn allein mit Verboten bekämpfen kann. Vor allem gilt das für die mit der Vollbeschäftigung zusammenhängenden moralischen Fragen. Erstens: In einer Situation auf dem Arbeitsmarkt, in der man rechnen kann, daß bei Kündigung sofort ein anderer Posten verfügbar ist, kommen Sozialparasiten auf, Menschen, welche die Errungenschaften der Sozialpolitik mißbrauchen. Wenn auch die Zahl der Sozialpatasiten keineswegs so groß ist, wie man sie anzudeuten beliebt, ist die prövokative 'Wirkung des Verhaltens etwa jener bedenklich, die grundsätzlich einen Tag in der Woche blau machen oder, wegen des Fehlens ausreichender Blutmengen in ihrem „Alkoholspiegel“, die Arbeit nach der Mittagspause nicht mehr fort-' setzen können. Zweitens werden oft und ohne Zustimmung der Gewerkschaftsführung in Situationen Lohnforderungen erhoben, in denen die Unternehmungen nachgeben müssen. Die Folge ist dann nicht die Kürzung der Gewinnrate, sondern die Weiterwälzung des Mehrlohnes auf die Preise oder das Ausscheiden von Unternehmungen aus dem Konkurrenzkampf. Drittens sollte nicht übersehen werden, daß insbesondere im Baugewerbe, in dem unvermeidbar wenig Betriebsbewußtsein und nur eine kleine Schichte von Stammarbeitern vorhanden ist, manche Dienstnehmer — und mit Erfolg — versuchen, die Führungsverhältnisse am Arbeitsplatz zu verkehren, um sich so unangemessen hohe Vorteile zu sichern. Diese Tatsache ist einer der entscheidenden Gründe für die Verteuerung der Personalkosten im Baugewerbe. Viertens: Die Exzesse auf dem Sektor der Preisermittlung, etwa die Methoden der „Fiakerkalkulation“ vor allem in manchen Bereichen des Handwerks, stellt ebenfalls eine mißbräuchliche Ausnutzung der Vollbeschäftigung dar, die besonders dann verwerflich ist, wenn.es sich um Güter des schwer abweisbaren Bedarfes handelt.

Der provokativ zur Schau getragene Reichtum und die Konsumexzesse von Alt- und insbesondere von Neureichen dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Vermehrung der Wohlfahrtschancen nur durch Vermehrung der Arbeitsproduktivität und nicht etwa durch eine Umverteilung dessen, was da ist, gesteigert werden können. In der Vollbeschäftigung sind Ansätze zur Steigerung des Bruttonationalprodukts angelegt, ebenso zur Neubildung von Kapital in einem dem internationalen Standard angemessenen Umfang. Das unmoralische und unsoziale Verhalten von Nutznießern der Vollbeschäftigung — sie mögen Unternehmer oder Dienstnehmer sein — ist daher vom nationalen und sozialethischen Standpunkt aus nicht zu vertreten und dürfte von den Berufsorganisationen nicht aus einem falschen Solidaritätsgefühl heraus verteidigt werden.

Vgl. u. a. die Darstellungen in „Die Industrie“,

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