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Vollbeschäftigung nicht nur mit ökonomischen Maßstäben messen

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Fast 70 Prozent unserer Landsleute sind weniger als 50 Jahre alt. Sie haben daher Arbeitslosigkeit nie als die Gesellschaft prägende Massenerscheinung kennengelernt, äußerstenfalls haben sie aus den Erzählungen älterer Familienangehöriger oder älterer Arbeitskollegen eine blasse Ahnung von dem bekommen, was Massenarbeitslosigkeit bedeutet. Auch in der Gewerkschaftsbewegung sind es immer weniger Funktionäre, die die

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Fast 70 Prozent unserer Landsleute sind weniger als 50 Jahre alt. Sie haben daher Arbeitslosigkeit nie als die Gesellschaft prägende Massenerscheinung kennengelernt, äußerstenfalls haben sie aus den Erzählungen älterer Familienangehöriger oder älterer Arbeitskollegen eine blasse Ahnung von dem bekommen, was Massenarbeitslosigkeit bedeutet. Auch in der Gewerkschaftsbewegung sind es immer weniger Funktionäre, die die

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Arbeitslosigkeit am eigenen Leib verspürt haben oder auch nur in ihrer Familie erleben konnten. Fast 60 Prozent aller Österreicher sind jünger als 40 Jahre und haben daher nie Hunger, Unterdrückung und Kriegselend am eigenen Leib verspürt, zu ihrem Vorteil und - wie ich glaube - zum Nachteil unserer Gesellschaft. Denn nur was man selbst erlebt hat, prägt den Menschen. Worte, Erzählungen, Bücherweisheiten sind Schall und Rauch.

Die Kinder des Wohlfahrtsstaates wissen nicht, was für ein Glück es für den Menschen ist, nicht hungern zu müssen, nicht frieren zu müssen, nicht furchten zu müssen, am nächsten Tag erschossen, erschlagen oder verhaftet zu werden, was für ein Glück es ist, frei seine Meinung sagen und einen freien Gedankenaustausch pflegen zu können, und was für ein Glück es ist, Arbeit zu haben. Ich gehöre einer Generation an, für die das alles nicht selbstverständlich ist, der es den Magen umdreht, wenn sie streng wissenschaftliche Studien, wie die von Zeisel, Ja- hoda und Lazarsfeld über die Arbeitslosen von Mariental liest, die gar nicht daran zu denken wagt, was mit unserer Gesellschaft geschehen würde, wenn wieder eine Massenarbeitslosigkeit die Menschen zur Verzweiflung treibt, die aber auch aus Erleben und Erkenntnis entschlossen ist, um die Vollbeschäftigung zu kämpfen.

Natürlich ist die Erhaltung der Vollbeschäftigung einmal ein ökonomisches Problem. Arbeitslosigkeit ist eine gewaltige Verschwendung von Arbeitskraft, ein Verzicht auf ein mögliches Sozialprodukt und auf eine mögliche Wohlstandssteigerung. In den Ohren mancher Kinder aus gutr bürgerlichen Familien, denen nie etwas abgegangen ist, ist freilich die Wohlstandsvermehrung eine fast verachtenswerte Zielsetzung. Und soviel ich weiß, sind heuer Jutekleider ganz große Mode. Die Massen der Arbeiter und Angestellten haben aber keine Sehnsucht, gelegentliche Askese-Attitüden in eine dauerhafte Massenerscheinung verwandelt zu sehen.

Vollbeschäftigung ist auch ein ökonomisches Problem, das im Ringen um die Konkurrenzfähigkeit unserer Volkswirtschaft in einem von gnadenloser Konkurrenz geprägten Weltmarkt immer wieder gelöst werden muß. Daher ist auch die Auffassung, daß Vollbeschäftigung durch weniger arbeiten gesichert werden kann, eine völlig abwegige, eine in einen Abgrund führende Zielsetzung. Nur wenn zuerst einmal die Manager, die Unternehmer mehr leisten, wenn ihnen die Schlüsselkräfte der Betriebe auf diesem Wege folgen und auch alle anderen auf diesem Wege mitgehen, kann die Vollbeschäftigung gesichert werden. Wirtschaftspolitik wird noch immer im Rahmen von Volkswirtschaften betrieben, und nur wenn sich die Volkswirtschaftals Ganzes behauptet, kann innerhalb der Volkswirtschaft auch für die schwächeren Glieder gesorgt werden.

Es können nicht alle subventionieren und stützen. Es können auch nicht einigen wenigen starken Wirtschaftszweigen alle Lasten aufgebürdet werden. Alle Wirtschaftszweige müssen einen angemessenen Beitrag zum Bestehen der gesamten Volkswirtschaft im internationalen Ringen um Absatzmärkte, um Finanzierungsquellen, um Neuerungen, schlicht und einfach ums Überleben leisten.

Vollbeschäftigungspolitik kann aber auch nicht Sicherung des Arbeitsplatzes heißen. Gerade weil wir im internationalen Konkurrenzkampf bestehen müssen, muß die Struktur der Volkswirtschaft einem dauernden Wandel unterworfen werden. Pro Jahr gehen in unserer Volkswirtschaft rund 20.000 Arbeitsplätze durch Rationalisierung verloren. In der Gewerkschaftbewegung gab es immer wieder Stimmen, daß man doch diese Rationalisierung unterbinden möge, die uns die Arbeitsplätze raubt Zum Glück haben sich diese Stimmen nie durchgesetzt und die wirtschaftliche Vernunft war stärker, die den Arbeitskollegen beibrachte, daß es immer noch besser ist, einen Wechsel hinzunehmen, als durch Erstarrung der Volkswirtschaft — und Sicherung jedes Arbeitsplatzes würde eine solche bedeuten — das gesamte System in einen Zusammenbruch zu treiben. In einer wachsenden Wirtschaft war dies auch verhältnismäßig, aber nur verhältnismäßig leicht möglich.

Um nur ein Beispiel anzuführen: Anfang der fünfziger Jahre gab es 226.000 unselbständig Erwerbstätige in der Landwirtschaft heute sind es nur etwas mehr als 40.000. Wir haben so für fast 190.00 Arbeitnehmer in anderen Wirtschaftszweigen Arbeitsplätze geschaffen, und ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie fast unlösbar gerade dieses Problem noch Anfang der fünfziger Jahre aussah.

Für die Arbeitsplätze, die im Zuge der Weiterentwicklung der österreichischen Wirtschaft Jahr für Jahr wegrationalisiert werden, müssen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Gelingt das nicht, ist das Arbeitsmarktproblem unlösbar. Neue Arbeitsplätze bedürfen aber einer Ausrüstung mit Sachkapital, und dieses Sachkapital muß in den Betrieben erwirtschaftet werden. Oder um es in der marxistischen Terminologie auszudrücken, es muß ein Mehrwert erwirtschaftet werden, der freilich in unserem System nicht unbedingt Vermögen eines privaten Unternehmers werden muß.

Wann können wir nun aber tatsächlich von Vollbeschäftigung sprechen? Herrscht V ollbeschäftigung nur, wenn auch der letzte Arbeitslose einen Arbeitsplatz gefunden hat, kann unser System dies vor allem mit dem Instrument der Keynsianischen Konjunkturpolitik leisten? Meine Antwort darauf ist klar und eindeutig „nein“. Mit den Instrumenten der Konjunkturpolitik kann in unserem System die Arbeitslosigkeit nicht unter 1 Prozent gedrückt werden, wobei natürlich in diesem einen Prozent auch jene „Arbeitslosen“, die gerade einen Arbeitsplatz wechseln und einige Tage oder Wochen arbeitslos sind, enthalten sind.

Diese Arbeitslosen stellen natürlich kein ökonomisches und auch kein gesellschaftliches Problem dar. Eine friktionelle Arbeitslosigkeit gibt es in jeder wachsenden Wirtschaft und es ist auch kein Arbeitnehmer deklassiert verzweifelt oder verelendet, wenn er beim Arbeitsplatzwechsel einige Wochen ein Arbeitslosengeld bezieht. Angesichts der starkep saisonalen Beschäftigung, die aufgrund der Struktur der österreichischen Wirtschaft unvermeidlich ist, nicht zuletzt auch auf Grund unserer Geographie und unseres Klimas (denken wir nur an die Schwierigkeit des Bauens im Winter in den Alpen bei Schnee und Frost und an die Saisonbewegung in unserer Fremdenverkehrsindustrie) - alles zusammengenommen kann daher von einer Vollbeschäftigung gesprochen werden, wenn die Zahl der Arbeitslosen die 3-Prozent-Grenze nicht längerfristig, also mehr als zwei, drei Monate, übersteigt.

Da mit konjunkturpolitischen Maßnahmen für nicht voll einsatzfähige Arbeitskräfte nicht viel getan werden kann, ja nicht viel getan werden soll, muß für sie in anderer Art gesorgt werden. Wollte man nämlich die Konjunktur so hoch jagen, daß auch jeder, der zwei Hände und zwei Füße hat eingesetzt wird, würde eine gewaltige Überhitzung in der Konjunktur mit inflationistischen Entwicklungen ein- treten, mit den bekannten Folgen für Gesellschaft, Wirtschaft und letzten Endes den Arbeitsplatz. Denn nach jeder inflationistischen Hochkonjunktur kommt es zur Stabüisierungsarbeits- losigkeit. Zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit besteht nämlich dieselbe Relation wie zwischen Rausch und Kater. Je größer der Rausch, umso größer der Kater, je größer die Inflation, umso größer die Stabilisierungsarbeitslosigkeit.

Es war daher eine der wichtigsten Anregungen, die wir aus den skandinavischen Staaten, insbesondere aus Schweden, nach Österreich importiert haben, und die unter dem Begriff „aktive Arbeitsmarktpolitik“ bekannt wurde. Ihre Väter, in der Schwedischen Gewerkschaftsbewegung beheimatet, waren Gösta Rehn und Rudolf Meidner, und wir haben diese Ideen in Österreich aufgegriffen, um jenen Arbeitnehmern hilfreich zur Seite stehen zu können, die bei einer vernünftigen Konjunkturpolitik in den Arbeitsprozeß nicht ohne weiteres eingegliedert werden konnten.

Für diese Aufgabe sind bedeutende Geldmittel eingesetzt worden, deren Wert nicht nur mit ökonomischen Maßstäben gemessen werden darf, da sie von großer gesellschaftspolitischer Bedeutung sind. Denn wir wären zwar durchaus in der Lage, einigen zehntausend jungen oder alten Arbeitskräften ein Müßiggängerdasein zu ermöglichen und entsprechende Arbeitslosenunterstützungen zu bezahlen. Aber hier kann wieder nur auf die Gefahr einer solchen Entwicklung verwiesen werden, und es kann jedem nur empfohlen werden, die Sudie „Die Arbeitslosen von Mariental“ zu lesen, und nachzublättem, wie Arbeitslose ihren Tag verbringen. Das beginnt mit einer Arbeitssuche, in die bei entsprechender Erfolglosigkeit immer weniger und weniger Energie investiert wird, und endet damit, daß sich der Arbeitslose nach einigen Monaten am Morgen die Frage stellt warum er denn überhaupt aus dem Bett aufstehen soll.

Und so enden meine Betrachtungen wieder mit einer historischen Reminiszenz: Es waren nicht die paar Pfennige, die in Deutschland Hunderttausende Arbeitslose veranlaßten, in die SA einzutreten und in den braunen Kolonnen für eine Bewegung zu kämpfen, von der sie vor allem erwarteten, daß sie ihnen Arbeit schaffen würde. Das Erfolgsrezept Hitlers und seiner SA war es, den Arbeitslosen einen Tagesablauf zu geben. Und nur wer begriffen hat, was das bedeutet, der hat auch begriffen, warum wir in der österreichischen Gewerkschaftsbewegung so verbissen, so unermüdlich, und wenn es einmal darauf ankommt, auch so verzweifelt um die Erhaltung der Vollbeschäftigung gekämpft haben und kämpfen werden.

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