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Sudtirols Wirtschaftszukunft

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Wenn man die wirtschaftliche Entwicklung Südtirols seit seiner Eingliederung in Italien verfolgt, stellt man immer wieder eines fast: Von allen Wirtschaftszweigen war bei uns seit eh und je die Landwirtschaft der ausgeprägteste. Dieses Verharren darf nun in keiner Weise als Unvermögen der Südtiroler Bevölkerung ausgelegt werden, sondern es ist vielmehr auf die bekannten politischen Umstände zurückzuführen, unter anderem auch auf die Tatsache, daß unser Volk vielfach daran gehindert wurde, gewerbliche Berufe zu ergreifen, ja da'ß viele Berufe den Angehörigen der deutschen Volksgruppe nur unter erschwerten Bedingungen oder überhaupt nicht zugänglich waren.

Als sich die Verhältnisse nach dem zweiten Weltkrieg endlich besserten, kam schließlich zum Durch-toruoh, was so lange zurüokgedämmt waT. Zwei der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Epoche eigene Merkmale wirkten sich in besonderem Maße auf Südtirol aus:

Durch die Liberalisierung des Güterverkehrs zwischen den Ländern des Westens konnte die Arbeitsteilung rasch voranschreiten. Güter, die anderswo Williger hergestellt wurden, konnten eingeführt werden, es lohnte sich nicht mehr, diese Güter selbst zu erzeugen. Das während des Krieges allgemein gehandhabte Autarkiestreben verlor seine Berechtigung.

Alls zweite bedeutende Erscheinung ist das Entstehen des Massen-und Sozialtourismus zu nennen. Nicht mehr eine kleine, privilegierte Oberschicht konnte reisen, in den hochindustrialisierten. Ländern des Westens wurde das Reisen zum Allgemeingut.

So wurde Südtirols Landwirtschaft plötzlich vor umwälzende Probleme gestellt: Sie mußte sich umstellen, das Produktionsprogramm revidieren und den völlig veränderten Verhältnissen anpassen, sie muß'te rationalisieren und mechanisieren, um die Kosten zu senken . und konkurrenzfähig zu werden. Sie war darauf langewiesen, den teuersten Produktionsfaktor, die menschliche Arbeitskraft, so weit als möglich durch organisatorische und technisch-mechanische Hilfen zu ersetzen, ohne das Produktiansergeb-nis zu schmälern. So kam es notgedrungen au einem Abbau aller unnötigermaßen in der Landwirtschaft zurückgehaltenen Arbeitskräfte.

Durch den Kontakt mit den Urlaubsgästen und Ferienreisenden wurden uralte bäuerliche Lebensformen mit den Verhaltensweisen und Bedürfnissen einer modernen pluralistischen (Industrie-) Gesellschaft konfrontiert. Geregelte Freizeit, sicheres Einkommen, Entfaltungsmöglichkeiten im Beruf sowie die „Accessoires“ Auto, Rundfunk-und Fernsehapparate usw. trugen über die härteren und genügsameren Lebensweisen in der Landwirtschaft einen raschen Sieg davon und sogen bäuerliche Menschen in die Städte.

Diese beiden Faktoren lösten eine ungemein starke Landflucht aus.

Wir stehen daher heute in einem Umstrukturierungsprozeß, der nicht langfristig und organisch, sondern plötzlich und abrupt einsetzte und daher zu ernstlichen Schwierigkeiten und Schäden führte: Von 1951 bis 1961 verlor die Landwirtschaft 13.511 Arbeitskräfte, das heißt, jeder fünfte landwirtschaftlich Tätige hängte seinen Beruf an den Nagel und suchte anderswo sein Fortkommen. Dazu kam, daß etwa 20.000 Jugendliche von 1951 bis 1961 ins Erwerbsalter hineinwuchsen und einen Arbeitsplatz brauchten.

Es waren also über 33.000 Arbeitssuchende da. Die gewerblichen Wirtschaftszweige Industrie, Handwerk, Handel, Gastgewerbe, Verkehrswesen usw. vollbrachten zwar eine einmalige Leistung, indem sie in diesen zehn Jahren durchschnittlich um ein Drittel expandierten und etwa 27.000 neue Arbeitsplätze schufen, sie konnten jedoch den plötzlich verstärkten Anfall an freien Arbeitskräften nicht völlig absorbieren. Etwa 6000 bis 8000 Südtiroler wanderten daher aus Arbeitsplatzmangel nach Oberitalien und ins Ausland ab.

Ein weiterer Faktor, der neben der rein quantitativen Diskrepanz zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage wesentlich zur Ab- und Auswanderung beitrug, war die bestehende Kluft zwischen Berufsausbildung der arbeitsuchenden Kräfte und den höheren qualitativen Anforderungen der angebotenen Arbeitsplätze. Ein Heer von kaum oder wenig beruflich geschulten Arbeitskräften stand einem geringen Angebot an fachlich nichtqualifizierten Arbeitsplätzen gegenüber, eine bedeutende Anzahl von qualifizierten Arbeitssteilen konnte aus Mangel

In dieser Situation ergaben sich zwei grundlegende Erfordernisse, um die bedrohliche Lage zu meistern: Es war nötig, so rasch als möglich Arbeitsplätze au schaffen, die qualitativ nicht so hohe Anforderungen stellten und daher der geringen beruflichen Ausbildung der vielen Arbeitsuchenden Rechnung trugen. So ist das Landesassessorat für Industrie und Handwerk seit einigen Jahren bemüht, als Sofort-maßnahma die Ansiedlung von Industriebetrieben in Südtirol zu betreiben. Der Erfolg dieser Bemühungen war beachtlich: Rund 20 neue Industriebetriebe mit etwa 2000 neuen Arbeitsplätzen sind in jüngster Zeit entstanden. Ungefähr dasselbe Quantum wird in den nächsten zwei bis drei Jahren entstehen.

Ferner war es erforderlich, die verfügbaren Arbeitskräfte so schnell aks möglich beruflich umzuschulen, um sie in die Lage zu versetzen, auch qualitativ höhere Stellen der gewerblichen Wirtschaft ausfüllen zu können. So verabschiedete der Landtag 1962 das Berufsertüchtigungsgesetz (Berufsertüchtigung der Arbeitnehmer), in dessen Rahmen es initiativen Verbänden wie KVW usw. ermöglicht wurde, die heute so intensiven Berufsertüchtigungskurse abzuwickeln.

Im Grunde genommen besteht die wirtschaftliche und soziale Problematik Südtirols in einem „Quan-titäts-“ und „Qualitätsproblem“. Wenn es heute noch erforderlich ist, im Zuge von Sofortmaßnahmen dem Quantitätsproblem Rechnung zu tragen, indem die zu schaffenden Arbeitsplätze an die Qualifikation der Arbeitsuchenden angepaßt werden, so soll es ein langfristiges Ziel sein, die Arbeitskräfte beruflich auf die Erfordernisse der Wirtschaft gründlich vorzubereiten, also das Qualitätsproblem zu lösen!

Der Südtiroler Raumordnungs-plan, der dieses Jahr noch vom Landtag verabschiedet werden soll, sieht die Erreichung der volkswirtschaftlichen und sozialen Ziele Süd-tirols (Vollbeschäftigung, Stabilität des Haushalts, stetiges Wirtschaftswachstum, Bildung breitgestreuten Eigentums, Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens) auf hauptsächlich drei Wegen vor:

• Erhaltung der Landwirtschaft, ausgehend von dem Leitgedanken, das landwirtschaftliche Produktions-ergebnis mit immer weniger menschlichen Arbeitskräften zu bewältigen.

• Erweiterung der Industrie, um die nötigen industriellen Arbeitsplätze zu beschaffen und aus Gründen der Stabilität die Wirtschaft auf breitere Grundlagen zu stellen.

Gegenwärtig sind 30 Prozent der Südtiroler Berufstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt. Ob es in zehn Jahren nur mehr 20 Prozent oder sogar nur mehr 15 Prozent sein werden, ist schwer zu sagen. Sicher ist nur: Die Anzahl der landwirtschaftlich Erwerbstätigen wird weiter zurückgehen. Die Aufgabe unserer Bauern ist also, den immer größer werdenden Mangel an menschlichen Arbeitskräften durch Rationalisierung, Einsatz von Maschinen usw. auszugleichen. Dem Einsatz von Maschinen und Motoren sind ' in unserer Bergbauernwirt-schaft natürlich Grenzen gesetzt. Trotzdem lassen sich durch unausgesetztes Bestreben und ständige Bemühungen immer wieder Möglichkeiten zur Arbeitsvereinfachung, Kasteneinsparung und Verbesserung der bisher angewandten Methoden finden. Die Rationalisierung fällt aber um so leichter, je besser die schulische und berufliche Ausbildung ist. Es Ast daher offensichtlich, daß der Schulung und Ausbildung des landwirtschaftlichen Nachwuchses in dieser schwierigen Situation eine grundsätzliche und entscheidende Bedeutung zukommt.

Innerhalb der nächsten zehn Jahre werden etwa 25.000 neue Arbeitskräfte in den gewerblichen Wirtschaftszweigen unterzubringen sein, und zwar ins Erwerbsalter hineinwachsende Jugendliche sowie aus der Landwirtschaft ausscheidende Kräfte. In der Industrie, im Handwerk, Handel und Gastgewerbe, kurz überall in der gewerblichen Wirtschaft wird von den Arbeitskräften ein bestimmtes Maß von beruflicher Ausbildung verlangt, das von der Hilfskraft über die Anlern- und gelernte Kraft bis zum Meister reicht. Und besonders die Eigenart der Südtiroler Wirtschaft ist es, daß sie hauptsächlich gelernter und ausgebildeter Kräfte bedarf. Richtlinie für die nähere Zukunft sollte daher sein, die weichenden Erben aus der Landwirtschaft sowie den gewerblichen Nachwuchs so früh und gründlich als möglich auf ihre späteren Berufe vorzubereiten. Das Beste darf für sie nicht zu schade sein! Wir wollen auf die Dauer kein Volk sein, das im eigenen Land und im Ausland Hilfsarbeiten verrichtet. Je besser diese 25.000 Arbeitskräfte geschult werden, um so eher wird es gelingen, sie in der Heimat zu beschäftigen !

Eine Entwicklung, die sich in den Ländern Westeuropas in drei bis vier Jahrzehnten vollzogen hat, drängte sich in Südtirol auf ein knappes Jahrzehnt zusammen. Der Anschluß ins Industriezeitalter ist uns gesichert, gewaltige Aufgaben stehen uns bevor. Unser kleines Land darf mit Stolz auf seine beachtlichen Leistungen zurückblicken. Die Entwicklung geht weiter.

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