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Sicherheitsfaktor Kleinbetrieb

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In der wirtschaftspolitisch orientierten Öffentlichkeit wird wieder über notwendige Umstellungen der österreichischen Investitionspolitik zugunsten der Verarbeitungsbetriebe debattiert; damit wird — wieder einmal — die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Verarbeitungsindustrie, die Kleinindustrie und das Gewerbe gelenkt.

Zur Widerlegung marxistischer Voraussagen durch die tatsächliche Entwicklung gehört unter anderem auch die heute unbestreitbare Vitalität von Kleinindustrie und Gewerbe. Der angeblich „zum Absterben verurteilte“ Kleinbetrieb erweist sich im Gegenteil als sehr lebenskräftig und wird immer mehr zu einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stabilitätsfaktor für unser öffentliches Leben. Es war eben ein schwerer Denkfehler, Gewerbe und Kleinindustrie als eine absolute, außer Beziehung zur zeitlichen Entwicklung stehende Wirtschaftsform aufzufassen. Die Kleinbetriebe sind durchaus nicht eine historisch einmalige Erscheinungsform, da jede Wirtschaftsepoche jene Gewerbe — heute insbesondere als organische Ergänzung der Großindustrie — aufkommen läßt, die ihrem Zeitalter und technischen Fortschritt entsprechen. Gewiß, die Kleinbetriebe vor hundert Jahren sind nicht dieselben wie heute; viele Arten sind ausgestorben, viele verändert, viele neu dazugekommen. Heute haben Bauwirtschaft, Elektrizitätswirtschaft und der Verkehr in allen seinen Formen Kleinbetriebe neuen Stils herangezogen; die frühere Rivalität zwischen Klein- und Großbetrieb ist so ziemlich verschwunden.

Ein Blick in die jüngste österreichische Betriebsstatistik gibt dazu wertvolle Aufschlüsse. Ein Zehntel aller österreichischen Betriebe (Versorgungsbetriebe und Sägeindustrie ausgenommen) weist weniger als sechs Beschäftigte auf, über 60% aller Werke beschäftigen weniger als 50 Leute. Die Betriebe mit mehr als 500 Arbeitnehmern weisen keine 4% der Gesamtsumme auf. Allerdings sind in diesen 4% von insgesamt 453.126 Arbeitskräften mehr als 40% aller Arbeiter und Angestellten beschäftigt, in den Kleinbetrieben bis’ zu 50 Dienstnehmern hingegen nicht einmal ein Aditei aller Arbeiter und Angestellten. Zum Kleinbetrieb gehört aber auch das Gewerbe. Dieses steht bei uns mit 179.500 Betrieben und nahezu 600.000 Beschäftigten an der Spitze aller österreichischen Berufsgruppen; 25% des Exports und 20% des Imports entfallen auf Gewerbebetriebe, Die Produktion individueller Qualitätswerte, wie Qualitätshandwerk, Kunstgewerbe, Reisen, Erholung, Reparatur, Erziehung, Bildung, Heilwesen, Unterhaltung usw., ist ausschließlich den Klein- und Mittelbetrieben Vorbehalten. — Hier sei noch zur Ergänzung darauf verwiesen, daß in Europa der Internationalen Gewerbeunion mit ihren 21 Landesverbänden in 15 Staaten über fünfeinhalb Millionen Gewerbevertreter angehören.

Die zahlenmäßige Aufwärtsentwicklung des Kleinbetriebes wird durch seine spezifische Wirtschaftsstruktur noch verstärkt. Ein Großbetrieb kann ein riesiges Produktionsvolumen aufweisen, während ein Blick hinter seine Fassade, der die Probleme der Verwaltung, der Finanzierung, des Absatzes und der Krisenfestigkeit aufdeckt, bei der Beurteilung seines Wirtschaftlichkeitsgrades schon so manche Zweifel aufkommen läßt. Der Großbetrieb mag billiger produzieren, aber das Produkt des Handwerks ist infolge der ihm eigenen Kunst- und Geschmackselemente das höherwertige. Der Großbetrieb muß, soll er rentieVen, Massen von Fabrikaten herstellen; sie sind dann da, auch wenn sie nicht begehrt werden, und müssen vielleicht erst auf dem Umweg einer kostspieligen Reklame abgesetzt werden. Hingegen kann der Kleinbetrieb die individuellen Wünsche berücksichtigen, die subjektiven Bedürfnisse befriedigen, zumal bei ihm Fleiß, Talent und Phantasie der Mitarbeiter stärker zur Geltung kommen. Sogar ein amerikanischer Volkswirtschafter (Shal- lenberger) verwies kürzlich auf die Elastizität als einen der größten Vorteile des Kleinbetriebes. Seine Arbeiter sind meistens für viele Aufgaben verwendbar, das Werkzeug ist einfach, der Betrieb ist nicht so weit verzweigt und seine Ausgaben können dem Produktionsvolumen leichter angepaßt werden. Abgesehen davon, gibt es eine ganze Reihe von Produktionsarten, die im Großbetrieb zu erzeugen einfach unrationell wäre. Der Großbetrieb setzt Massenhaftigkeit und Beständigkeit der Nachfrage bestimmter standardisierter Güter voraus; seine Transport- und Absatzkosten sind unvergleichlich höher als beim Kleinbetrieb. Auch die Konjunkturschwankungen treffen ihn viel stärker, während hier der Kleinbetrieb elastischer und den Launen der Nachfrage weniger ausgesetzt ist. Schwerindustrie und Produktionsgüterindustrie sind am konjunkturempfindlichsten, bedürfen daher der Monopole, der Kartellbildung und der Hochschutzzölle, was mittelbar den Lebensstandard des Gesamtvolkes beeinträchtigt. Die dadurch ausgelöste Labilität des Wirtschaftslebens sollte zu einer größeren Berücksichtigung der Kleinbetriebe durch die offizielle Wirtschaftspolitik führen, wie sie in Österreich etwa vor einem halben Jahrhundert durch Lueger angebahnt worden war.

Leider hat unsere Wirtschaftspolitik, auch soweit sie im Rahmen des ERP läuft, dieser Erkenntnis bisher wenig Rechnung getragen. Innerhalb der Marehall-Plan-Hilfe erhielten die für den Export besondere wichtigen Kleinindustrien, wie die gesamte verarbeitende Industrie, nur 14% der Investitionsbeträge, und für das Gewerbe blieben überhaupt nur 0,4% übrig! Dementsprechend betrug Oktober 19 1 der Stand der Produktionsgüterherstellung (1937 = 100) über 231%, derjenige der Könsumgüterherstellung hingegen nur 139%, was schwer auf unseren Lebensstandard drückt. Wissenschaft und Schule haben sich zu sehr auf den Großbetrieb festgelegt, was das unselige Vorurteil entstehen ließ, daß eine Rationalisierung nur bei der Industrie möglich sei. Kaum wurde eine Forschung zur Leistungssteigerung der Kleinbetriebe unternommen, obwohl auch hier die Probleme der Arbeitsmethode, der Betriebsgrößen- fiage, der Serienherstellung, der Kostenverrechnung usw. zu lösen sind. Für die Exportbetriebe ist eine rasche Rationalisierung und deren finanzielle Sicherung durch die öffentliche Hand das Gebot der Stunde, da ja diese Betriebe auf den internationalen Märkten einem besondere starken Preisdruck ausgesetzt sind, zumal die ausländische Konkurrenz unter wesentlich günstigeren Bedingungen produzieren kann.

Noch bedeutender ist die Funktion des Kleinbetriebes als Stabilisierungsfaktor für Staat und Gesellschaft. Der Kleinbetrieb ermöglicht die freie Entfaltung der persönlichen Arbeitsleistung, er stärkt persönliche Initiative und Verantwortung und bildet so einen Damm gegen die Welle des geistigen und materiellen Kollektivismus, der den inneren Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung immer mehr zum Verschwinden bringt. Gehört es doch zu den Schattenseiten der Konzentration, daß der Aibeilnehmer seiner Berufsarbeit immer mehr entfremdet wird. Diese Entwurzelung schwächt das demokratische Empfinden und stärkt die Machtentfaltung des Staates, der im Osten den Arbeitnehmern nicht nur als wirtschaftlicher Gegenpart, sondern zugleich als Beherrscher von Polizei, Gericht, Presse und Radio entgegentritt. Klein- und7 Mittelbetriebe ermöglichen eine geographische, wirtschaftliche und auch besitzpolitische Dezentralisation und damit eine Krisenfestigkeit für Betriebsführung und Arbeitnehmer; diese können leichter einen Stellungswechsel durchführen; verfügen sie überdies, wie dies etwa in Vorarlberg der Fall ist, über landwirtschaftlichen Kleinbesitz, so ist damit ein Maximum an gesellschaftlicher Unabhängigkeit erreicht. Darin liegt der hohe gesellschaftliche Wert der Klein- und Mittelbetriebe. Zunächst wird hier die lähmende Unpersönlichkeit des Verhältnisses Arbeitgeber — Arbeitnehmer überbrückt. Wohl wird dies heute auch bei den industriellen Großbetrieben in Österreich verstärkt angestrebt, ist aber nur unter Schwierigkeiten mit Informationen, mit Beratungsund wirtschaftspolitisch nicht immer ausgewogenen Mitspracherechten zu erreichen. Im Kleinbetrieb ist jene Beziehung von vorneherein gegeben und gewinnt oft familiären Charakter. Der Arbeitnehmer erkennt leichter, daß sein Schicksal demjenigen der Mittelklasse auf Gedeih und Verderben verbunden ist, während im Großbetrieb selbst höhere Löhne und ‘ kürzere Arbeitszeiten den sozialen Raum des Arbeitnehmers nicht zu erweitern vermögen. Politische Vorurteile sollten diese Erkenntnis und ihre Folgerungen nicht hindern dürfen; am wenigsten im Österreich von 1952.

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