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Das grüne Proletariat

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Durch seine Herkunft und engen Kontakt zur bäuerlichen Welt fühlt sich der Verfasser nicht nur autorisiert, sondern geradezu verpflichtet, die Situation von Menschen zu skizzieren, die seit eh und je um die nackte Existenz ringen mußten und auch heute dm Schatten der Hochkonjunktur und des „Wirtschaftswunders“ leben. Befindet sich das Bauerntum der Gegenwart allgemein in einer Krisis, einem Abbau, so sind besonders die Klein-und Bergbauern weitgehend „Proletarier“ geworden.

Die eigentliche Krise begann nach dem Übergang zur Marktwirtschaft, besonders nach dem zweiten Weltkrieg. Das überproportionale Wachstum außerlandwirtsohaftlicher Wirtschaftszweige, die zunehmende räumliche Durchdringung von Landwirtschaft und Industrie, sowie die damit geschaffenen Existenzmöglichkeiten, der Einfluß des modernen Verkehrs und der Massenmedien führten zu einer „geistigen Verstädterung“, zur Verdrängung der bäuerlichen Werte aus ihrer zentralen Stellung im Leben des Dorfes und schließlich zur Abwanderung aus der Landwirtschaft. Die Folge Ist eine enorme Mechanisierungsund Rationalisierungswelle. Gleichzeitig nimmt die Zahl jener Personen zu, die zwar noch im Dorf wohnen, aber nicht mehr vom Dorf beziehungsweise von der Landwirtschaft leben. Die außerlandwirt-söhaftlichen Einkommen steigen, die Agrarpreise bleiben relativ zurück. Der Bauernstand wird in die Rolle des wirtschaftlich Schwächeren und des sozial Passiven, also desjenigen, der sich an Fremdes anpassen muß, gedrängt. Er kann meist auch seine führende Stellung im Dorf nicht mehr behaupten. Die kulturelle Außenleitung des Dorfes beginnt und wird maßgebend für das Denken in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht.

Durch diese Entwicklung ist das Selbstbewußtsein der Bauernschaft, aber auch die gesellschaftlich-kulturelle Situation des Dorfes als Ganzes in Gefahr geraten. Die Einheit von Arbeitsplatz, Lebensraum und Kulturform, die für das alte Dorf charakteristisch war, löst sich auf: Die Pendler arbeiten nicht mehr im Dorf, die Jugend wird außerhalb des Dorfes ausgebildet und sucht ihre Zerstreuung nicht mehr im Dorf; der Konsum von außerhalb des Dorfes erzeugten materiellen und geistigen Gütern nimmt rapid zu; der Ehepartner wird meist nicht mehr unter den Dorfbewohnern gewählt und so weiter.

Im Wohlstandswinkel

Und diese Menschen blicken gebannt auf die sich ständig drehende Spirale des steigenden Lebensstandards. Dieser ist anscheinend in der neuesten Zeit zum maßgebenden Schichtungsprinzip geworden, indem man etwa die gesellschaftliche Geltung eines Menschen an den Pferdestärken seines Autos abliest. Gemessen an der Skala des Lebensstandards beziehungsweise an der zeittypischen Frage: Wieviel verdienen Sie? Wieviel sind Sie wert? rangieren aber die Klein- und Bergbauern in der untersten Reihe. Darin ist ihnen der städtische Hilfsarbeiter sowie jede andere soziale Großgruppe bei weitem überlegen. Dazu kommt die modische Rückständigkeit und Armseligkeit der Kleidung, die besonders bei der jungen Generation im Kontakt mit „den anderen“ eine bedeutende Rolle spielt. Ferner die ungenügenden Er-nährungs-, Wohn- und Hygieneverhältnisse (die oft durch wohlgemeinte und nötige Hilfswerke erst richtig bewußt gemacht werden). Das Fehlen von Wasserleitungen und WCs wurde bis vor kurzem noch kaum als wesentlicher Mangel empfunden. Wenn diese Menschen bei einer Selbsteinschätzung ihrer Lage noch an die Unmöglichkeit denken, daß ihr Einkommen — trotz schwerer Arbeit und Mühe, zufolge dauernder Depression der Erzeugerpreise bei den von ihnen erzeugten Produkten — kaum gesteigert werden kann, so kommen sie wohl zum Schluß, ihre Existenz als proletarisch beziehungsweise hoffnungslos zu betrachten. Der Gedanke an Krankheit, Elementarsohäden und

persönliches Unglück läßt sie noch tiefer sinken.

In dieser ausweglosen Situation wirken noch zwei Ideologien ein. Zum ersten die der liberalen Wettbewerbswirtschaft. Sie wollen die Lösung der agrarsozialen Frage dem Markte überlassen und predigen: „Landflucht tut not!“ Der einzelne Bauer kann nur dann ein höheres Einkommen erreichen, wenn sich die landwirtschaftlichen Verkaufserlöse auf weniger in der Landwirtschaft beschäftigte Personen verteilen. Das Land muß sich anpassen, da ein ökonomischer Fortschritt nur durch optimale Betriebsweise, rationale Hofgröße und höhere Arbeitsproduktivität erreicht werde. Die Beseitigung der Disparität setzt eine industrieähnliche Produktion in der Landwirtschaft voraus. Hilfe sei falsch, weil der Mangel an wirtschaftlichen Möglichkeiten und sozialen Sicherungen die Landflucht und somit den ökonomischen Fortschritt fördere.

Auf der anderen Seite steht die marxistische Ideologie, welche die bäuerliche Situation ungefähr gleich beurteilt. Bereits K. Marx und F. Engels prophezeiten, daß „die kapitalistische Produktion über die machtlosen und veralteten Kleinbetriebe hinweggehen werde, wie ein Eisenbahnzug über einen Schubkarren“. Die Interpreten der marxistischen Agrartheorie (etwa K. Kautsky) erläutern die Vorteile des Großbetriebes gegenüber dem Kleinbetrieb und kommen zum Schluß, daß die Kleinbauernschaft bereits ökonomisch überwunden sei. „Sie behauptet sich nur noch durch Überarbeit und Hungerkonkurrenz.“ Der „Besitzinstinkt“ treibe aber die Kleinbauern an, „sich mehr zu schinden, als der besitzlose Landarbeiter es tut, und ihre Ansprüche an das Leben noch unter das Niveau der Ansprüche des letzteren auf ein Minimum zu reduzieren.“ Die marxistische Ideologie sieht aber als Lösung des Problems nicht primär die Landflucht, sondern die „genossenschaftliche Großproduktion“ vor.

Drei Wellen der Abwanderung

Es ist wohl verständlich, daß diese Ideologien im Laufe der Zeit die Klein- und Bergbauern zur Mut-

losigkeit und zur proletarischen Verzweiflung brachten. Die Wirkung der sozial und menschlich notwendigen materiellen Hilfe für das Bergbauerntum muß als tragisch bezeichnet werden, da sie die Abwanderung oft eher fördert als bremst. Durch die Hebung des Lebensstandards, durch die Errichtung von Telephonverbindungen und besseren Verkehrsmögliohkeiten, insbesondere durch den Bau von teuren Straßen werden nämlich das Tal und seine Verlockungen näher gebracht. Die nichtbäuerlichen Nebenerwerbsmöglichkeiten bilden meist nur eine Übergangsphase zur gänzlichen Aufgabe des bäuerlichen Betriebes.

Bei der Abwanderung aus der Land- und Forstwirtschaft zeichnen sich drei Wellen ab, nämlich die Verminderung erstens der familienfremden Arbeitskräfte, zweitens der mithelfenden Familienangehörigen und drittens der Betriebsinhaber selbst. Die drei Wellen überschneiden sich zeitlich. Während die erste Phase in Österreich weitgehend abgeschlossen ist, da es im bäuerlichen Bereich kaum noch familienfremde Arbeitskräfte (Knechte und Mägde) gibt, ist die zweite noch voll im Gange und die dritte erst am Be-

ginn. Die Überalterung der Betriebsinhaber und der Nachwuchsmangel werden sich erst in etwa zwei Jahrzehnten voll auswirken.

Allein zwischen 1950 und 1960 ist der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung in Österreich von 22 Prozent auf rund 16 Prozent gesunken. Derzeit beträgt er wahrscheinlich nur mehr etwa 13 Prozent und wird bis zur nächsten Volkszählung im Jahre 1970 vermutlich nur mehr etwas über zehn Prozent liegen. Der Rückgang wird aber dann langsamer werden und der Prozentsatz dürfte sich allmählich bei etwa fünf Prozent stabilisieren.

Dem Verfasser sind Kleinbauerngemeinden bekannt, in denen sich die Zahl der bäuerlichen Betriebe in den nächsten zehn Jahren um mindestens ein Drittel — auf Grund des Ablebens der Betriebsinhaber und mangels eines Nachfolgers — reduzieren wird. Regional sind besonders die sogenannten bedürftigen Entwicklungsgebiete an den „toten Grenzen“ betroffen, wie das Mühl-und Waldviertel, das mittlere und südliche Burgenland, die Oststeiermark und Südkärnten. Dazu kommen die meist einzeln siedelnden Bergbauern der Alpen, besonders wenn sie über keinen größeren Waldbesitz verfügen.

Blick über die Grenzen

Ein Blick über die Grenzen zeigt, daß diese Entwicklung durchaus nicht auf Österreich beschränkt ist, sondern alle Industriestaaten mehr oder minder erfaßt hat. So hat die Schweiz die gleichen Sorgen mit den Bergbauern. In Westdeutschland, wo ebenfalls die klein- und mittelbäuerliche Betriebsstruktur vorherrscht, hat die Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen zwischen 1950 und 1960 um fast 30 Prozent abgenommen. In Frankreich wird die Kumulierung landwirtschaftlicher Betriebe bereits unter Strafsanktion gestellt. Damit will man weniger die Eigentums- als vielmehr die Bewirtschaftungskonzen-tration einschränken. Industrielle und Kaufleute bedürfen ' zur Führung eines landwirtschaftlichen Betriebes einer Genehmigung des Prä-fekten. Der vertikalen Integration, das heißt der Angliederung landwirtschaftlicher Produktion an Industrie- und Handelsbetriebe wird energisch entgegengetreten. In Großbritannien entfallen nur mehr weniger als vier Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung auf die Landwirtschaft; und zwar ein Prozent auf Betriebsinhaber und rund drei Prozent auf Landarbeiter. In den USA kennt man bereits den sogenannten „Reisekoffer-Farmer“. Das ist ein Mann, der in der Stadt wohnt, im Herbst mit Traktor und Gerät und einigen Arbeitskräften auf dem Land erscheint, in einem Arbeitsgang den Boden pflügt, mit Wintersaat bestellt und wieder in die Stadt zurückkehrt, bevor sich der Staub gelegt hat. den er auf dem Acker aufwirbelte.

Wenn wir momentan in Österreich auch noch nicht so weit sind, so ist es doch erfahrungsgemäß üblich, daß sich solche Erscheinungen mit einer mehrjährigen Phasenverschiebung von Amerika über Westeuropa auch nach Österreich fortpflanzen.

Blick in die Zukunft

Es wird also den Klein- und Bergbauern noch mehr „an den Kragen gehen“, zumal Subventionen und Schutzmaßnahmen von der liberalen und der sozialistischen Seite her bekämpft und in die Zange genommen werden. Trotzdem scheint es. schon aus Gründen der Humanität und des sozialen Friedens notwendig, h'er zu helfen. Anzeichen der Radikalisierung und der Zuneigung zu Extremen machen sich vielerorts bemerkbar. Ein guter Teil dieser Menschen ist demagogischen Versprechungen zugänglich und bereit, Hilfe zu nehmen, wo sie angeboten wird.

Man muß sich aber bewußt sein, daß alle materielle Hilfe — gleich, ob es direkte Subventionen oder Förderungsmittel zur Strukturverbesserung sind — den Prozeß der Proletarisierung und Abwanderung der Klein- und Bergbauern auf Dauer nicht aufhalten, sondern bestenfalls verlangsamen kann.

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