6572965-1950_29_04.jpg
Digital In Arbeit

Bruder in Not

Werbung
Werbung
Werbung

Mit dem Aufsatz über die Bedrängnis des österreichischen Bauerntums, den die „Furche“ (Folge 25) veröffentlichte, ist ein volkswirtschaftliches Problem von größtem Ernste in den Vordergrund gestellt. Es betrifft wahrlich kein einseitiges bäuerliches Interesse, sondern ist bereits zu einer Angelegenheit von hoher sozialer und bevölkerungspolitischer Bedeutung geworden. Es ist notwendig, es mit größter Eindringlichkeit auch vor die nicht agrarische Bevölkerung zu stellen und die ernste Aufmerksamkeit derjenigen aufzurufen, die nach Bildung und Beruf den sittlichen Auftrag erhielten, schwere, sorgenvolle Aufgaben meistern zu helfen. Es sind unsere Brüder aus österreichischem Volkstum, die in Not sind.

Während der letzten Jahrzehnte erlitt das Bauerntum in den Gebirgen Niederösterreichs Verluste ohnegleichen. Wohl ist die Entsiedlung der Bergbauern-gebiete kein typisches österreichisches Problem, in den Gebirgsgegenden Frankreichs und der Schweiz sind ähnliche Vorgänge zu beobachten, man kann von einer gesamteuropäischen Erscheinung reden. Aber das Schicksal des niederösterreichischen Bergbauerntums hat nun dadurch noch eine besonders charakteristische Note, daß in ihm die Nähe der Großstadt und deren dauernde Saugwirkungen den Verfallsprozeß verschärfen, der aus anderen Ursachen die bäuerliche Bergbewohnerschaft befallen hat. Ist es nicht vielsagend, daß im G e-richtsbezirk Gutenstein — im Vergleich zum Jahre 1820 bis zum heutigen Tage — im Schwarzatal 58 Prozent, im Piestingtal 45 Prozent, im Miratal 36 Prozent und im Miesenbachtal 15 Prozent der Betriebe verlorengingen. Die Zahlen zeigen den Umfang der Katastrophe deutlich auf. Auch einen Teil ihrer Ursachen. In Gebieten, welche schlechten Boden haben, fand eine größere Entsiedlung statt als in Gegenden mit ertragreicherem Boden. So war auf dem schlechten Boden des Schwarzatales die Entsiedlung größer.

Pie Höhenlage vermindert natürlich die Produktionsbedingungen, und so kommt es auch, daß im Gerichtsbezirk Gutenstein seit 1820 in einer Meereshöhe von 300 bis 400 Meter nur 11 Prozent, der Bauernwirtschaften zum Verkauf kamen, während in einer Meereshöhe von 800 bis 900 Meter 45 Prozent der Bauernwirtschaften verschwanden.

Vor dem Jahre 1820 verkaufte der Gebirgsbauer seine Produkte direkt an den Verbraucher und kaufte seine Bedarfsartikel meist ohne Zwischenhandel vom Erzeuger. Er verarbeitete das selbst-geschlägerte Holz nicht zu Scheiter- und

Schnittholz, wie heute, sondern er erzeugte vielerlei einfache Holzwaren, wie Schindeln, Leitern, Weinstecken, Fässer und Bottiche im Rahmen seiner Hausindustrie. Diese Erzeugnisse verfrachtete und verkaufte er selbst in Wien oder im Hausierhandel, der bis an die türkische Grenze ging. Aus seinem Ab-fallholz brannte der Bergbauer Holzkohle, die er bei den örtlichen Hammerwerken oder in Wien absetzte. Seither hat der Gebirgsbauer sein Nebeneinkommen aus der bescheidenen Veredlung seiner Produkte in der Hausindustrie verloren. Dazu kam, daß er lange Er-zeugungszeiten für seine Produkte hatte. Das Vieh ist erst nach drei bis vier Jahren, das Holz in 80 bis 90 Jahren verkaufsreif. Die Erzeugungszeit des Getreide- und Rübenbauers zum Beispiel beträgt nur ein Jahr, und die Industrie hat viel kürzere Erzeugungszeiten — es liegt zwischen Einkauf der Rohprodukte und dem Verkauf der Fertigwaren nur eine Zeitspanne von einigen Wochen oder Monaten. Der finanzielle Erfolg der aufgewendeten Kosten von Löhnen und Betriebsmitteln tritt überall rascher ein. Konjunkturen können ausgenützt oder ausgeglichen werden. Dies alles ist dem Bergbauern versagt. Er hat einen Gutteil seines Einkommens verloren und muß seit Jahrzehnten von der Substanz seiner Wirtschaft leben. Ist sie aufgebraucht, so geht der Hof zugrunde. Der kritische Fall tritt meistens ein, wenn die allgemeine Lage der Landwirtschaft schlecht wird. Die Zahlen der Hofverkäufe im Gerichtsbezirk Gutenstein erweisen das Anschwellen der Verkäufe zur Zeit der großen Landwirtschaftseisenindustrie und der örtlichen holzverarbeitenden Industrie in den Gebirgstälern verlor der Bauer die lokalen Abnehmer für seine Haupterzeugnisse. Die Großindustrie, die stellenweise im Gebirge entstand, benötigte nur seinen Boden für ihre Industrieanlagen und für die Wohnbauten ihrer Arbeiter. Allzuoft mußte er ihrem Druck weichen.

Mit diesen wirtschaftlichen Gegebenheiten ist zu rechnen, und es können nur Maßnahmen zum Erfolg kommen, die diesen Rechnung tragen. Die Wieder-besiedlungsaktion, die nach dem ersten Weltkrieg mit gesetzgeberischen Maßnahmen eingreifen wollte, aber in völliger Verkennung den veränderten Verhältnissen nicht Rechnung trug, wurde zu einem Fehlschlag.

Wenn die Bergbauern gerettet werden sollen, so müssen neue Wege beschritten werden. Die derzeit laufende Steuerreform und die Bodenverbesserung reichen nicht aus. Es wäre an der Zeit, daß der ganze Komplex von Fragen, die sich an dieses außerordentlich wichtige Thema knüpfen, einer Enquete von berufenen Fachleuten vorgelegt wird.

Dem Bergbauern müßte vor allem zur Stärkung mager gewordenen Waldbesitzes geholfen werden. Es war bei jedem anderen Zweig der Landwirtschaft möglich, die einzelnen Betriebe durch richtige Organisation zu einem großen Ganzen, ohne Aufgabe ihrer Selbständigkeit, zu vereinen. Wir schufen Lagerhäuser für den gemeinsamen Verkauf des Getreides, Molkereien für die Verarbeitung der Milch, Stärkefabriken und Brennereien zur Verwertung der Kartoffeln, genossenschaftliche Obst- und Gemüseverwertungsgenossenschaften. Es müßte auch möglich sein, die kleinen Waldbesitzer auf genossenschaftlicher Grundlage für die Verarbeitung ihrer Produkte zusammenzuschließen und eine moderne Form für eine den Lebensbedingungen dieses Waldbesitze angepaßte holzverarbeitende Industrie zu schaffen. Sie würde zur Festigung des Bergbauerntums unendlich viel beitragen. Die Genossenschaft zur Verwertung der Harzprodukte in P i es t i n g, eine rein bäuerliche Genossenschaft, ist diesen Weg gegangen; ihr ist zu danken, daß Hunderte von Bergbauernhöfen erhalten geblieben sind; sie hat in der Gewinnung des Harzes und in seiner Verwertung mehr geleistet, als in der Öffentlichkeit bekannt ist. Man kann sagen, sie hat die Sünden von Wirtschaft und Staat zum Teil wieder ausgeglichen. •

Das gesamte Bauerntum steht in einer geistigen Krise, von dieser wurde in geringstem Maße der Bergbauer erfaßt. Schafft man die Voraussetzungen, daß er seine materielle Not überwinden kann, so wird unser Bergbauerntum ein Gesundbrunnen sein, aus dem unsere ganze Volksgemeinschaft Kraft trinken wird.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung