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Das sterbende Dorf

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Das Wiederaufbauprogramm für die österreichische Landwirtschaft nimmt unter den Maßnahmen, die der österreichischen Wirtschaft nach dem Auslaufen des Marshall-Plans die volle Standfestigkeit und Wirksamkeit verleihen sollen, einen breiten Raum ein. Das Potential der Agrarwirtschaft wird in planvoller und großzügiger Weise gestärkt: die durch den Krieg zerstörten Wohn-und Wirtschaftsgebäude werden wieder aufgebaut, die Elektrifizierung und die technische Ausrüstung der Betriebe ausgestaltet, der Veredelung des Saatguts, der züchterischen Verbesserung des Viehbestands, nicht zuletzt auch der fachlichen Ausbildung der in der Landwirtschaft Tätigen bedeutende Mittel zugewendet. Die Auswirkungen dieser sinnvollen und mit Beharrlichkeit fortgesetzten Planung spiegeln sich in steigenden Erzeugungsziffern. Dieser erfreuliche Erfolg vermag aber nicht darüber hinwegzutäuschen, daß der Bauernstand an seiner Wurzel bedroht ist: der

Boden ist im Begriffe, den Bauern zu verlieren.

Der Bauer mußte, gerade in Österreich auf karger Scholle lebend, wohl stets ein genauer Rechner sein, wollte er nicht im vollsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen verlieren. Aber seine Naturnähe, seine patriarchalische Lebensform, sein altehrwürdiges Brauchtum halfen ihm, das Gleichgewicht zwischen Materiellem und Ideellem zu bewahren und diese beiden widerstrebenden Einflüsse in sich auszugleichen. In diese ausgewogene Sphäre ist nicht zuletzt auch durch die Einwirkungen von Presse, Film und Rundfunk ein Einbruch materialistischer Gesinnung erfolgt, dessen Auswirkungen über den rein wirtschaftlichen Raum hinaus in beängstigender Weise das soziologische Gefüge des Bauerntums angreifen. Das oft beklagte und beklagenswerte Verhalten einzelner bäuerlicher Kreise in den eben verflossenen Zeiten der Lebensmittel- und Warennot ist nur ein — vielleicht mehr augenfälliges als in die Tiefe gehendes Zeichen dieser geänderten Haltung. Es mag verschwinden, wenn die Ursachen geschwunden sind. Was nicht gutgemacht werden kann, wenn es einmal in das sich langsam formende, aber alles Empfangene zähe festhaltende bäuerliche Bewußtsein eingedrungen ist, ist die bewußte und gewollte Wandlung im bäuerlichen Familienleben. Das E i n k i n d e r-System ist nicht mehr eine Eigentümlichkeit in ihrer Lebensauffassung materiell bestimmter städtischer Bevölkerungsschichten, es ist in weiterem Umfange, als der Allgemeinheit bewußt ist, eine Erscheinung des ländlichen Familienlebens geworden. Vorbei ist es in den Gegenden, die den geistigen Ausstrahlungen großstädtischen Denkens besonders ausgesetzt sind, mit dem reichen Kindersegen, der gerade ein Kennzeichen des Bauernstandes war. Die Dörfer werden menschenleer.

In einer Schule des Wiener Bodens sind unter 40 Schülern 10 einzige Kinder, 10 weitere ihrer Kameraden haben nur ein Geschwister. In einer anderen Schule stammt von 120 Schülern nur einer von Bauern ab, obwohl in der Gemeinde 39 landwirtschaftliche Betriebe sind. In einer dritten rein bäuerlichen Gemeinde, in der sich 84 größere und kleinere Bauernwirtschaften befinden, traten 1949 nur vier Schüler in die unterste Klasse ein, unter diesen nur ein einziges Bauernkind. Die Gesamtschülerzahlen dieses Ortes sprechen eine beredte Sprache: es gab dort 1901.: .159, 1910; 109, 1921: 91 und 1941 nur 51 Schul-kinder. In einer Gemeinde in der Nähe von Bruck an der Leitha ergab eine Untersuchung nachstehendes Bild;

Schüleranzahl

Ii if I

-j j o= a s: tß öM ä 1864 23 24 10 9 5 2 1 74 1871 25 40 10 14 10 3 5 107 1890 135 1900 33 40 45 15 26 3 10 172 1910 22 40 40 23 28 — 9 162 1915 127 1921 12 22 14 20 22 4 2 86

Im Absinken des Anteils der Bauernbevölkerung von 30 auf 14 Prozent und der Landarbeiterbevölkerung von 30 auf 23 Prozent innerhalb eines halben Jahrhunderts spiegelt sich das Aussterben des Dorfes. Dieses Zahlenverhältnis hat sich in den letzten Jahren noch bedeutend verschlechtert. Nach vorsichtigen Schätzungen übersteigt der Anteil der Schüler, die aus landwirtschaftlichen Kreisen stammen, das ist also der Bauern und Landarbeiter, nicht fünf plus fünf, sonach zehn Prozent.

Das Hinschwinden der bäuerlichen Bevölkerung wird durch die Kriegsverluste noch beschleunigt. Zweimal in einem Menschenalter ist gerade der ländlichen Bevölkerung ein furchtbarer Blutzoll auferlegt worden. In einem Gebirgs-bezirk Niederösterreichs ergab eine Untersuchung nachstehende Ziffern, die wohl für sich selbst sprechen:

Weltkrte 1914—1918 Kriee 1939—1943

Vermißte d. Gem. Gefallene d. Gem. t , i

4) w 5 cs

“S-S ?e l. • s b 3 £ 3 •

£~ £ü-S.“e S? s i u 3 = , 15

1. 67 55 101 85 35 30

2. 40 20 40 25 13 9

3. 28 20 78 13 1 —

4. 38 24 34 12 19 6

5. 8 4 10 4 4 1

6. 8 8 34 32 2 2

Dazu kommen noch die Verluste durch die. Landflucht, die durch die im Krieg erfolgten Abverpflichtungen der Landbevölkerung in die Industrie bedeutend verstärkt wurde und dadurch einen noch fortwirkenden Auftrieb erfahren hat. Sie entspringt einer Rechnung, die der Landflüchtige in seinem Unterbewußtsein durchführt. Er sagt sich, daß der wohl geringere, aber meist weniger mühevoll erworbene Lohn der Stadt dem gleichen Geldbetrag entspricht, den er als Verzinsung seines in der Landwirtschaft angelegten Kapitals bis nun erhielt. Die Ursache der Landflucht ist also außer einer einseitigen, oft vielleicht unbeabsichtigten Propaganda für die Vorteile Hps Stadtlehens, durch Presse. Film und

Rundfunk ein Verlust der bäuerlichen Einstellung und ihr Ersatz durch eine rein materialistische Auffassung. Dies ist soweit gediehen, daß es auf dem Wiener Boden in jeder Ortschaft zwei und mehr Bauernhäuser gibt, in denen die alten Eltern unter Aufopferung ihrer Kräfte den Betrieb führen, während zwei oder drei Söhne als Gendarmen oder Zollbeamte in die Stadt gezogen sind und ihr Erbteil zu einer besseren Lebenshaltung in der Stadt verwenden. Der Mangel an Landarbeitern führt zu einem Raubbau an der Gesundheit der ländlichen Bevölkerung, und es ist keine Seltenheit, daß in Landschulen 25 Prozent der Schulkinder als gesundheitlich gefährdet zu bezeichnen sind. Hat doch die arbeitsüberlastete Bäuerin nicht die Zeit, ihren Kindern genügend Obsorge zu widmen, die früh die fehlenden Arbeitskräfte ersetzen müssen.

Die Betreuung der landwirtschaftlichen Arbeitnehmerschaft ist eine Notwendigkeit, und sie hat eine erfreuliche Höhe erreicht. Aber es gibt zu denken, wenn sich gegenüber der Lage der bäuerlichen Besitzer selbst krasse Verschiedenheiten zeigen, wie sie nachstehender, dem Verfasser bekannter Fall aufzeigt: In einem Bauernhaus wurden gleichzeitig die Bäuerin und die landwirtschaftliche Hilfskraft Mutter. Während letztere vor und nach der Entbindung die zustehenden Erholungswochen zugebilligt erhielt und in ihren Genuß treten konnte, mußte die Bäuerin, da es an Arbeitskräften mangelte, nach drei Tagen aus dem Wochenbett an die Arbeit. Die gesundheitliche Auswirkung eines solchen Vorgangs läßt sich leicht erraten.

Wenn dies alles so weitergeht, steht in absehbarer Zeit das Dorf ohne Menschen da. In einer Generation werden wohl genug Bauernhöfe, aber keine Eigner vorhanden sein, und die Bodenreform, die nun geplant wird, muß unter Umständen ein Schlag ins Wasser werden. Wir werden dann notgedrungen, um den Boden überhaupt bebauen zu können, wieder große Güter schaffen müssen. Sehen wir doch die Dinge, wie sie liegen, nicht so, wie wir sie gerne haben möchten. Gehen wir nicht schamhaft an den Problemen unserer Zeit vorüber. Es nützt nichts, den Bauernstand materiell aufzubauen, wenn in den wiederaufgebauten Häusern und Musterställen keine Menschen leben, oder wenn die Menschen nicht Bauern, sondern Fabrikanten von landwirtschaftlichen Produkten sein werden. Es ist notwendig, einen Teil des Geldes, das wir zum materiellen Wiederaufbau ausgeben, zum geistigen Wiederaufbau des Bauernstandes zu verwenden, um wieder Menschen in unsere Dörfer zu bringen. Es ist nicht zu verantworten, wenn Flüchtlinge aus dem Bauernstand in Lagern dahinleben oder zu städtischen Arbeitern werden — Menschen, die in einer Generation im Dorfe fehlen werden. Wenn schon unser Bauernstand nicht imstande ist, die Menschen zu sichern, die in der Zukunft die Felder bebauen, müssen wir schon heute durch Ansiedlung von Flüchtlingsbauern dafür sorgen, daß die Felder in Zukunft doch bebaut werden.

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