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Die stille Revolution

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FLIESSBAND DES TODES. Kisten mit gackernden Hühnern werden abgeladen, und mit Kisten voll marktfertig ausgenommenem, gerupftem, nach Gewicht sortiertem Geflügel verlassen die Lastwagen den Hof. Erregtes Gackern auf der einen, nur noch totes Maschinengeklapper auf der anderen Seite des Hofes. Das elektrische Betäuben geschieht ebenso automatisch wie das Rupfen und Abwiegen und Sortieren der fertigen Ware. Nur getötet und ausgenommen wird mit der Hand. Die Wegstrecke, welche das Federvieh, kopfabwärts in den Halterungen des Fließbandes hängend, kurze, empörte Angstschreie ausstoßend, dann und wann vergeblich aufflatternd, zurücklegen muß, bevor ihm der betäubende Stromstoß versetzt wird, ist der einzige Schönheitsfehler in diesem ansonsten ganz und gar industriellen Prozeß.

Schauplatz des Geschehens: Fehring in der Oststeiermark, Geflügelschlachthof, von der Genossenschaft errichtet, und an einen privaten Geflügelverwertungsbetrieb verpachtet. Zweck des Besuches: Zu zeigen, wie die Mittel des Grünen Planes verwendet werden. Der Grüne Plan wiederum ist ein langjähriges Förderungsprogramm, das die österreichische Landwirtschaft fähig machen soll, den Anforderungen der Zukunft zu entsprechen. Nicht zuletzt soll er eine Umstellung beschleunigen, die von Gebiet zu Gebiet anders aussieht, aber überall mit Problemen verbunden ist, von denen der Städter nichts ahnt. Offen gesagt — es ahnt auch so mancher Bauer noch nicht, was da auf ihn zukommt.

DIE GENOSSENSCHAFTLICH ORGANISIERTEN GEFLÜGELMÄ-STER in der Oststeiermark, die 1964 bereits 1,7 Millionen Masthühner im Wert von 50 Millionen Schilling produziert haben, machen dem Importgeflügel mit wachsendem Erfolg Konkurrenz. Das Wort „produzieren“ ist ihrer Tätigkeit durchaus angemessen, denn was diese einst kaum lebensfähigen und nur durch die Spezialisierung geretteten Betriebe in sauberen Käfigen verläßt, das hat nie auf dem Misthaufen gescharrt und nie hastig flatternd vor einem Auto schnell die Straße überquert. Das hat das Tageslicht nur durch Glasscheiben gesehen. Das wurde mit Hilfe von Kraftfutter und unterstützt durch Antibiotika zu schnellem Wachstum angeregt.

Doch der Geflügelschlachthof in Fehring ist nur eines jener Projekte, die mit Hilfe von Zuschüssen aus den Mitteln des Grünen Planes verwirklicht werden konnten. Die Geflügelmast ist nur einer jener hochspezialisierten Wirtschaftszweige, die nicht nur einzelne Bauern, sondern ganze Gegenden vor dem wirtschaftlichen Ruin gerettet haben.

Wir fuhren auf unserer vom Landwirtschaftsministerium veranstalteten Reise durch Teile der Oststeiermark, in denen ein geschlossenes Umstellungsgebiet an das andere grenzt. Durch Gebiete, in denen der Bauer nur noch die Wahl hat zwischen Umlernen oder Ende. Wenn man auf der Fahrt nach Graz hinter Bruck an der Mur zwischen Kirchdorf und Mixnitz nach links in die Täler hineinfährt, kann man überall die aus Brettern gezimmerten „Talstationen“ der winzigen Seilbahnen sehen, mit denen, in einer primitiven, aber festen Kiste, die Bauern die Milch und gelegentlich auch sich selbst ins enge Tal hinunterbefördern. So mancher bekam erst in den letzten Jahren einen befahrbaren Weg zu seinem Hof, und so mancher wartet noch.

Wegebau — ein weiterer Aufgabenkreis für den Grünen Plan. Der Kilometer kostet 80.000 Schilling, ohne Asphaltdecke. Letztere verschlingt weitere 80.000 Schilling pro Kilometer. Verzichtet man aber auf sie, dann müssen die Bauern allein für die Erhaltung ihres Weges Jahr für Jahr zehn Prozent dessen ausgeben, was sein Bau gekostet hat.

FESTHALTEN AM HERGEBRACHTEN, eine gewisse geistige Unbeweglichkeit bildet oft das größte Hindernis für die Umstellung. Ein Hindernis, das allerdings von dem Schrecken, die es den Agrarpolitikern einst bereitete, in den letzten Jahren viel verloren hat. Die Umstellung beginnt jeweils mit dem Zusammenschluß mehrerer Bauern zu einer Arbeitsgemeinschaft. Sie bekommen einen gemeinsamen Berater, meist sogar ein Beratungsteam, dem ein Land- und ein Forstwirtschaftler angehören. Mitunter haben sie große Vorurteile zu überwinden. Allerdings verlangen sie von den Bauern sehr, sehr viel. Welcher Städter kann ermessen, was es für den Bauern bedeutet, wenn er eine vom Urgroßvater und vom Großvater übernommene Wirtschaftsweise aufgeben soll...

Die Bildung des ersten Umstellungsgebietes wurde denn auch von Verhältnissen erzwungen, die einfach keine andere Wahl ließen. Das auslösende Ereignis war ein Schock, der den Bauern der Oststeiermark am Ägiditag des Jahres 1952 versetzt wurde und der manchem von ihnen noch heute in den Knochen sitzt.

Sie trieben an jenem Tag ihre Ochsen von weither auf den Fischbacher Markt, wie immer am Ägiditag, seit langer, langer Zeit. Denn nur der Ochse brachte Geld ins Haus, das galt für einen großen Teil der Oststeiermark. Dieser Ochse aber war immer ein sogenannter Mur-bodner.

Das Murbodner Rind ist ein seit vielen Jahrhunderten unveränderter Schlag. Ein sogenanntes „Dreinutzungsrind“, das nicht nur Milch und Fleisch liefert, sondern nicht zuletzt auch als Arbeitstier begehrt war. Die Bauern kauften junge Murbodner Ochsen, immer gleich ein Paar, denn auch im Joch gingen die Ochsen zu zweit — so lang es keine Traktoren gab, die ihnen die Arbeit abnahmen. Die Bauern mästeten die Ochsen und benützten dazu das Getreide ihrer kargen Böden, ein Getreide, das auf dem Markt keine Chance hatte. Zugleich wurden die Ochsen zu braven Arbeitstieren abgerichtet. Wenn dann die Ochsen wieder zum Verkauf auf den Markt gebracht wurden, so entsprach ihr Mehrerlös nicht nur dem Gewichtszuwachs, sondern ihre Arbeit wurde überdies durch einen erhöhten Kilopreis belohnt.

Doch diese sogenannte „pcsitive Avance“ ging bereits vor dem zweiten Weltkrieg verloren und schlug nach dem Krieg in einen Wertverlust um. Gleichzeitig wurde es immer schwerer, Zugochsen zu verkaufen. Einst hatten auf dem Fischbacher Markt jedesmal 2000 Stück den Besitzer gewechselt. Am Katastrophentag des Jahres 1952 war zu Mittag noch kein einziger Kauf abgeschlossen.

DIE BAUERN MUSSTEN UMLERNEN. Sie mußten von der Mast auf die Zucht übergehen. Sie mußten sich von der Fleisch- auf die Milchwirtschaft umstellen. Sie mußten der Kuh, die in diesen Gebieten bisher ein wenig beachtetes Dasein im Schatten des Ochsen geführt hatte, den Vorrang einräumen. Und sie mußten, was ihnen besonders hart ankam, einen Teil ihrer Felder in Weideland verwandeln. Natürlich mußten sie sich auch von der geliebten Murbodner Rasse trennen, die durch Einkreuzen von frischem Blut in ein Zweinutzungsrind, bei dem es nur noch auf Milch und Fleisch und nicht mehr auf die Arbeitskraft ankommt, verwandelt wurde. Auch dieser Abschied war sehr schwer.

Mancherorts war die Umstellung fast ein Sprung aus grauer Vorzeit mitten hinein in das zwanzigste Jahrhundert. Manchenorts wurde bis vor dem zweiten Weltkrieg die sogenannte Brandrodung betrieben, die der Städter nur noch aus Schilderungen einzelner Naturvölker und von unseren frühen Vorfahren kennt. Sie war noch in unserem Jahrhundert in Österreich anzutreffen!

Brandrodung — das bedeutet Vernichtung des Waldes durch Feuer und Einsaat von Korn in die Asche. Das bedeutet sogenanntes „Doppelkorn“: eine gute Roggenernte im ersten Jahr und eine miserable im zweiten Jahr, aber von der gleichen Aussaat! Brandrodung bedeutet sodann 15 bis 20 Jahre Warten, Jahre, in denen wächst, was da will, Buschwerk, Birke, Erle, Jahre, in denen der Grund eine minderwertige Weidefläche abgibt. Dann wurde wiederum Feuer gelegt, und zwar so, daß es sich im Lauf mehrerer Tage, auf dem höchsten Teil des Hanges beginnend, bis zu seinem Fuß hinunterfressen konnte und nichts als Asche übrigblieb. Und der Kreislauf, der höchst unproduktive, begann von neuem.

DIES ALLES IST noch nicht lange her. Die von der Brandrodung „befallenen“ Parzellen sind noch heute zu sehen. Und viele Wälder haben sich vom mörderischen Heraushakken der „lebenden Einstreu“ aus den Baumkronen noch heute nicht erholt. Die Bauernburschen überboten einander bei dieser Gelegenheit mit waghalsigen Kletterpartien auf den Baumstämmen, bei denen die Steigeisen der Baumrinde nicht wiedergutzumachende Beschädigungen zufügten. Und wer am besten klettern konnte, bekam das schönste Mädchen.

Heute haben es die jungen Bauern da und dort schon sehr schwer, überhaupt eine Bäuerin zu bekommen. Der gutverdienende Fabriksarbeiter ist eine bessere Partie als der kühne Baumkletterer, der nichts zu bieten hat als ein Leben voll Arbeit und Entbehrung. Die Landflucht geht weiter. Das sogenannte „Gesundschrumpfen“ der Landwirtschaft könnte in manchen Gegenden in ein Zutodeschrumpfen übergehen. Vor allem in Gebieten mit schlechten Böden, mit sauren, für den Getreidebau ungeeigneten Feldern, mit Hanglagen, auf denen der Traktor nicht eingesetzt werden kann, mit ungünstiger Agrarstruktur, mit Betrieben, die so klein sind, daß ein Familienmitglied in der Industrie arbeiten muß, damit die übrigen nicht auf dem Hof verhungern.

Aber auch solche Betriebe haben noch eine Existenzberechtigung, wenn sie sich umstellen. Sie können dann sogar zu Goldgruben für ihre Inhaber werden, und in ihrer Gesamtheit zu einem wichtigen Faktor auf dem Markt, auf dem sie vor der

Umstellung praktisch überhaupt nicht in Erscheinung getreten sind.

Umstellung auf Viehzucht und Milchwirtschaft, Umstellung auf die Geflügelmast, das sind nur zwei aus dem Katalog der Möglichkeiten. Es kommt darauf an, für jeden Bauern und jedes Gebiet das Richtige zu finden.

INTENSIVER OBSTBAU NACH MODERNEN GESICHTSPUNKTEN ist in großen Teilen der Steiermark eine besonders lohnende Möglichkeit. Obstbau ist ein besonders arbeitsintensiver Wirtschaftszweig, die Fläche, die man braucht, um sich eine Existenz aufzubauen, ist dabei verhältnismäßig klein. Und die Steiermark ist in dieser Hinsicht klimatisch ganz besonders gesegnet und hofft auf einen weiteren Aufschwung ihres Obstbaues. Man sieht, wie oberflächlich der immer wieder gehörte Vorschlag ist, Flächen, die bei landwirtschaftlicher Nutzung ihre Besitzer nicht nähren, einfach aufzugeben, weil es sich die moderne Wirtschaft nicht leisten könne, unrationell Gewordenes zu halten. Es kommt in den meisten Fällen nicht darauf an, ob, sondern darauf, wie man sie in Zukunft nutzen soll.

DIE MITTEL DES GRÜNEN PLANES spielen dabei eine gewaltige Rolle. Sie kommen nicht nur der Landwirtschaft, sondern auch dem Städter zugute. Der Bauer zählt nach wie vor zu den besten Kunden der Industrie. Er kauft keineswegs nur den Mercedes, dessen Besitz ihm manche Leute gerne vorwerfen und den nur wenige Bauern besitzen.

Doch ein Bauer, der sich von dem, was er erzeugt, mühsam selbst ernähren kann, ist nicht in der Lage, Mähdrescher, Melkmaschinen, Heubelüftungsanlagen und Traktoren zu kaufen. Ein Bauer aber, der seinen Hof aufgibt und in die Fabrik geht, geht der Industrie als Konsument von Betriebsmitteln verloren. Für einen Boden, der nicht mehr bebaut wird, braucht man keine Sichel mehr und keine Sense und auch keinen Traktor. Der Städter aber benötigt nicht nur die Milch und die Butter und das Getreide und das Fleisch, die der Bauer erzeugt. Diese Dinge könnte man importieren. Der Städter ist aber auch auf den Bauern als Käufer angewiesen.

Eine Überlegung, die uns wichtig erscheint.

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