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Die Sorge um das tägliche Brot

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Vori britischen Fachleuten kürzlich festgestellt worden, daß im Winter 1945/46 an die 100 bis 120 Millionen Menschen in Europa mit Lebensmittelrationen ihr Auslangen werden finden müssen, die einem effektiven Zustand der Unterernährung gleichkommen. Von der gleichen Seite wird dabei der Zuschußbedarf an überseeischem Getreide allein, der notwendig ist, um das Ärgste zu verhindern, auf mindestens 10 bis 12 Millionen Tonnen veranschlagt. Schon der bloße Transport dieser gewaltigen Menge Stellt die verantwortlichen Faktoren vor ungemein schwierige Aufgaben. In derMehr-zahl der zuschußbedürftigen Staaten befinden sich die Bahnen in einem schlechten Zustand; ihre Leistungsfähigkeit kann nur auf einem Bruchteil der früheren veranschlagt werden. Man schätzt, daß im letzten Kriegsjahr allein im mittel- und westeuropäischen Raum rund 300.000 Güterwagen durch Feindeinwirkung zerstört wurden. Lange Zeit hindurch mußten amerikanische Frachter in den atlantischen Fläfen bis zu einem Monat mit dem Löschen ihrer Ware warten, weil die Ausladeanlagen von den abziehenden deutschen Truppen gründlich zerstört worden waren. Immerhin sind auch Erleichterungen der Lage zu verzeichnen. Es hat sich vor allem die verfügbare Schiffstonnage sehr bedeutend erhöht, seit der Krieg gegen Japan zu Ende gegangen ist. Doch haben jene recht, die nur von einer Zusammenfassung aller produktiven Kräfte der Welt eine Abwehr schwerer Komplikationen erwarten.

In Vorbereitung auf die kommende militärische Auseinandersetzung hatte man in Berlin bald nach der Machtergreifung durch Hitler alles Augenmerk darauf gerichtet, durch einen verschärften Auftrieb der Landwirtschaft zu einer weitgehenden agrarischen Selbstversorgung zu gelangen. Beim Getreide ist dies auch zum großen Teil gelungen; weit weniger bei den Futtermitteln, so daß sich die Schließung der sogenannten „Fettlücke“ als Unmöglichkeit erwies. Beim Körneranbau konnte man das angestrebte Ziel nur unter allergünstigsten örtlichen Vorbedingungen, das heißt vor allem bei jeglicher Ausschaltung störender Einwirkungen von süßen her erreichen. In dem Augenblick, da — durch den Krieg bedingt — die heimischen bäuerlichen Arbeitskräfte durch mehr oder minder ungelernte Arbeiter aus dem Ausland ersetzt, die Zuteilungen von Kunstdünger immer mehr gedrosselt werden mußten und schließlich die Zufuhr der für manche Böden unentbehrlichen Phosphate vollkommen zum Stillstand gelangte, war ein vor Jahr zu Jahr sich steigernder Rückgang der agrarischen Eigenversorgung unvermeidlich. Damit hatte man augenscheinlich in Berlin gerechnet. Daher die bereits im Jahre 1933 auf Clearingverträge gerichtete, von dem Gesandten Clödius sehr beharrlich geführte Südostpolitik des Reiches, die neben politischen Zielen vor allem auch den Zweck verfolgte, Wirtschaftsräume sich näherzubringen, deren agrarischer Überschuß deutsche Lücken ausfüllen sollte. Die gleiche Rolle haben nach 1939 zwangsweise auch die besetzten Gebiete ■ibernehmen müssen; der Grad der Ausbeutung steigerte sich mit der Dauer des Krieges. Die verheerenden Wirkungen dieses Systems hat zu allererst die Viehwirtschaft zu spüren bekommen. So erreicht heute in Frankreich der Viehstapel nur noch knapp 50 Prozent des normalen Bestandes, während gleichzeitig der Stand an Milchkühen zwischen 25 und 30 Prozent schwankt; in einzelnen Gebieten des Ostens liegen die Dinge noch weit schlimmer.

In langsamerem Tempo machten sich die Wirkungen des Krieges beim Getreideartbau geltend, aber auch da konnten schließlich die verschiedenen Gegenmaßnahmen nicht verhindern, daß sich der Boden für die mangelnde Pflege zu rächen_ begann. Je höher die Entwicklungsstufe, die der Ackerbau in einem Lande erreicht, desto empfindlicher ist er gegen Störungen jeglicher Art. Die Folge war schließlich ein Wettlauf zwischen Mensch und Tier um Körnerfrucht und Kartoffeln mit dem Ergebnis, daß im Reiche, wo man den heimischen Viehbestand geraume Zeit hindurch auf fremde Kosten geschont hatte, der Bestand vor allem an Schweinen fast dezimiert werden mußte. Der „Schweinemord“, der in der nationalsozialistischen Propaganda während der Jahre vor 1933 eine so große Rolle gespielt hatte, erlebte eine Neuauflage größten Stils. Es war das Zeichen, daß auch die deutsche Landwirtschaft den ihr gestellten Aufgaben nicht mehr gewachsen war. Schrittweise stellte sich der gleiche Zustand-der Erschöpfung ein, der die von deutschen Truppen okkupierten Länder schon seit langem verheerte. Wenn trotzdem innerhalb der Reichsgrenzen die freilich knapp bemessenen Lebensmittelrationen bis zum Kriegsende ungekürzt beibehalten werden konnten, so nur deshalb, w|eil den besetzten Staaten immer höhere Abgaben auferlegt wurden. Frankreich allein hatte 800.000 Tonnen Weizen pro Jahr zu liefern. In Zuschußgebieten wie Griechenland, Belgien und Holland wurde die Bevölkerung kaltblütig bitterstem Darben überantwortet. Wenn es die Propaganda auch anders wahrhaben wollte, so ist es' doch in Griechenland den deutschen und italienischen Truppen in keinem Zeitpunkt der Besetzung möglich gewesen, der herrschenden, furchtbaren Not Einhalt zu gebieten. Erst als das Internationale Rote Kreuz eingriff und auf schwedischen Schiffen regelmäßig amerikanische Lebensmittel nach dem Piräus gebracht wurden, erleichterte sich die Versorgungslage der griechischen Bevölkerung. Das Ausmaß des Elends kennzeichnet annähernd die Tatsache, daß durch volle zwei Jahre allein an die Bevölkerung von Athen täglich eine halbe, Million Portionen — bestehend aus einer Suppe und Brot — abgegeben werden mußte, um dem Hungersterben zu begegnen.

Mitten in dieser unheilvpllen Zeit hat es Fachleute gegeben, die die Frage, ob sich Kontinentaleuropa selbst ernähren könne, trotz zunehmender Mißerfolge unbedingt bejahten. Die Berechnungen des Präsidenten des Berliner Konjunkturforschungsinstitutes fabulierten kühnlich, daß in Kontinentaleuropa 460 Millionen Menschen aus der landeseigenen Erzeugung ernährt werden können; also um 117 Millionen mehr, als tatsächlich vorhanden waren. In Wirklichkeit vermochte sich Kontinentaleuropa — von England gar nicht zu reden — vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges nur zu 91 Prozent mit Nahrungsmitteln selbst zu versorgen, das heißt, daß schon vor 1939 weniger als 30 Millionen Menschen von Nahrungsmitteln lebten, die aus überseeischen Ländern eingeführt werden mußten.

In Berlin hat man denn auch augenscheinlich dem ganzen statistischen Ziffernzauber nicht ganz getraut. Deshalb ging man mit dem Plane um, im Rahmen der sogenannten europäischen Neuordnung, in der Nachkriegszeit dem Ackerboden eine wesentlich gesteigerte Leistungsfähigkeit zu vermitteln. Die „Neuordnung“ ist ausgeblieben, wohl aber sorgte seit Herbst 1939 schon der Krieg dafür, daß eine zwangsweise Umstellung des Konsums auf die fast rein vegetarische Kost erfolgte; anfangs 1945 hielt selbst die Bevölkerung im Reich nur mehr bei einem Fleischverbrauch, der — pro Kopf gerechnet — gegenüber den fast ausschließlich auf Reiskonsum abgestellten Gebieten Südost-Asiens ,nur noch einen ganz geringen Unterschied aufzuweisen hatte. Die Nahrungsmittelversorgung Kontinentaleuropas war daher schon lange Zeit vor Kriegsende mehr als problematisch geworden. Gegenwärtig werden durch das Zurückfluten der deutschen Bevölkerung aus den Ostprovinzen nach dem Westen — rund zwölf Millionen Menschen — für den verbleibenden Wirtschaftsraum Deutschlands Ernährungsprobleme geschaffen, deren endgültige Lösung im Augenblick überhaupt nicht abzusehen ist.

Nicht bloß in diesem Winter, sondern noch auf eine längere Zeit hinaus werden bedeutende Lebensmitteleinfuhren innerhalb der. europäischen Ernährungswirtschaft unentbehrlich sein. Organisationszentrum hiefür ist bekanntlich die UNRRA. (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), die in ihren Anfängen auf die Konferenz von Hotsprings zurückgeht und deren Gründung glücklicherweise rechtzeitig genug erfolgte, so daß bei Kriegsende bereits ein fertig ausgebauter Apparat zur Verfügung stand. Die vordringliche Aufgabe der UNRRA. — die zweite, das ist die Neu-ansiedlung,' ist wohl auf größere Zeiträume abzustellen — besteht jetzt darin, von Europa die Hungersnot fernzuhalten und damit einen der wichtigsten Programmpunkte 3er Atlantikerklärung, das ist die Befreiung von Not, in die Praxis umzusetzen. Die notwendigen Geldmittel sind in reichem Maße vorhanden. Wichtiger noch als die finanzielle Untermauerung ist, daß die USA. in den Jahren 1944 und 1945 Rekordernten aufzuweisen hatten und daß daneben auch in Kanada umfangreiche Getreideüberschüsse zum Abtransport bereitstehen. Australien scheidet dagegen wegen ejner katastrophalen Dürre als Lieferant aus. Bei Argentinien wird man die weitere Entwicklung der innerpolitischen Verhältnisse abwarten müsseh. Es wurde jedoch schon eingangs.darauf aufmerksam gemacht, daß selbst der Produktion in dem riesigen .Wirtschaftsraum der USA. und Kanada Grenzen gezogen sind, weshalb nichts verfehlter wäre, als sozusagen alles von der angelsächsischen Hilfe jenseits des Ozeans erwarten zu wollen.

In Hotsprings hat es seinerzeit Konferenzteilnehmer gegeben, die eine Art „Weltbestellungsplan“ empfahlen, wonach die wichtigeren Getreidesorten nach Kriegsende vornehmlich in den Uberseeländern angebaut werden sollten. Sie lieferten damit der nationalsozialistischen Propaganda den Vorwand für die Behauptung, daß man Europa in völlige Abhängigkeit von der Übersee und vor allem von den USA. bringen wolle. Die Praxis sieht demgegenüber — das zeigt sich jetzt — wesentlich anders aus. Vom Weltbestellungsplan ist weit und breit nichts mehr zu hören. Dafür hat sich der Leiter der UNRRA. in entschiedener Weise dafür ausgesprochen, daß man von Amerika aus der europäischen Landwirt-- schaft helfen müsse, ihre eigene Produktion so rasch als möglich zu erweitern. Dazu gehören vor allem Maschinen, und so wie Frankreich, Belgien und Holland bereits im vergangenen Sommer ausgiebig mit landwirtschaftlichen Maschinen beliefert wurden, so darf man wohl auch in Österreich mit einer ähnlichen Unterstützung rechnen, zumal in der Landwirtschaft allgemein über den durch die Requisitionen hervorgerufenen Mangel an Zugtieren geklagt wird. Aber auch dann, wenn genügend Maschinen und nicht zuletzt auch Kunstdünger zur Verfügung stehen, werden' Jahre vergehen, bis die durchschnittliche Leistungsstufe der Vorkriegszeit wieder erreicht ist. Im Gegensatz zur industriellen Fertigung, die gegebenenfalls zur raschen Serienproduktion übergeht, läßt sich in der Landwirtschaft die Erzeugung nur schrittweise steigern. So haben Berechnungen, die im vorigen Jahr das Sekretariat des Völkerbundes veröffentlichte,ergeben, daß man nach dem ersten Weltkrieg volle fünf Jahre benötigte, um wieder bei der ehemaligen Getreideproduktion anzulangen. Diesmal greifen die Kriegsschäden noch tiefer; doch verfügt man dafür über bessere Erfahrungen und über eine noch weiter ausgebildete Technik. Es wird im übrigen auch innerhalb Kontinentaleuropa Unterschiede in der Rückgewinnung der alten agrarischen Leistungsfähigkeit geben.

Daß dabei Österreich nicht schlecht abschneidet, ist in unserem ureigensten Interesse gelegen. Was Zielstrebigkeit und Fleiß zu erreichen vermögen, das hat sich bei uns schon einmal vor mehr als eineinhalb Jahrzehnten erwiesen, als es dank einer mit dem Namen Dr. Dollfuß engverbundenen Aktion gelang, bei einzelnen wichtigen landwirtschaftlichen Produkten fast zum Zustand der Selbstversorgung zu gelangen. So waren wir vor 1938 in der Zuckerrüben erzeugung vollkommen autark. Noch -eindrucksvoller sind die Angaben, die sich auf andere wichtige Agrarprodukte beziehen. Da ist vor allem der Aufstieg beim Anbau von Kartoffeln, der mit 23,68 Millionen Doppelzentner Ertrag gegen nur 16,05 Millionen Doppelzentner im Jahre 1913 eine Deckung des Eigenbedarfes in Höhe von 99,24 Prozent erreichte. Beim Hafer, bei der Gerste und beim Roggen standen einer Gesamtproduktion im Umfang 4,27 Millionen Doppelzentner, beziehungsweise 2,78 Millionen und 6,21 Millionen ein Import (im Wirtschaftsjahr 1935/36) von 0,28, beziehungsweise 0,54 und 0,46 Millionen Doppelzentner gegenüber. Auch hier war somit ein bemerkenswert hoher Grad der Eigenversorgung gegeben, der beim Hafer und Roggen 92,3 und 92,5 Prozent erreichte. Nicht weniger imponierend waren die Erfolge in der Milcherzeugung. Die eingeleiteten Maßnahmen vermochten es zustandezubringen, daß im Jahre 1937 auf österreichischem Boden nicht weniger als 25,4 Millionen Hektoliter Milch erzeugt wurden, gegen etwa 12 Millionen Hektoliter im Jahre 1919.

Von den Männern, die damals echte Pionierarbeit leisteten, stehen heute noch mehrere an verantwortungsvollen Stellen. Es ist zu hoffen, daß es ihrer Energie und ihrer engen Verbundenheit mit der bäuerlichen Bevölkerung gelingen wird, die schwere Aufgabe, so wie vor einem Jahrzehnt, zu lösen.

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