6646535-1958_27_06.jpg
Digital In Arbeit

Ein vergessenes Schlachtfeld

Werbung
Werbung
Werbung

In dieser an aufregenden Krisen so reichen Zeit kann unser Erinnerungsvermögen kaum Schritt halten mit dem schnellen Strom der sich überstürzenden Ereignisse. Knapp fünf Jahre ist es her, daß das Blutvergießen in Korea mit dem Waffenstillstandsvertrag von Panmunjon ein Ende nahm, aber wer denkt heute noch an den Junitag 1950, da die Nachricht vom nordkoreanisch-kommunistischen Ueberfall auf den Süden weithin die furchterregende Vorstellung eines neuen Weltbrandes wachrief? Oder an die entschlossene Gegenwehr der in diesem Fall wirklich vereinten Nationen, die den Urhebern der Aggression einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machte? All das ist vergessen, ebenso wie die ungezählten blutigen Opfer, die jener Krieg gefordert hat, und wie das unglückliche Volk, auf dessen Boden er drei Jahre lang aus-gefochten wurde, ohne der gerechten Sache den entscheidenden Sieg zu bringen. Bei manchen freilich löst das Wort Korea ein Gefühl schmerzlichen Bedauerns darüber aus, daß die fabelhafte Hochkonjunktur, die der koreanische Krieg für den Handel mit Rohstoffen und Heereslieferungen aller Art zur Folge hatte, nicht immer noch andauert.'..

Für das südkoreanische Volk allerdings konnte es bis heute kein Vergessen geben; zu tief sind die Wunden, die ihm damals geschlagen worden sind, und zu beständig die Furcht vor einem neuerlichen Einbruch aus dem Norden. Um für einen solchen Fall gewappnet zu sein, trägt es die Last einer Armee, die im Verhältnis zur Bevölkerungszahl und den wirtschaftlichen Gegebenheiten nach der türkischen als die größte der Welt gilt. Sie sollte wohl imstande sein, es mit dem unheimlichen Nachbarn jenseits der Demarkationslinie von Panmunjon aufzunehmen, aber rnnter diesem, und nur durch den Jalufluß von ihm getrennt, steht die Macht des rotchinesischen Reiches mit seinen bald 600 Millionen Menschen, indes zwischen den amerikanischen Streitkräften im Fernen Osten, die für ein sofortiges Eingreifen wie Anno 1950 verfügbar wären, und ihrem Mutterland die ganze Weite des Pazifischen Ozeans liegt. Und ob die Vereinigten Staaten auch in Hinkunft gegebenenfalls bereit sejn würden, ihren Schild, so wie damals, über die südkoreanische Republik zu halten, ist eine Fra;e, die zu sehr mit der allgemeinen Entwicklung der weltpolitischen Situation verknüpft ist, als daß sie sich mit voller Gewißheit im positiven Sinn beantworten ließe. Ueber diese Problematik sind sich Präsident Syngman Rhee und seine Freunde ebenso im klaren wie die Opposition, deren Presse mit einer Offenherzigkeit, die man unter einem semidiktatorialen Regime kaum erwarten sollte, die Regierung unter vielen anderem auch wegen ihres übergroßen Vertrauens auf den amerikanischen Schutz kritisiert. Hier liegt übrigens kaum der Grund, weshalb die Liberale Partei, die, genau genommen, nichts weiter ist als die politische Leibgarde Syngman Rhees, bei den letzten Wahlen eiheb-liche Stimmenverluste zu verzeichnen hatte; namentlich in den städtischen Wahlkreisen mit einem höheren Prozentsatz vcn Intellektuellen. Denn was immer die Zukunft bringen mag, auch an Wendungen im politischen Kurs der USA, zur Zeit ist es jedenfalls so, daß das Land ohne die ständige und großzügige amerikanische Hilfe einfach nicht existieren könnte; was in den Städten noch augenfälliger in Erscheinung tritt als in den ländlichen Bezirken, wo Syngman Rhee sich nach wie vor einer großen Popularität erfreut.

Gesamtkorea besäße die natürlichen Voraussetzungen für einen soliden Wohlstand: eine genügsame, fleißige und zur Erreichung eines höheren Bildungsniveaus durchaus befähigte Bevölkerung; ein genügendes Ausmaß fruchtbarer Erde und reiche Bodenschätze in Form von Kohle, Eisen, Kupfer und anderen hochwertigen Erzen. Aber Korea als ein Ganzes ist eben nur noch ein geographischer Begriff, und das Land* südlich des ominösen 3 8. Breitengrades, der, zu Ende des zweiten Weltkrieges lediglich als Demarkationslinie zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Besatzungszone bestimmt, sehr bald, entgegen den Beschlüssen der Vereinten Nationen, zu einer De-facto-Staats-grenze wurde, die Republik Korea also, ist bei dieser widerrechtlichen, von Moskau inszenierten Teilung entschieden zu kurz gekommen. Nicht zwar an Bevölkerungszahl; den einschließlich großer Scharen „freiwilliger“ chinesischer Zuwanderer jetzt wahrscheinlich 14 Millionen Bewohnern der Volksrepublik stehen in der Republik Korea, 6 Millionen Flüchtlinge miteingerechnet, annähernd 25 Millionen gegenüber. Aber mit seinen 127.000 Quadratkilometern ist das kommunistisch beherrschte Gebiet um mehr als ein Drittel größer als der Staat im Süden, und, was entscheidend ins Gewicht fällt, so gut wie ausschließlich dort oben liegen die Anbauflächen für Reis, das Hauptnahrungsmittel aller Koreaner, ferner fast die gesamten Mineralvorkommen, die ausgedehntesten Waldungen und dementsprechend auch der größte Teil der Industrie, deren Begründung und Entwicklung (übrigenseines -der- weitvollsten- Erbstücke istjfaei diefünffif Jafcit*'wäfirlrQfeirierr- 5 schaft der Japaner hinterlassen hat. Im Süden hingegen kommt die industrielle Produktion erst jetzt, nach großem Aufwand amerikanischer Gelder und amerikanischer Energie, allmählich in Gang, und das nur in einigen wenigen Sparten. Die Textilindustrie ist so ziemlich die einzige, deren Erzeugung den Inlandbedarf übersteigt; was freilich nicht bedeutet, daß es ihr leicht gelingt, ihre für den Export verfügbaren Produkte im Ausland abzusetzen. Damit ist die beängstigende Schwierigkeit des Problems gekennzeichnet, mit dem die Regierung in Söul ständig zu kämpfen hat: wie die Mittel beschafft werden können, um durch entsprechende Einfuhren die Industrie mit Rohstoffen und der nötigen maschinellen Ausrüstung zu versorgen und zugleich eine halbwegs hinreichende Ernährung der breiten Massen sicherzustellen.

Nach einer besonders guten Ernte, wie sie 1957 zu verzeichnen war, kann die allgemeine Ernährungslage den bescheidensten Ansprüchen gerade noch genügen. Fällt das landwirtschaftliche Erträgnis aber auf oder unter den Durchschnitt, wie im Jahr zuvor, dann herrscht in weiten Teilen des Landes nicht mehr Mangel, sondern krasse Hungersnot. Darüber ist von den unter der ländlichen Bevölkerung wirkenden christlichen Missionären verläßlichere Auskunft zu bekommen, als von den offiziellen Sprechern Syngman Rhees. Aber selbst diese müssen zugeben, daß der Bauernstand, der ungefähr drei Viertel der Gesamtbevölkerung umfaßt, von seiner Schuldenlast geradezu erdrückt wird. In Zeiten allergrößter Not, wenn die Scheune leer ist und der Bauer, um sich und seine Familie gerade noch am Leben zu erhalten, etwas Bargeld um jeden Preis in die Hand bekommen muß, rechnet ihm der Wucherer den „üblichen“ Zinsfuß von zehn Prozent per Monat, falls er es nicht vorzieht, ihm die künftige Ernte, vielleicht noch vor der Aussaat, um einen Spottpreis abzunehmen. Mit der großzügigen amerikanischen Finanzhilfe, die jährlich Hunderte von Millionen Dollar ins Land fließen läßt, wäre die so dringende Entschuldung der Bauernschaft ohne weiteres durchführbar, aber offenbar gibt es gewichtige Interessenten, die eine solche Aktion zu hintertreiben wissen. Die amerikanischen Ratgeber, die die Verwendung jener Gelder kontrollieren sollen, unter möglichst weitgehender Respektierung der koreanischen Souve-' ränität, haben namentlich auf den Gebieten der Industrialisierung, des Unterrichtswesens und der öffentlichen Hygiene vieles erreicht, und vor allem ist ihnen die endlich erzielte Stabilität der Währung zu verdanken; es gibt aber eine Menge Fragen — nicht mitgerechnet die militärischen, die von einem eigenen Expertenteam behandelt werden —, bei denen sie auf den stärksten Widerstand gestoßen sind, den es in der Republik Korea überhaupt gibt: die Persönlichkeit des Präsidenten.

Syngman R n e e, an Lebensjahren, Vitalität und Willenskraft der „asiatische Counterpart“ Konrad Adenauers, ist nicht gewohnt, bei anderen Rat zu suchen oder-zu fassende wichtige Beschiiisse anderen zu überlassen. Er hat die Formen der Demokratie akzeptiert, ohne deshalb im Herzen ein Demokrat geworden zu sein. Ueberzeugt davon, einen schärferen Blick und ein höheres Urteilsvermögen zu besitzen als die Versammlung der Abgeordneten, die sich ja, wie überall in der Welt, bestimmt nicht mehrheitlich aus brillanten Köpfen und hervorragenden Charakteren zusammensetzt,- schenkt er dem, was sich auf der parlamentarischen Bühne abspielt, wenig Beachtung. So wie die Initiative in allen Zweigen des staatlichen Lebens, so liegen auch die letzten Entscheidungen bei ihm. Trotzdem, sein Regiment ist eher als autoritär denn als diktatorial zu bezeichnen. Von einer ideologischen „Gleichschaltung“, von einem Totalitätsanspruch einer Partei ist keine Rede. Was Syngman Rhee will und was ihm zweifellos weitgehend gelungen ist, liegt in der Sammlung aller Kräfte des Volkes und ihrer Ausrichtung nach dem einen Ziel hin, das sein Denken beherrscht; und in einem solchen Maße beherrscht, daß ihn auch dringlichste Probleme, wie etwa das Los der vielen Zehntausende von Kindern und Jugendlichen, die, durch den Krieg um Eltern und Heimstatt gebracht, noch heute als bettelarme, hungernde Vagabunden das Land durchstreifen, kaum zu beschäftigen scheinen. Dieses Ziel heißt: Sturz des kommunistischen Regimes im Norden und Vereinigung ganz Koreas unter der Fahne, die vom Mast des präsidentiellen Palais in Söul weht.

Die überragende Autorität Syngman Rhees ist auch bei seinen Gegnern unbestritten. Sie hat sich als das stabilisierende Element im politischen Leben der Republik bewährt. Aber der Präsident zählt 83 Jahre, und wer einmal sein Erbe sein wird, liegt - völlig im Dunkel. Weit und breit ist niemand in Sicht, der seiner Statur auch nur nahe käme und von dem zu erwarten wäre, daß er die Führung auf dem Wege, den Syngman Rhee mit unbeugsamer Energie vorgezeichnet hat, unangefochten und von dem Willen eines in sich geschlossenen Volkes getragen übernehmen wird. Die Gefahr bitterer innenpolitischer Auseinandersetzungen, eines Auflebens' der Rivalität zwischen Parteien und Fraktionen, und damit einer Zersplitterung der Kräfte, ist nach dem Ausscheiden Syngman Rhees unzweifelhaft gegeben. Das ist ein Moment, welches bestimmt nicht bloß von den jetzt in den Untergrund verwiesenen südkoreanischen Kommunisten hoffnungsvoll in Rechnung gestellt wird. Denn auch in Pjönjang und in Moskau arbeitet man an Plänen für die Vereinigung ganz Koreas; allerdings unter dem Symbol der koreanischen Volksrepublik...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung