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Die Kommenden

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Das war ein trübseliger Sonntag, dieser 24. August, in Wiener Neustadt. Man hatte für einen großen Festtag gerüstet, und selbst diese Stadt, die soviel Kriegswunden empfangen hat und in der soviel Tränen vergossen, soviel Gräber aufgetan wurden, hatte begonnen, vor Freude zu lächeln. Denn aus ferner Gefangenschaft sollten, lang und mit tausend Sehnsüchten erwartet, die ersten von vielen Zehntausenden heimkehren, Gatten, Söhne und Brüder. In schlaflosen Nächten umhergewälzte bange Fragen um die Schicksale von Lieben, welche die unbekannte Fremde lautlos und ohne Spur verschlungen hatte, würden nun vielleicht Antwort finden. So hatte man gehofft. Der Beginn der großen Heimkehr von Rußland war mit Terminen angesagt worden und mit weitausgebreiteten Armen wollte die Heimat ihre Kinder empfangen. Dann kam knapp vor dem angesagten Eintreffen der ersten Transporte die Absage. Sie würden später kommen, Anfang September .. Es war eine große Enttäuschung. Die Fama wußte allerlei Erklärungen. Doch es hat keinen Sinn und es ist unrecht, durch eine mißtrauische und verbitternde Kritik das Schmerzliche noch schmerzlicher zu machen und neue Befürchtungen zu erwecken. Wir Österreicher alle tragen schwer genug an dem Lös unseres Landes, seiner Unfreiheit, der Kürzung seiner Existenzrechte, dem Ausbleiben des Staatsvertrages und an der erschütternden Zerrissenheit Europas, die das verzweifelte Wort Wells zu rechtfertigen scheint, daß die menschliche Welt in Konkurs ist und schon liquidiert. Doch gerade weil vieles so hart und schlimm ist, heißt es dem Pessimismus wehren und den Blick für die erkennbaren Tatsachen bewahren.

Das heutige Verkehrswesen im europäischen Rußland kann nicht nach westlichen Maßstäben gemessen werden. Bis an die Wolga, anderthalbtausend Kilometer und noch mehr, bis an die Tore von Moskau und Petersburg sind die Brandungen des Krieges den Eisenbahnsträngen entlang gebraust. Provisorien, die noch an vielen Stellen die zerstörten Stationen, Ausweichanlagen, Brücken zu ersetzen haben, erhöhen die Hemmungen, die aus der Eingeleisigkeit riesiger Strecken entstehen. Für weitlaufende Transporte erweisen sich genaue Fahrzeitberechnungen als unmöglich. Eben jetzt finden zudem die aus dem europäischen Südosten gegen das Innere Rußlands strebenden großen Getreideverfrachtungen aus der letzten Ernte statt. Nach der in Sowjetrußland bestehenden Verkehrsregel hat jeder Güterzug mit Lebensmitteln den Vorzug, vor ihm hat auch der Expreßzug die Strecke freizugeben. So wachsen die Aufenthalte zuweilen ins Unberechenbare. Hier liegen, wie man annehmen muß, die Ursachen für die Verspätung der Heimkehrerzüge.

Zwei Jahre hat die Heimat in Schmerzen luf ihre Söhne gewartet. Was wird sie nun ien Kommenden außer Empfangsreden, Fahnenprunk und Liebesgaben bieten? Es verdient Anerkennung, daß Regierung und Verwaltung trotz der Armut des Landes, ohne zu kargen, den Ankommenden die Rückkehr in das bürgerliche Leben möglichst zu erleichtern trachten, und man darf hoffen, daß der nie rastende zivile und militärische Bürokratismus in diesem Falle ein menschliches Einsehen zeigen und Parlament und Parteien die Heimkehrerfürsorge als eine Herzensangelegenheit des ganzen Volkes ohne Unterschied betrachten, die keine parteipolitischen Spekulationen duldet. Eine Erinnerung daran tut not. Das Gedrängel geschäftiger Leute, die erweisen, daß kein Herz für die Heimkehrer brennheißer schlage als das ihre, war letzter Zeit weniger überzeugend als geschmackswidrig. Frei von aller Parteipolitik verdient der aus Tirol an die Adresse der Gesetzgeber gerichtete Vorsdilag behandelt zu werden, die aus langer Kriegsgefangenschaft Heimkehrenden nicht den Bestimmungen des NS-Gesetzes zu unterwerfen, soweit es nicht Personen sind, die das Gesetz als Kriegsverbrecher verfolgt.

Wohl die meisten kommen aus einer Gefangenschaft, die bis auf den Fall von Stalingrad und die damalige Aufrollung der deut. sehen Angriffsfronten zurückgeht. Hinter ihnen liegen die Erlebnisse des Krieges und einer mehr als vierjährigen Gefangenschaft in Rußland. Für die seelische Bedeutung dieser Tatsache besitzen wir noch keine Analyse. Über dieser Zeit und ihren Geschehnissen lag tödliches Schweigen, das nur von wenigen durch eine Botschaft für die Heimat durchbrochen werden konnte. Was haben sie alle aus ihrem Schicksal, ihrer Not und ihrem Leid zu machen vermocht? Viele von ihnen sind zweifellos durch eine Welt gewaltiger fremdartigster Eindrücke gewandert. Eine andere Natur, Menschen anderer Sprache und Sitten und Einrichtungen, ein anderes Denken und Abzielen umgab sie. Die ganze Weite zwischen Abendland und dem Osten, zwischen der alten Welt und einer neuen, widerspruchsvollen, von jungurwüchsigem bäuerlichem Volkstum bestimmten lag zwischen ihnen und der Vergangenheit, die sie bei ihrem Auszug in den Krieg verlassen hatten. Es wird viel darauf ankommen, inwieweit sie in Geist und Wesen dieser Umwelt eindringen, das Neue, bisher Unbekannte urteilsmäßig bewältigen konnten. An so manchem von denen, die nach dem ersten Weltkrieg lange in Rußland, zumeist in Sibirien, festgehalten blieben, war etwas von dieser Fremde, die sie erfaßt hatte, haftengeblieben. Sie brachten es nur mühsam los, ein Gemisch von Staunen und Schrecken. Seit damals, da die kommunistische Herrschaft über Rußland kaum ein halbes Jahrzehnt alt war, hat sich aber eine fast unermeßliche Wandlung vollzogen. Kein Zweifel: Ein Riese hat dieses große Reich mit mächtigen Schritten durchmessen, neue Städte aus der Erde gezaubert, in Bereichen, wo früher Wald, Sumpf, Wildnis war, gigantische Industrien geschaffen, Zusammenballungen industrieller Rüstung, von deren Möglichkeiten das alte Rußland nicht geträumt hatte und mit denen die angewandte materialistische Weltanschauung ihre höchsten Triumphe gegen das alte metaphysische Denken und Streben zu erobern gedenkt. Der Staat, von wenigen gelenkt, im Namen einer als Demokratie bezeichneten Formung, aufgespalten in nationale Förderationen und damit dem alten Europa voraus, die soziale Ordnung ein Wagnis, das ebenso kühn wie konsequent und streng ist. So trat dieses Rußland dem gefangenen Österreicher gegenüber, nicht leicht zu enträtseln, viel leichter miß-zuverstehen. Damals, bald nach dem ersten Weltkrieg, stand das Parteigebäude, auf dem die Sowjetmacht ruht, noch im Schatten eines drohenden dunklen Gewölks, der immer mehr sich verschärfenden Gegensätze in der Führerschaft, zwischen Lenin und Stalin, zwischen Trotzky, Karl Radek und Smirnow, dem Begründer der Sowjetregt'erung Sibiriens, und Stalin, Gegensätze, die schließlich in Zusammenstoß und Verbannung der Opposition endigten. Was damals noch oszillierende Unausgeglichenheit war, ist heute “ein effektives autoritäres System von großer Geschlossenheit.

Die Atmosphäre dieser physischen und politischen Landschaft hat jahrelang die nun Heimkehrenden umgeben. Wie viele von ihnen gewannen reife Erkenntnisse, Wissen um die Wesenheiten, um Irrtum und Wahrheit, um Schein und echte Frucht? Nun wird sie das Unbekannte der alten Heimat empfangen, ein Österreich, das in vielem so anders ist als jenes, von dem sie Abschied nahmen. Sie kommen in ein um seine Existenz gegen übermächtige Gewalten ringendes, in den Streit der Großen hineingerissenes Land, das zu seiner Verteidigung nichts besitzt als seinen guten Willen, sein ehrliches Friedensverlangen, seine Geduld und aus christlichem Herzensgrunde sein Gottvertrauen. Dieses Land braucht Männer. An parteipolitischen Dogmatikern und Trommlern, Experimentierern und Schönrednern mangelt es hierzulande nicht, aber mehr Männer brauchen wir, die, in harter Erfahrung gestählt und von der' sehnsüchtigen, selbstlosen Liebe für dieses Österreich erfüllt, bereit sind, alle moralischen Kräfte unseres Volkes in diesen Stunden großer Gefahren zu einer Einheit zusammenschweißen zu helfen. Es schweige jetzt vor den Scharen der Heimkehrenden alles Schöngetue der Parteipropaganda, man lasse jedem Zeit, inmitten seiner Familie ungestört zu der alten Heimat und ihren heutigen Lebenserfordernissen hinzufinden. Man soll ihnen aber helfen mit Liebe und Vertrauen. f.

Trotz unserer Versuche, zu einer wirklichen Demokrat i e zu gelangen, haben wir in unserem eigenen Zeitalter nur wenig dazugetan, das Verantwortungsgefühl zu pflegen und die bürgerlichen Pflichten, auf denen das demokratische Leben beruhen muß, klarzustellen. Als wir die Fesseln des Feudalismus und der Pluto-kratie abstreiften, haben wir den Wert der Freiheit hochschätzen gelernt, und mit unserer Betonung des Freiheitsideals haben wir die Neigung erworben, Verantwortlichkeit als eine Hemmung unserer Freiheit zu empfinden. Wir haben uns zwar die Freiheit, Kritik zu üben, vorbehalten, aber wir empfinden nicht die Pflicht, mit Kenntnis und Verständnis zu kritisieren. Wir gründen Vereinigungen zur Wahrung der Pressefreiheit, aber keine, um über die Verantwortlichkeit zu wachen, auf der letzten Endes diese Freiheit beruhen muß. Bewegungen, die als echte Bewegungen einer Emanzipation geboren wurden, entarten in eine Fahnenflucht vor Verantwortlichkeit. Jungendpflege zum Beispiel, die ganz ausgezeichnet ist, sofern sie Lebenskraft, Tätigkeitsdrang und natürlichen Idealismus der Jugend schützt und pflegt, wird oft zu einer Heimstätte von Verantwortungslosigkeit. Die Leidenschaft „mit leichtem Gepäck“ durchs Leben zu kommen, Bindungen und Verpflichtungen zu vermeiden, ist zwar ein verständliches Ergebnis einer wirtschaftlichen Hochblüte und des mit ihr verbundenen rapiden Wechsels der Arbeitsstätten und Erwerbsplätze, aber sie ist weder gereift noch kuiurför-dernd, noch kann sie die Grundlage einer gesicherten Demokratie bilden.

Michael Roberts: „Die Erneuerung des Westens“

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