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Maßvoller Optimismus

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Zu Be ginn des zweiten Weltkrieges kursierte in Italien einer jener damals in ganz Europa so beliebten Witze über das Gesprädi zwischen dem Optimisten und dem Pessimisten. Der Optimist: „Nach diesem Krieg werden wir alle betteln gehen.“ Der Pessimist: „Ja, aber zu wem?“ Die damals als groteske Übertreibung gedachte Prophezeiung ist heut weitgehend eingetroffen. Nicht nur in Italien, wo man eben den einjährigen Geburtstag der Republik in einer recht unbehaglichen Stimmung feierte, inmitten seiner schleichenden, immer wieder nur notdürftig überbrückten politischen und finanziellen Dauerkrise, die in den zahlreichen Rücktritten und Regierungsumbildungen stets aufs neue zum Ausbruch kommt. Aber auch unsere zahlreichen anderen Nachbarn befinden sich — mit der einzigen Ausnahme der vom Krieg verschonten Schweiz —, alle in keiner besseren, viele in einer wesentlich schlechteren Lage als unser Österreich, und darüber hinaus ist von der allgemeinen Verarmung, sowie von den daraus erwachsenden Gefahren und Sorgen kaum ein Mitglied der europäischen Familie verschont geblieben.

Nun ist es ja gewiß ein schwacher Trost, daß es anderen nicht besser, sondern noch schlechter geht als uns. Aber es ist doch, gerade in Österreich, ganz gut, wenn man gelegentlich den tief in die eigenen Sorgen vergrabenen Kopf etwas hebt und durch einen Blick zu den Nachbarn feststellt, daß schließlich jeder, so oder so, sein Kreuz zu tragen hat. Berichte aus allen vier Himmelsrichtungen und vor allem die spärlichen privaten Nachrichten, die durch die verschiedenen eisernen Vorhänge und verhängten Fenster zu uns gelangen, zeigen, daß rund um uns Zusammenbrüche der bisherigen Gesellschaftsordnung und soziale Umschichtungen vor sich gehen, die vielleicht einmal in einer fernen Zukunft auch manche wohltätige Folge zeitigen mögen, die aber heute jedenfalls mit einer für die Betroffenen kaum erträglichen Härte und einer Massenverelendung von unvorstellbarem Ausmaß verbunden sind.'

Es erweist sich jetzt — so paradox das klingen mag — als eine Art Vorteil für Österreich, daß hier der wirtschaftliche und soziale Umsturz nach dem ersten Weltkrieg viel tiefgreifender war als bei den meisten unserer Nachbarn, und daß wir auch in der Zeit zwischen den Kriegen nie die scheinbare Sicherheit wirtschaftlicher Blüte und politischer Befriedung genießen durften, die manchen von ihnen vorübergehend gegönnt war. Die Jugend, die bei uns in dieser Zeit heranwuchs, kannte nur aus den Erzählungen ihrer Eltern jene bürgerliche Sicherheit der „Welt von gestern“, die Stefan Zweig jüngst kurz vor seinem Tode mit rückblickender Wehmut geschildert hat. Die den Staat tragende Gesellschaft mit ihren beiden Säulen, dem Beamtentum und der Armee, hatte durch den Zusammenbruch der Donaumonarchie ihre Lebensaufgabe und damit ihren Sinn verloren, während die materielle Grundlage eines gesunden Bürgertums durch die Inflation weitgehend zerstört war. Neben den Nachteilen einer weitgehenden Tradi-tionslosigkeit und Staatsfremdheit brachte diese Lage zumal für die Jugend der ehemals besitzenden Klassen doch auch den Vorteil einer erfreulichen sozialen Aufgeschlossenheit und Anpassungsfähigkeit. Was etwa die Einstellung zur körperlichen Arbeit oder zur Berufstätigkeit der Mädchen betrifft, konnte die Haltung dieser Jugend in Österreich, gemessen an den Verhältnissen unserer Nachbarländer, als durchaus fortschrittlich bezeichnet werden. Wie jeder Nachteil auch immer seine Vorteile mit sich bringt, die es zu nützen gilt, so haben die unsicheren wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse dieser Generation als Gegenwert für die verlorene Unbeschwertheit der Jugendjahre eine beachtliche Zähigkeit und Anpassungsfähigkeit gegeben. Aus der verlängerten Weltwirtschaftskrise aber ging es ohne Atempause in die politische Krise der dreißiger Jahre und für die Männer zu Wehrdienst, Krieg, Gefangenschaft bis zur schließlichen Heimkehr in eine verwüstete Heimat, in der inzwischen die Frauen und Mädchen im totalen Kriegseinsatz, in den Schrecken des Bombenkrieges und der Kampfhandlungen oft noch schwierigere Situationen hatten meistern müssen.

Die gleichen Erlebnisse haben eine weitgehende Annäherung in der Einstellung zu den entscheidenden Fragen zur Folge gehabt, der gegenüber etwa die ursprünglichen parteipolitischen Gegensätze fast bis zur Belanglosigkeit verblaßt sind. Mögen auch Pressepolemiken gelegentlich ein anderes Bild vortäuschen, so ist doch selbst für die parteipolitisch Tätigen dieser Generation fast immer der menschliche Wert des einzelnen das Entscheidende und nicht so sehr die Fahne, unter der der Betreffende einst stand oder heute steht.

Es ist für die Zukunft von allergrößter Bedeutung, wie diese, heute auf der Höhe des Lebens befindliche Generation, die, was immer geschehen mag, wie in allen europäischen Ländern so auch bei uns, die Gestaltung der kommenden Jahre und Jahrzehnte bestimmen wird, zur Zukunft selbst eingestellt ist. Ist sie, um bei dem gebräuchlichen Schema zu bleiben, in ihrer Grundhaltung optimistisch oder pessimistisch? Die ältere Generation, die den letzten wirklichen „Frieden“, die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, noch mit Bewußtsein erlebt hat, ist bei uns, mit wenigen bemerkenswerten Ausnahmen, vorwiegend pessimistisch, und niemand kann es ihr verargen. Sie hat allzuviel verloren. Sie ist aus der Stellung des Weltbürgertums einer Großmacht zu dem bescheidenen Bürgertum eines kleinen Binnenstaates herabgestiegen. Aber auch die in der Zeit zwischen den Kriegen aufgewachsene jüngere Generation hat schwere Enttäuschungen erlebt und hat daher den Glauben verloren an alle die falschen Propheten, die das Paradies auf Erden versprechen, an alle propagandistisch angekündigten Wunder und Wunderwaffen. Die Erbauer prunkvoller Propagandafassaden und Arrangeure machtvoller Aufbrüche in eine strahlende Zukunft, kurz alle Schönfärber um jeden Preis, haben den Kredit verloren bei Menschen, die aus bitterer Erfahrung lernen mußten, daß hinter dem schönsten Schein oft Abgründe brutalster Wirklichkeit verborgen sind. Auf der anderen Seite aber hat auch jener extreme Pessimismus nicht recht behalten, in den gerade die berufsmäßigen Schönfärber schließlich verfielen, wenn der Gang der Ereignisse ihren Hoffnungen nicht entsprach. Das so leicht fertig gebrauchte Schlagwort: „Dann ist alles aus!“ verrät letzlich nur eine vereinfachende Leichtfertigkeit, die vermessen dem Schicksal vorgreifen will. Denn im Leben der Völker, wie in dem des einzelnen, ist Selbstmord Sünde — auch dann, wenn die Selbstaufgabe nicht durch gewaltsames Handanlegen, sondern durch dumpfe Resignation und Untätigkeit erfolgt. So hat die jüngere Generation zu einer Haltung gefunden, die man viel leicht am besten als „maßvollen Optimismus“' bezeichnen kann, und in der die natürliche Lebensfreude und Zuversicht der Jugend sich mit einer aus schweren Erlebnissen gereiften Beschränkung auf das mögliche verbindet. Das biblische Gleichnis von der Heimkehr des verlorenen Sohnes ist im wörtlichen wie im übertragenen Sinn in unseren Tagen tausendfach zur Wirklichkeit geworden, und wie Rustan in Grillparzers „Traum ein Leben“ nach einem wirren Traum von Macht, Größe und Untergang in der väterlichen Hütte ein stilles bescheidenes Glück sucht, so ist eine ganze Generation aus fremden Erdteilen und Denkbereichen, aus dem Grauen des Krieges und dem öden Einerlei der Gefangenschaft heimgekehrt zur stillen Arbeit. Diese Heimkehrer im weitesten Sinn haben gelernt, aus der trostlosesten Situation das bestmögliche herauszuholen, sie haben in schweren seelischen und charakterlichen Belastungsproben, durch den trügerischen Schein hindurch zu sich selbst und zu den letzten beständigen Werten gefunden. Daraus ist ihnen eine stille Kraft und Sicherheit erwachsen, eine gleichmütige — nicht gleichgültige — ruhige Haltung gegenüber den Wandlungen des Schicksals und den unvermeidlichen menschlichen Irrungen und Wirrungen, die schlichte Weisheit des Steinklopferhannes „Es kann dir nix g'schehn“. Sie wissen den Wert der „guten, einfachen Dinge“ zu schätzen, aber sie haben auch auf viele Äußerlichkeiten verzichten gelernt, ohne die frühere Generationen ein „menschenwürdiges Dasein“ für unmöglich hielten. Sie haben erfahren, daß die schönen Dinge dieser Welt, ein weißgedeckter Tisch und ein frischgewaschenes Hemd, ein gutes Buch und ein lieber Mensch, Wald und Wiese, Berg und See, daß jeder Sonnenstrahl und jede Freude keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern Geschenke Gottes, für die man immer wieder von Herzen dankbar sein muß. Sie Micken einer Zukunft entgegen, die manchen Sturm aber auch manche sonnige Stunde bringen mag. So bekennt sich die jüngere Generation zu einer Haltung, wie sie Rainer Maria Rilke einst in die Worte gefaßt hat: „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“

Diese Menschen sind unsere, der Alten, Hoffnung.

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