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Der neue Tag

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„Fassen wir uns für einen Augenblick ans Herz und fragen wir uns, was wir erlebt haben. Die Geschichte war offenbar aus den Ufern getreten und drohte uns und all das Unsrige, das Erbe, dessen Wert wir zu spät erkannten, mit so vielen Hoffnungen, Ansprüchen, Rechten, deren Fragwürdigkeit wir uns längst hätten eingestehen müssen, hinwegzureißen ... Uns geht es jetzt um den Menschen, der in der Geschichte steht, über den die Geschichte hinweggetost ist und der sich gleichwohl aus der Geschichte erheben muß ...“ Die Sätze, die Reinhold Schneider in der Tübinger Monatsschrift „Universitas“ einer erschütternden Gewissenserforschung: „Der Mensch vor dem Gericht der Geschichte“ voranstellte, klingen wie ein Motto zu besinnlichen Gedanken, die durch den sinkenden Abend des alten Jahres kreisen. Was war gestern und was wird morgen sein? Wie viele der Fragen, auf deren Lösung wir sehnlich harrten, blieben vom alten Jahr unbeantwortet und wie wird das neue, das vor der Türe steht seine Antwort geben? Es war ein schweres Jahr, das hinter uns liegt. Als es begann, haben wir Österreicher gewußt, daß es hart sein werde. In einem Land, dessen Söhne zu Hunderttausenden in Gefangenschaft, dessen Produktionsmittel zum guten Teil vernichtet waren und das von Hungersnot bedroht sein mußte, wenn nicht Hilfe von außen kam, in einem solchen Land konnte es keine Illusionen geben. Und das Jahr ist schwerer gewesen, als vorauszusehen war. Zuweilen schien es, als hätten die Menschen sich erst wenige Schritte von den Schlachtfeldern entfernt, auf denen sie sich sechs Jahre lang zerfleischt hatten, und als wehe in der Atmosphäre noch der säuerlich-scharfe Geruch der Bombentrichter. Mehr als einmal bäumten sich die Gegensätze so heftig gegeneinander,' daß viele um den Weltfrieden zu fürchten begannen. Man hätte oft fragen mögen, wo in aller Welt vielleicht doch noch eine Insel zu entdecken sei, in deren Einsamkeit kein Haß und Kampfgeschrei, Nachgetöse des Krieges, dringen würde und auf die der friedensuchende glückliche. Schiffer zu fliehen vermöchte? Auf den politischen Landkarten vollzogen sich in diesem Jahre Veränderungen oder brachen sich für die nächste Zukunft Bahn, so gewaltig, wie sie das merkantilistische Zeitalter nicht gekannt hat. Indessen Kolonialvölker afrikanischer und asiatischer Rassen das Selbstbestimmungsrecht gewannen, verloren in Europa viele Millionen ihre Heimat. Mitunter schien es, als ob all die großen Verkündigungen: Demokratie, Menschlichkeit, Freiheit nur das trügerische Echo der Stimme eines Entfliehenden, des Friedens, seien.

In dieser allgemeinen Lage lasteten auf Österreich lange die Ungewißheit seines Schicksals, die Zwiespältigkeiten eines Zu-standes, in dem das befreite Land nicht frei war, selbst seine wirtschaftliche Zusammengehörigkeit immer wieder durch militärische Kordone zerstückelt wurde und es bestritten war, was dem Österreicher noch von seinem geringen Eigentum verbleibe. Es hat Stunden und Tage gegeben, wo nur der Aufblick zu dem Herrn der Welt, die demütige Übergabe an seine Weisheit innere Kraft, seelische Standhaftigkeit zu verleihen vermochten. Manche schwere Gefahren, von der großen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, sind durchstanden worden. Wie groß sie waren, das wird erst allgemein erkenntlich werden, wenn einmal einer der Männer, die jetzt in höchster Verantwortung an der Spitze des Staates stehen, sein Tagebuch vor der Öffentlichkeit aufschlagen wird, etwa wie ein Kapitän, der nach gefährlicher Seefahrt durch treibendes Packeis das Erlebte aus seinem Logbuche ausweist. Als dieser Tage der österreichische Bundeskanzler, dieser tapfere Mann, sagen konnte, daß nach einem Jahre der harten Arbelt und der Schwierigkeiten Österreich nun in ein Jahr der Erfüllung eintrete, so bezeichnete er damft eine Veränderung, die mühsam erkämpft worden und erst im Verlaufe der letzten zwei Monate herangereift ist.

So hart dieses Jahr war, so stark unser Volk die Versuchung zu müder Resignation und Pessimismus zuweilen gefühlt haben mag, so schließt es doch — als wollte der Name des Papstes, unter dem das Abendland den Stempel der christlichen Kultur empfing, symbolhaft werden — mit einem Sylvestertag, der uns Gerechtigkeit und Freiheit, die Sicherung der Grundfesten unserer Kultur, verheißt.

Wir würden nicht verdienen, Christen und Österreicher zu sein, empfänden wir am Ende dieses Jahres, das voll des harten Ungemaches war und aus dem wir nun doch die Hoffnung auf die baldige Freiheit unseres Landes hervorzutragen vermeinen, nicht das Feierliche des Schrittes über diese neue bedeutsame Zeitmarke und bewegte uns nicht die Erinnerung und die uns heute erlaubte ermutigende Vorschau zum Danl: an den göttlichen Lenker unserer Geschicke, aber auch zum Dank an die Menschen, die diesem Österreich ihren Beistand erwiesen haben. Nach den Ausbrüchen der Bestialität und den Orgien des Hasses, die unser Zeitalter befleckt haben, ist es erlösend, aus den Urquellen christlichen Geistes, so verschüttet sie oft erscheinen mögen, eine echte Menschlichkeit aufsteigen zu sehen, die zu helfen sucht um des Nächsten willen. So werden die Hilfeleistungen, die unserem Lande aus der freien Entschließung der Mitwelt — gerade auch wieder in den jüngsten Tagen — erwiesen worden sind, auch zu einem Tribut an die Wiederherstellung der allgemeinen menschlichen Würde. Aber es scheint uns, daß an diesem Morgen eines neuen Jahres wir Österreicher auch uns untereinander etwas zu sagen haben. Du, Bruder, von der Linken und du, Bruder, von der Rechten, ihr habt euch, als noch die Trümmer unserer zerstörten Wohnstätten rauchten und der erste Schrei der erreichten Befreiung emporstieg, zu gemeinsamer Arbeit für unser in Schmerz und Trauer getauchtes Land zusammengetan. Denn ihr wußtet, nur dieses feste Zusammenstehen verbürge dem Vaterland Leben, Erhebung, Freiheit und Recht. Ihr hieltet diesen Pakt, doch wir alle wissen, es ist euch mitunter schwer gefallen. Ist alles schon getan? Wir stehen erst in bescheidenen Anfängen. Es geht noch um genau dasselbe und genau soviel als damals, als ihr euch zu eurem Entschlüsse die Hände reichtet. Soll dieses Jahr in der Tat „das Jahr der Erfüllung“ werden, so kommt es nicht nur auf die Hilfe fremder Mächte, sondern auf die Macht dieses Zusammenhaltens an, darauf, daß das kleinliche Parteigetue, die politische Ranküne, die Parteieneifersucht verstummen müssen vor der großen Pflicht, die euch allen auferlegt ist für das Wohl unseres Volkes und des Staates. Nach Erfüllung dieser Pflicht werdet ihr alle gerichtet werden — wenn ihr bereit seid, das Eure zu tun, bedankt und als die Sieger einer wahren Demokratie gekrönt durch unser Volk und vor der Geschichte als die Retter des Vaterlandes.

Die Aufgabe von heute: Zusammenstehen, das Trennende gering achten gegenüber dem Preis, um den zu kämpfen ist, unserer Jugend ein Beispiel der Vaterlandsliebe und politischer Weisheit zu geben und sie nach dem Sturze der Götzenbilder, vor die man sie geführt hatte, wieder den Glauben an das Gute im Menschen, an große Ideale urd die hohe Berufung auch dieses kleinen Österreichs als der konstitutiven Kraft im kulturellen Aufbau Mitteleuropas zu lehren. Demi es ist so, wie Friedrich Dessauer in dem inhaltschweren „Wissen und Bekenntnis“, mit dem er und seine Freunde jüngst die Literatur beschenkten, uns allen zur Ermutigung sagt:

„Es ist nicht wahr, daß das Große zu fern ist und nicht geschehen kann. Es ist nicht wahr, daß wir ersticken müssen und die Welt nicht ändern können. Man kann die Welt ändern. Man kann das Große verrichten. Das Netzwerk des Alltags muß unsere Flügel nicht fesseln, die Spinne des täglichen Kleinkrams das Blut unserer Seele nicht trinken. Wir müssen nicht verdorren. Unser Herz kann jung bleiben bis in den Tod. Jung sein heißt die Seele dem Großen nahe fühlen, vom Großen selbst bewegt werden.“

In diesem Geiste sei der Morgen des neuen Jahres mit einem Gelöbnis begrüßt.

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