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Vertrauen!

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Es sind jetzt Tage inhaltsschwerer Erinnerungen an eine Zeit, in der sich die mannigfachen Gefühle des ersten Aufatmens Befreiter aus jahrelanger Haft mischten. Wien gibt diesem Gedenken in feierlichen Manifestationen Ausdruck.

Das Jahr, das seit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und der Wiedererrichtung des österreichischen Staates vergangen ist, wird in der Geschichte unseres Volkes als ein Jahr großer Hoffnungen, herber Enttäuschungen und tiefen Leides weiterleben. Österreich wurde im April 1945 aus den Fesseln befreit, die es an ein Imperium gekettet hielten, das durch die Maßlosigkeit seiner herrschenden Schichte die Welt und das eigene Volk in die Schrecken des zweiten Weltkrieges stürzte. Aber der Österreicher hat in den zwölf Monaten, die seitdem vorübergegangen sind, auch der härtesten Not oft ins Auge blicken und wieder einmal erfahren müssen, daß erst der Nachkrieg, wie ein grauer Morgen nach der Nacht, die Verwüstungen ganz sichtbar werden läßt, die der Krieg gebracht hat. Österreich gilt heute als befreite Nation, aber Österreich ist nicht frei, und diese Unfreiheit lastet schwer auf dem Lande. Die Mächte, die gewiß den sicheren Bestand dieses Staates wünschen, würden eher zu ihrem Ziele kommen, wenn es anders wäre. Immer wieder haben die führenden Männer unseres Staates, so der Außenminister und zuletzt in einer bedeutsamen Rede der Bundespräsident, auf jene staatlichen Freiheiten gedrungen, die es unserem Lande erst ermöglichen werden, am Aufbau einer organischen internationalen Ordnung schöpferisch mitzuarbeiten. Es ist auf die Gefahr hingewiesen worden, die nicht nur für uns gegeben wäre, würde es nicht die Einsicht aller Berufenen sein, daß die Zuerkennung der staatlichen Hoheitsrechte, die Behandlung Österreichs als eines tatsächlich befreiten Volkes und nicht einer besiegten Nation zu den Voraussetzungen einer Gesundung nicht nur für Österreich, sondern auch für Europa gehört.

Es ist im vergangenen Jahr viel und oft von dem Dank gesprochen worden, den das österreichische Volk für seine Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur schulde. Kein Zweifel, daß der Zusammenbruch des Hitler-Regimes aus Gründen der Moral und der Vernunft für das österreichische Volk zu einer Erlösung wurde; der Österreicher schätzt es auch in besonderem Maße, daß die großen Mächte noch während des gewaltigen Ringens den Entschluß zur Renaissance des österreichischen Staates faßten. Aber soviel politische Schulung hat sich unser Volk wahrlich aus seiner großen Geschichte bewahrt, um zu erkennen, daß es auch im Interesse der Mächte lag, Österreich wieder erstehen zu lassen und die Folgerungen aus dem Fehler zu ziehen, daß Österreich im Jahre 1938 von 'den Großen verlassen und der Länderraffgier Hitlers preisgegeben wurde. Vor allem aber haben die Österreicher an der Befreiung unseres Landes mitgeholfen, hat unser Volk Widerstand geleistet in einem jahrelangen, zähen Kleinkrieg, der deshalb nicht geringer geachtet werden darf, weil er sich nicht in den Formen eines Buschkrieges abgespielt hat, zu dem ja auch gar keine technischen Möglichkeiten bestanden hätten. Aus diesen Gründen haben die Österreicher ein Recht und sich selbst gegenüber eine Verpflichtung, es zu sagen: Gerade weil wir diesen Staat und seine Demokratie wollen, drücken nun ein Jahr nach Kriegsende die Fesseln, die uns auferlegt sind, bei aller Erkenntlichkeit für die Befreiung Österreichs. Es gibt Einrichtungen, die einst in Europa nur die Türxei Abdul Hamids kannte und keinem Volke anstehen, das auf seine Selbstachtung hält. Gewiß, so manches ist bei uns und in ganz Mitteleuropa noch im Werden und in Bewegung, und es ist auch im Interesse Öster-

reichs, daß die Mächte überall und auch bei uns für den Frieden der Welt sichern wollen, was sie mit schweren Opfern erkauft haben. Aber darüber hinaus würde unser Volk mehr Raum wünschen zur Entfaltung seiner eigenen Kraft für den staatlichen Wiederaufbau. Die Gewohnheit des Österreichers, Wünsche und nötwendig erkannte Dinge in höflicher Bitte vorzubringen, der Widerwille

unseres Volkes mit großer Geste laut aufzutreten, scheint manchmal mißverstanden worden zu sein. Ist nicht angesichts der Aufspaltung unseres Landes in vier Zonen und aller damit verbundenen Hemmungen unserer wirtschaftlichen und geistigen Erneuerung trotz allem in vieler Hinsicht erstaunlich viel im vergangenen Jahr geleistet worden? Reden wir nur von Wien, der so

schwerbetroffenen Stadt, in der es ein Kunststück ist, auch nur Kleinmengen von Baumaterialien zu baulichen Wiederherstellungen oder bescheidene Gegenstände des häuslichen Bedarfs, und sei es auch bloß ein Schuhband, zu beschaffen. Und dennoch strebt diese Stadt aufwärts, hat ihre Verkehrsmittel, ihre Licht- und Kraftanlagen, trotz aller Verwüstungen, wieder in Gang gebracht, in tausenden Werkstätten hämmert und pocht wieder die Arbeit. Manche finden, es sei zu wenig. Vielleicht hätte man zuweilen deutlicher zu verstehen geben sollen, daß ein Volk, das im wahrsten Sinne des Wortes hungert, nicht zu jenen Leistungen fähig ist, die unter besseren Lebensbedingungen selbstverständlich sind. Doch nicht so sehr die Leistung einer entgüterten und selbst oft der Werkzeuge entblößten Wirtschaft hat den Maßstab für die sittliche Kraft eines Volkes und seine Stelle in der Wertskala abendländischer Kultur zu bilden, wie vielmehr sein geistiges Leben. Ein Jahr hat ausgereicht, den ganzen wohlausgerüsteten Organismus unseres Erziehungs- und Bildungswesens, die Arbeitsstätten der Wissenschaft und Forschung, der öffentlichen Sammlungen und Kunstinstitute, das künstlerische Wirken und Schaffen — oft in kühnen Improvisationen und mit Überwindung unglaublicher Hemmnisse — mit frischem Leben zu durchpulsen. Was aber das öffentliche Leben angeht — Bundespräsident Renner hat mit Fug daran erinnert: Es wurde hier mit der Zusammenarbeit -der Parteien, in der auch die von Zeit zu Zeit aufscheinenden natürlichen Gegensätze nur den Bestand der großen pos-tiven Tatsache betonen, eine politische Leistung gegeben, wie sie in unserer näheren und weiteren Umwelt nirgendwo seit Kriegsende erzielt wurde, ein Staatsbewußtsein erwiesen, vor dem die Besorgnis von Faschismus und Nationalsozialismus verstummen kann.

Vertrauen für Vertrauen! Das ist es, was das österreichische Volk seinen Freunden zu geben und von ihnen zu erhalten wünscht. Es glaubt darauf ein Anrecht zu haben.

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