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Ausblick

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Ein Jahr ist zu Ende. Ein der schwersten Erlebnisse übervolles Jahr. Sollen wir an der Schwelle, da wir von ihm Abschied nehmen, noch einmal Rückschau halten auf den Weg, den es genommen, Rückschau auf die breite, vom Tod und Verderben gezeichnete Spur, die sich im Dunkel der Wüste verhert? Das Jahr war hart und brachte Enttäuschungen. Dennoch soll es gesegnet sein. Es hat den Frieden, die Errettung aus einer Herrschaft gebracht, deren Fortdauer für uns Österreicher eine Sklaverei ohne Ende bedeutet hätte, ein Schicksal, viel schlimmer als alle Nöte, mit denen wir noch zu ringen haben werden.

Aber heute ist es wichtiger, vorwärts, als rückwärts zu schauen. Es ist gut für uns, klar darüber zu sein, wieviel auf uns wartet und daß wir zu harten Mühen die Muskeln zu straffen haben. Wir haben den größten Teil unseres Nationalvermögens eingebüßt, wir wissen noch nicht einmal genau, wieviel. Wir verfügen nicht über die Mittel, überall die gewohnte Arbeit in Gang zu setzen und uns etwas von dem, was wir verloren haben, neu zu erwerben. Wir wissen nicht, wieweit uns noch die Absatzmärkte des Auslandes für unsere Erzeugnisse zugänglich oder auf-nahmsfähig sein werden. Unsere Volkswirtschaft hat so manche Unbekannte politischer und ökonomischer Natur in ihre Rechnung zu setzen. Denn auch die große Umwelt ist noch voll der Rätsel.

Wir werden den Kopf kühl behalten müssen und beginnen, so wie Leopold Kun-schak als Präsident den Volksboten zum parlamentarischen Arbeitsanfang zurief, mit einem kräftigen: „In Gottes und des Volkes Namen!“ In dem rasenden Hurrikan der Leidenschaften, der in manchen Ländern dem Schweigen der Geschütze folgte, hat Österreich, dem inneren Wesen unseres Volkstums getreu, den Mut zu Besonnenheit, die Kraft zu friedlicher Demokratie bewahrt. Die hohe Anerkennung, mit der jüngst im amerikanischen Senat ein Redner das Beispiel des kleinen Österreich rühmte, das in einer Zeit der größten Unrast das geordnete Gleichgewicht mutig behauptet habe, entsprach der Feststellung öffentlich bekundeter Tatsachen.

Es wird auch weiterhin dabei bleiben. Die neue Staatsführung, aus einer heute selten zu findenden Einigkeit hervorgegangen, gibt Gewähr für Beständigkeit. Hier spricht mehr als parteidiplomatische Taktik, hier bestimmt der gute Wille, die reife politische Erkenntnis der Notwendigkeiten für Staat und Volk.

In der Tat, die Lage ist ernst genug. Auch da wir es den Großen überlassen, mit der verhängnisvollen Entdeckung der Atomzertrümmerung fertig zu werden, damit nicht daran der letzte Rest von menschlichem Glück und internationaler Sicherheit in Scherben gehe, haben wir noch genug schwere Probleme außer- und innerhalb unseres Hauses. Es ist ein guter Anfang, daß die freundschaftliche handelspolitische Verständigung mit Budapest und Prag schon fruchtbringend eingesetzt hat. Man möchte wünschen, daß das österreichische Verlangen nach Wiederherstellung uralten österreichischen Besitzes an der Etsch und am Eisack, wie im Canal-tal ebenso das Verständnis der Nachbarn, wie die Unterstützung der Mächte finden möge. Man soll nicht Wunden lassen, die nie aufhören würden zu schmerzen. — Unserer auswärtigen Politik sind hier Aufgaben ersten Ranges gestellt. Kaum geringer sind die Pflichten, die jetzt den Gesetzgebern in der inneren Verwaltung, in der Wirtschaft und für die Lebenserfüllung unserer sozialen Lsgislatur erwachsen. Die Mitglieder der parlamentarischen Arbeitsausschüsse werden sich die Schwerarbeiterkarte verdienen müssen. In keiner Gesetzgebungsperiode zuvor ist in Österreich von den vorberatenden Körperschaften eine ähnliche Leistung unter gleich schwierigen, Sachkenntnis, Erfahrung, ernstes Maßhalten erfordernden Bedingungen abverlangt worden, wie sie jetzt den Volksboten auferlegt ist. Es geht um den Wiederaufbau auf allen Gebieten. Die kommende Währung ist zu sichern, die zahllosen Vermögen und Unternehmungen, die heute öffentlichen Verwaltern anvertraut sind, müssen bald in die Hände der rechtmäßigen Figjentümer zurückgeleitet werden, um damit auf breiter Front die Wirtschaft in normale Bahn zu lenken. Unser Sozialversicherungswerk, auf das wir stolz waren, ist wieder zu untermauern. Das Siedlungswesen und die Invalidenfürsorge rufen nach neuen Lösungen. Auch die Einführung einer Arbeitsdienstpflicht, die nicht üble Muster nachahmen soll, wird auf der Tagesordnung stehen. Es wird zu entscheiden sein, wie weit der Staat Verstaatlichungsplänen für die Bergwerksindustrie folgen und der) Gemeinden in der Heilung der Kriegsschäden zu Hilfe kommen kann. Dem allen und nicht wenigen anderen Postulaten der Gegenwart wird die Steuerpolitik zu entsprechen haben, die große Bedürfnisse zu erfüllen haben wird, ohne das Pferd verhungern zu lassen, das den schwerbeladenen Wagen ziehen soll. Und das wird von allen das schwerste und vielleicht verantwprtungs-vollste Unternehmen sein.

Zwei Voraussetzungen zum Gelingen tun not: Das einsichtsvolle Mitgehen der Bevölkerung und das wohlwollende Verstehen der vier Besatzungsmächte für unsere wirtschaftspolitischen und geistigen Lebensbedingungen und also auch für die Würde eines Staates, der “als freies demokratisches Gemeinwesen an einem wichtigen Platze Mitteleuropas seinen Teil für den Frieden und den Fortschritt der menschlichen Kultur beitragen will. — Und daß wir daran glauben, befestigt das mutige Vertrauen, mit dem wir in das neue Jahr eintreten.

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