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Kraft für das dritte Jahrzehnt

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Österreich steht vor einem großen Gedenkjahr: Im Frühling 1965 werden es 20 Jahre her sein, daß wieder ein österreichischer Staat erstand, und wenige Tage darnach jährt sich zum zehntenmal jenes Datum, das mit Recht auch jenseits der Grenzen größte Beachtung fand und dem eine historische Bedeutung zukommt. Mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages wurde nicht nur das Wiederaufbauwerk unseres Staates gekrönt, es kam auch Bewegung in die bis dahin starre internationale Politik.

Angesichts verschiedener Ereignisse der letzten Wochen ist es besonders zu begrüßen, daß das österreichische Volk durch die Gedenkfeiern und Staatsakte im nächsten Jahr auch zur Selbstbesinnung veranlaßt werden wird, zu einer Selbstbesinnung, die sein Staatsbewußtsein betrifft. Eine solche Gewissenserforschung tut dem Lande bitter not, denn gerade das ablaufende Jahr hat uns, zuweilen in erschreckendem Maße, demonstriert, daß wirtschaftlicher Wohlstand und soziale Sicherheit allein noch keinen Staat ausmachen, daß es unter der Oberfläche der Konjunktur und des Aufschwunges noch manche verborgene Schwäche gibt, deren Überwindung im Interesse unseres Staates und seiner gedeihlichen Zukunft geboten ist. Der Primat der Politik sollte daher nicht als ein solcher des Wettlaufes um Machtpositionen, sondern vielmehr als ein unermüdliches Bestreben aufgefaßt werden, vcn der Staatsführung her ein wirkliches Staatsbewußtsein zu wecken und zu vertiefen. In diesem Sinne bekennt sich die österreichische Industrie zum Vorrang der Politik. Denn eine solche Politik wird auch den Erfordernissen der Wirtschaft gerecht werden, deren Prosperität ja nicht der Vorteil einiger weniger, sondern die Sache des ganzen Landes und seiner Bevölkerung ist. Wenn Politik so aufigefaßt wird, dann braucht auch die Wirtschaft keine Sorge zu haben, daß auf ihrem Rücken Kämpfe ausgetragen und Entscheidungen gefällt werden.

Wenn man die Aufgaben des nun anbrechenden dritten Jahrzehnts der Zweiten Republik kurz zusammenfassen will, so muß daran erinnert werden, daß die Jahre 1945 bis 1955 im Zeichen des Wiederaufbaues — des Staates ebenso wie seiner Wirtschaft — standen. Die anschließenden zehn Jahre, von der Unterzeichnung des Staatsvertrages bis jetzt, sind durch die Konsolidierung des in der Wiederaufbauphase Erreichten markiert. Nun aber gilt es, der Politik und der Wirtschaftspolitik einen neuen Impuls zu geben. Ziel sollte die Mobilisierung aller ideellen und materiellen Reserven in unserem Volk sein, um die österreichische Wirtschaft zu kräftigen, sie für die Aufgaben eines verschärften Wettbewerbs in größeren Märkten zu rüsten und sie in den Stand zu setzen, den Vorsprung westeuropäischer Länder einzuholen.

Dieser Vorsprung ist nicht etwa auf ein Versagen der österreichischen Unternehmer oder auf die Untüchtigkeit der Arbeiter und Angestellten in unserem Land zurückzuführen. Im Gegenteil, das österreichische Unternehmertum hat seit 1945 bewiesen, wieviel Phantasie, Initiative und Elastizität es zu entwickeln vermag, wie sehr es auch unter größten Mühen neue Märkte erschließen kann. Die Arbeiter und Angestellten wieder haben gezeigt, daß sie mit Fleiß, hoher Begabung, größtem Opfermut in schwerster Notzeit und viel Improvisationsgabe Beitrag zum gems'n- samen Aufbauwerk zu leisten gewillt sind.

Die Ausgangsposition Österreichs im Jahr 1945 war ohne Zweifel schlechter als die anderer westeuropäischer Staaten. Zum dritten- mal innerhalb eines Menschenalters mußte die österreichische Wirtschaft eine tiefgreifende Umstellung mitmachen, auf der noch dazu die Last einer vierfachen Besetzung ruhte. Von seinen angestammten Märkten im Osten und Südosten Europas war Österreich abgeschnitten, und neue Absatzgebiete mußten gesucht und gefestigt werden. Dazu kam, daß die österreichische Wirtschaft durch Kriegs- und Nachkriegsereignisse viele ihrer besten und modernsten Produktionsanlagen eingebüßt hatte. Der notorische Kapitalmangel sollte sich auch in der Zweiten Republik wieder in aller Schärfe erweisen. Aus all dem erklärt sich der Vorsprung anderer westeuropäischer Länder im Wohlstands- und Lebensstandard. Dieser Vorsprung ist, wenn die Wirtschaftspolitik entschlossen die Initiative und die Leistungsfreude aller in der österreichischen Wirtschaft Schaffenden anregt und fördert, einzuholen.

Mutige Wachstumspolitik

Daher plädiert die Industrie schon seit langem für eine mutige und ideenreiche Wachstumspolitik. Das Wirtschaftswachstum darf, das muß gerade in diesem Blatt festgestellt werden, niemals ein Götze oder ein Fetisch sein. Es ist kein absoluter Wert, aber es ist die Voraussetzung für eine Erhöhung des Lebensstandards, für den Ausbau der sozialen Sicherheit und damit auch für die Fortkommenschancen der jungen Generation unseres Landes.

Eine Anregung des Wirtschaftswachstums ist aus verschiedenen Gründen geboten. Die Investitionstätigkeit nimmt in einer modernen Volkswirtschaft eine überragende Bedeutung ein. Der technische Fortschritt läßt den Produktionsapparat in viel rascherem Tempoals in früheren Jahrzehnten veralten. Immer neue und kostspieligere Investitionen müssen getätigt werden, wenn ein Land im Wettwerb bestehen will.

Österreich hat dank seiner vielen Spezialindustrien und -gewerbe eine große Chance, sich auch unter verschärften Konkurrenzverhältnissen international zu behaupten. Es muß das Bemühen der gewerblichen Wirtschaft sein, die im Inland verfügbaren Rohstoffe soweit wie möglich zu veredeln, um sie als Fertigwaren von höchster Präzision und Güte ausführen zu können. Das setzt aber sehr großzügige Investitionen voraus, und zwar nicht nur im technischen Erzeugungsapparat, sondern auch in der Forschungsund Entwickilungstätigkeit. Unsere Position im internationalen Wettbewerb wird um so fester sein, je größer der Anteil der hoch veredelten Fertigerzeugnisse an unserem Export ist.

Klarheit in der Integrationsfrage

Schließlich scheint das Wirtschaftswachstum auch noch aus einem anderen Grund geboten. Die Anforderungen an den Staat steigen ständig; das gilt für die „Bildungsinvestitionen“ (Schul- und Erziehungswesen) ebenso wie für das Straßen- und Verkehrsnetz, für den Bau von Krankenhäusern und für den Ausbau der sozialen Sicherheit usw. Um diese für einen modernen Industrie- und Sozialstaat wichtigen Aufgaben erfüllen zu können, sind aber beträchtliche Geldmittel nötig, die dem Staat nur aus einer wachsenden Wirtschaft zufließen können. Der Staat selbst muß durch eine vorausschauende, längerfristige Budgetpolitik dafür sorgen, daß die Anforderungen an die öffentliche Hand nach einem Prioritätenkatalog gereiht werden und ihre Erfüllungsmöglichkeit auf die voraussichtlichen Einnahmen abgestimmt wird.

Das zweite Problem, das die Industrie besonders bewegt, ist die Abwehr weiterer Kostensteigerungen, gleichgültig, von welcher Seite sie kommen mögen. In diesem Zusarn-menhang kommt einer an der Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität orientierten Lohnpolitik eine besondere Bedeutung zu. Auch um die Kostensteigerungen neutralisieren zu können, sind beträchtliche Anlageinvestitionen nötig, für die die Verabschiedung der Wachstumsgesetze Voraussetzung ist.

Die Industrie muß immer wieder darauf drängen, daß in der Integrationsfrage Klarheit geschaffen wird. Die Linie, die die Bundesregierung einschlägt, ist von beiden Parteien gutgeheißen worden, es besteht kein Grund, sie infolge der jüngsten Ereignisse in Europa zu ändern. Auch an dieser Stelle sei wiederholt, daß sich die EFTA als ein sehr wertvolles Instrument für eine Ausweitung des Handels in dieser Relation erwiesen hat, daß aber eine Intensivierung der Geschäftsbeziehungen dorthin keinesfalls den Ausgleich für den Verlust von Märkten bieten kann, die unter großen Mühen erobert wurden unddie heute oft nur unter schweren Opfern (wegen der Diskriminierungsfolgen) gehalten werden. Hierbei spielen keineswegs ideologische Gründe eine Rolle, es handelt sich vielmehr um eine rein kommerzielle EntScheidung, die über Sein oder Nichtsein vieler Unternehmen und damit auch der von diesen gebotenen Arbeitsplätze befinden wird.

Es muß auch davor gewarnt werden, dem Osthandel eine Bedeutung zuzumessen, die er auf Grund der wirtschaftlichen Realitäten niemals gewinnen kann. Der Osten ist ein wertvoller Handelspartner, aber die Möglichkeiten, in diese Relationen noch mehr zu verkaufen, sind begrenzt. Hüten wir uns vor phantastischen Vorstellungen, die das wirkliche Bild nur vernebeln können. Vor allem aber sollte man Österreich nicht in eine Position drängen wollen, die es weder einnehmen kann noch einnehmen soll. Österreich wirkt nach dem Osten hin durch seine bloße Existenz; durch geordnete und stabile politische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse. Für die Erhaltung der wirtschaftlichen Prosperität und des sozialen Friedens aber ist die Sicherung seiner wesentlichen Absatzmärkte im Westen Europas unabdingbar.

Wenn auch im Augenblick oft von einer „Desintegration der Integration“ gesprochen wird, so kann doch der Hoffnung und dem Optimismus Ausdruck gegeben werden, daß sich die Idee des wirtschaftlichen Zusammenschlusses Europas letztlich als stärker als die zeitweiligen Rückschläge erweisen wird. Denn die Wirtschaft ist den Beschlüssen der Diplomaten und Staatsmänner und den Buchstaben der Verträge schon vielfach vorausgeeilt und hat vollendete Tatsachen einer engen Verflechtung über die Staatsgrenzen hinweg geschaffen, die kaum mehr rückgängig zu machen sind.

Die wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven sind keineswegs ungünstig, wenn die gewerbliche Wirtschaft von der Wirtschaftspolitik nicht im Stich gelassen wird. Darum hofft die Industrie, daß sich die in den letzten Monaten mehrmals aufgebrochenen Emotionen wieder beruhigen werden und die Zweite Republik den 20. Jahrestag ihrer Entstehung in einer Atmosphäre des politischen und sozialen Friedens und der Zusammenarbeit aller Kräfte, die sich zu diesem Staat bekennen, begehen kann. Für die gewebliche Wirtschaft ist nach wie vor engste Zusammenarbeit und Zusammenhalt aller Gruppen (Gewerbe, Handel, Industrie, Fremdenverkehr, Geld-, Kredit- und Versicherungswesen) oberste Maxime. Sie wird auch weiter ihre Pflicht tun — für Österreich.

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