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Für ein besseres Dasein

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Wenn das Jahr zur Neige geht, pflegt man Rückschau zu halten über das Geleistete. Das Erreichte wird dem Erhofften gegenübergestellt, und um so manche Erfahrung reicher blickt man den kommenden Aufgaben entgegen. Der Oesterreichische Gewerkschaftsbund als die Interessenvertretung der unselbständig Erwerbstätigen hat gewiß genügend Veranlassung, sich auch zum Jahreswechsel Rechenschaft zu geben über das, was im Verlaufe des Jahres geleistet und angestrebt wurde und was es in Zukunft anzustreben gilt.

Die in seinen Reihen organisierten rund 1,5 Millionen arbeitender Menschen haben in all den vergangenen Jahren zum Aufstieg unseres Landes entscheidend beigetragen und sind bereit, dies auch weiterhin zu tun. In der schöpferischen und werteschaffenden Arbeit des einzelnen liegt der echte Patriotismus, der Patriotismus der Tat. Der Oesterreichische Gewerkschaftsbund hat stets dieses Gefühl der Eigenverantwortlichkeit für das Wohl und Wehe der Gemeinschaft betont und bestärkt. Er spricht nicht dem Egoismus das Wort, sondern dem gemeinsamen Wirken für ein besseres Dasein.

Seine konkreten Zielsetzungen hat der OeGB in dem einhellig beschlossenen Aktionsprogramm festgelegt, das, wie es wörtlich heißt, „dazu beitragen soll, dem gesamten Volk im gemeinsamen Vaterland Wohlstand und soziale Sicherheit zu bringen“.

Die Voraussetzung für ein besseres Dasein, wie es der Oesterreichische Gewerkschaftsbund für alle arbeitenden Menschen unseres Landes erreichen will, bildet freilich die soziale Gerechtigkeit. Deshalb treten die Gewerkschaften vor allem auch für die soziale Gerechtigkeit ein, insbesondere für die Gerechtigkeit hinsichtlich der Entlohnung und der Mitbestimmung im Betrieb. Die Ausnützung einseitiger Machtfülle führt bekanntlich stets zu Ungerechtigkeit. Die Gewerkschaften aber haben der Macht der wirtschaftlich Stärkeren die Macht der Organisation gegenübergestellt und sie haben damit jenes Gleichgewicht geschaffen, das allein die Gerechtigkeit verbürgen kann.

Eine gerechte Entlohnung ist nur vorhanden, wenn der Arbeitslohn in einem gesunden Verhältnis zu den Preisen für Konsumgüter und Dienstleistungen steht. Die Höhe des Lohnes kann also immer nur an den Preisen und Lebenshaltungskosten gemessen werden, weshalb wir Gewerkschafter vom Reallohn sprechen. E s geht uns nicht um höhere Löhne schlechthin, sondern um höhere Reallöhne.

Das ist der hauptsächlichste Grund dafür, weshalb sich der Gewerkschaftsbund auch im Jahre 1958 ganz intensiv mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigt hat. Er war, im Zusammenwirken mit dem Sozialpartner, redlich bemüht, die stets latente Gefahr des inflatorischen Preis-und Lohnauftriebes zu bannen. Daß dies weitgehend gelungen ist, verdanken wir dem Verantwortungsbewußtsein aller einsichtigen Menschen, nicht zuletzt aber auch dem Wirken der im Jahre davor auf Initiative des OeGB geschaffenen Paritätischen Kommission für Preise und Löhne.

Zu Beginn des Jahres 1958 hatte der Gewerkschaftsbund, aufbauend auf den Erfahrungen des Vorjahres, eine Erweiterung der Grundlagen und Befugnisse der Paritätischen Kommission verlangt und zum Teil auch durchgesetzt. Der Erfolg der freiwilligen Selbstbeschränkung und Rücksichtnahme auf das Allgemeinwohl ist nicht ausgeblieben: Trotz der Auswirkungen der amerikanischen Rezession auf Europa ist in Oesterreich die Konjunktur und die Vollbeschäftigung im allgemeinen erhalten geblieben und das Preisniveau ist in Oesterreich nur ungleich geringer angestiegen als in anderen europäischen Staaten.

Wenn ich feststelle, daß sich die Paritätische Kommission bisher im großen und ganzen bewährt hat, so möchte ich doch gleichzeitig betonen, daß sie nur eine zweckbedingte und auch natürlich nur zeitbedingte Einrichtung mit beschränkten Aufgaben darstellt. Die Lösung der vor uns stehenden großen Probleme — insbesondere jene, die im Zusammenhang mit der trotz allen Schwierigkeiten doch zu erwartenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit Europas erwachsen werden — erfordern eine noch weitergehende Zusammenarbeit der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Ich verweise deshalb auf die im erwähnten Aktionsprogramm enthaltene Forderung des OeGB nach Schaffung einer gemeinsamen Institution der Kammern und des Gewerkschaftsbundes auf Landes- und Bundesebene zur Ausarbeitung von Vorschlägen und Beratung der öffentlichen Körperschaften in Wirtschaftsfragen.

Die Forderung nach besserer Zusammenarbeit im Rahmen einer solchen echten Wirtschaftskommission wird von uns Gewerkschaftern im kommenden Jahr mit besonderem Nachdruck gestellt werden. Das nunmehr bald hinter uns liegende Jahr hat die Notwendigkeit der konstruktiven Zusammenarbeit und die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit für eine gedeihliche Weiterentwicklung oftmals sehr deutlich werden lassen. Wir wollen diese Erfahrung nutzen und fühlen uns dazu nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet.

Vor allem aber gilt es, Oesterreichs Wirtschaft für die kommenden Aufgaben zu rüsten. Wir treten damit in die dritte Phase der wirtschaftlichen Entwicklung seit Ende des Krieges ein: Die erste Phase bildete der eigentliche Wiederaufbau, die zweite, bald abgeschlossene Phase, die Konsolidierung dieses Wiederaufbaues und der Uebergang zu einer gesunden Wirtschaftsgrundlage, und die dritte Phase soll nun endlich die unmittelbaren Voraussetzungen für den allgemeinen Wohlstand schaffen.

Nur wer die Zeichen der Zeit versteht, kann glauben, daß es auch in dieser dritten Phase mit überholten Vorstellungen und Vorurteilen weitergehen kann. An der Schwelle des neuen Jahres aber sollten sich alle Verantwortlichen dessen bewußt sein, daß sie sich seit geraumer Zeit auch an der Schwelle einer neuen Entwicklung befinden. Integration und Automation waren bisher zumeist nur Schlagworte theoretischer Erörterungen, nun aber werden sie immer mehr lebendige Wirklichkeit werden.

Soweit man dies nicht ohnehin schon getan hat, wird man auf Seite der Unternehmerschaft eine neue Einstellung zu den sozialen Fragen finden müssen. Noch immer gibt es Kreise, die im Sozialpartner den Gegner sehen, den es zu überwältigen oder zumindest zu übertölpeln gilt. Dabei vergißt man, daß derartige Versuche angesichts einer starken und schlagkräftigen Gewerkschaftsorganisation von vornherein zum Scheitern verurteilt sind und lediglich die Atmosphäre vergiften und das gegenseitig notwendige Vertrauen untergraben. Vor allem aber vergißt man, daß die arbeitenden Menschen nicht nur als Produzenten wichtig sind, sondern auch als Konsumenten. Ungerechtfertigte Preiserhöhungen, die auf das Reallohnniveau drücken, sind, so gesehen, für die Wirtschaft ein Bumerang, der in Form von Absatzschwierigkeiten und Betriebseinstellungen zurückfliegt.

Wenn die Arbeiter und Angestellten die Wirtschaftsentwicklung nichts anginge, so könnten sie vielleicht darüber Schadenfreude empfinden. Sie tun es aber nicht, denn den Schaden eines ungehemmten Profitstrebens der Unternehmerschaft und einer verfehlten Wirtschaftspolitik haben in erster Linie sie selbst. Sie bezahlen die Sünden wider die wirtschaftliche und staatsmännische Vernunft- zunächst mit dem Sinken der Reallöhne und schließlich mit dem Verlust des Arbeitsplatzes. Eine inflationistische Entwicklung schadet ihnen außerdem weit mehr als den Sachwertbesitzern.

Die gerechte Entlohnung der arbeitenden Menschen, die ja eine Grundlage des sozialen Friedens und damit des weiteren Gedeihens der österreichischen Wirtschaft bildet, beschränkt sich jedoch nicht allein auf Preise, Tarife, Löhne und Gehälter. Auch die soziale Sicherheit untergräbt, indem er die Einrichtungen unserer Sozialversicherung, insbesondere die Krankenversicherung, zu unterhöhlen und gleichzeitig zu diffamieren sucht, wer das Recht auf einen möglichst sorgenfreien Lebensabend arbeitender Menschen leugnet oder in Frage stellt; er stört damit ebenso den sozialen Frieden wie derjenige, der durch Kartelle oder durch Preiswucher das Preis- und Lohngefüge in Gefahr bringt.

Der Oesterreichische Gewerkschaftbund, der gegen Engstirnigkeit und Egoismus eines Teiles der Unternehmerschaft auftritt, befürwortet sie auch nicht in den eigenen Reihen, sondern mahnt stets zur Vernunft. Dies fällt freilich dann besonders schwer, wenn die andere Seite zuweilen allzu unvernünftig ist. Indes glaube ich, daß sich die natürlichen sozialen Gegensätze in friedlicher Weise durch Verhandlungen und Zusammenarbeit ausgleichen lassen, vorausgesetzt, daß alle Beteiligten guten Willens sind.

Wenn wir nun mit neuer Kraft und Zuversicht den Aufgaben eines neuen Jahres entgegengehen, so möge auf allen Seiten dieser gute Wille und auch das Gefühl der Verantwortlichkeit für künftiges Handeln und Streben bestimmend sein.

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