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ÖGB: Das System akzeptieren oder überwinden?

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Die Gewerkschaftsbewegung in der Zweiten Republik Österreich unterscheidet sich politisch sowohl von den Gewerkschaften in der Monarchie und in der Zwischenweltkriegszeit als auch von Gewerkschaftsorganisationen in anderen westeuropäischen Ländern dadurch, daß sie sich bereits zum Zeitpunkt ihrer Gründung 1945 als überparteiliche Organisation konstituierte, in welcher ÖVPnahe Gewerkschafter, Kommunisten und Sozialisten zusammenwirken sollten. Aber die sozialistische Gewerkschaftsfraktion, zu der sich die große Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder bekennt, versteht sich nach wie vor als integrierender Bestandteil der sozialistischen Bewegung. Es ist daher selbstverständlich, daß in der Diskussion um eine geistige Standortbestimmung der Sozialdemokratie in Österreich sich auch die sozialistischen Gewerkschafter auf den Prüfstand stellen und versuchen, eine sozialdemokratische Gewerkschaftsstrategie für morgen zu entwickeln.

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Die Gewerkschaftsbewegung in der Zweiten Republik Österreich unterscheidet sich politisch sowohl von den Gewerkschaften in der Monarchie und in der Zwischenweltkriegszeit als auch von Gewerkschaftsorganisationen in anderen westeuropäischen Ländern dadurch, daß sie sich bereits zum Zeitpunkt ihrer Gründung 1945 als überparteiliche Organisation konstituierte, in welcher ÖVPnahe Gewerkschafter, Kommunisten und Sozialisten zusammenwirken sollten. Aber die sozialistische Gewerkschaftsfraktion, zu der sich die große Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder bekennt, versteht sich nach wie vor als integrierender Bestandteil der sozialistischen Bewegung. Es ist daher selbstverständlich, daß in der Diskussion um eine geistige Standortbestimmung der Sozialdemokratie in Österreich sich auch die sozialistischen Gewerkschafter auf den Prüfstand stellen und versuchen, eine sozialdemokratische Gewerkschaftsstrategie für morgen zu entwickeln.

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Das sozialistische Parteiprogramm 1958 definiert Sozialismus als uneingeschränkte politische, wirtschaftliche und soziale Demokratie; Sozialismus ist vollendete Demokratie. Im wirtschaftspolitischen Teil des Par-teiprogrammes werden die Gewerkschaften vor allem als Träger der Wirtschaftsdemokratie angesprochen. Das Verhältnis Demokratie und Gewerkschaft scheint mir daher der zentrale Punkt für eine langfristige Politik der Gewerkschaften zu sein. Wieweit tragen die österreichischen Gewerkschaften in ihrer Politik dem Grundanliegen der Sozialdemokratie Rechnung?

In unserer Zeit gehören die Gewerkschaften durch ihre Teilnahme am politischen Willensbildungsprozeß zu den tragenden Elementen der parlamentarischen Demokratie. Aller dings scheiden sich hinsichtlich des gesellschaftspolitischen Wirkens der Gewerkschaften die Meinungen in zwei Lager, die man mit den Begriffen systemangepaßt und systemüberwindend umschreibt. Die System-überwinder erwarten von den Gewerkschaften eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft. Bei allen Wandlungen des Kapitalismus ist ihrer Meinung nach unbestreitbar, daß dieses System den wirtschaftlichen und sozialen Lebensinteressen der Bevölkerung nicht entspricht. Die kapitalistische Leistungsgesellschaft habe durch ihre bloße Proflt-orientierung menschenunwürdige Verhältnisse geschaffen. Der Kapitalismus führte zur Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste. Daher muß es der Gewerkschaft um radikale Reformen und nicht um Heilungsversuche mit Pflä-sterchen gehen. Die Anerkennung der parlamentarischen Demokratie schließt zwar die Anwendung revolutionärer Gewalt im Wege des Umsturzes aus. Radikale Reform bedeutet aber, daß die Gewerkschaft als Gegenmacht im kapitalistischen System nur einer Wirtschaftsordnung zustimmen soll, in der es durch verantwortliche, gleichberechtigte Einbeziehung aller am Wirtschaftsleben Beteiligten ein Höchstmaß an sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit sowie an Mitbestimmung und Selbstbestimmung gibt. Das aber liefe in der Praxis auf eine Überwindung des Kapitalismus hinaus.

Die systemangepaßten Theoretiker und Praktiker wollten die Gewerkschaften ausschließlich auf die Lohnpolitik festlegen, denn solange sich die Arbeitnebmerorganisationen mit einkammenspolitischen Verbesserungen zufrieden geben, stellen sie die herrschende Machtstruktur nicht in Frage. Es bleibt alles beim alten — Lohn- und Gehaltserhöhungen lassen sich schließlich nicht allzuschwer auf die Preise überwälzen.

Ohne zunächst auf diese grundsätzliche Frage mach dem Standort der Gewerkschaften in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft eine Antwort geben zu wollen, dürfen wir feststellen: Aufgabe und Strategie der Gewerkschaften lassen sich nicht losgelöst von der gesamten politischen Situation eines Landes verstehen. Die Gewerkschaften müssen unmißverständlich und offen erklären, wo sie mit der derzeitigen Gesellschaftsordnung übereinstimmen und wo nicht. Sie sollen an der weltanschaulichen und parteipolitischen Unabhängigkeit festhalten und weiterhin als Einheitsgewerkschaft bestehen, ohne damit in politische Enthaltsamkeit zu verfallen und ohne darauf zu verzichten, in ihren Erklärungen Aussagen darüber zu machen, welche politischen Parteien die gewerkschaftlichen Programme unterstützen, welche sich in weitgehender Übereinstimmung mit gewerkschaftlichen Zielvorstellungen befinden und welche nicht.

Der Methodenstreit, der sich fast hundert Jahre durch die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung zieht, ist für die österreichischen Gewerkschaften entschieden. Sie haben sich mit ihrem Eintreten für die Mitbestimmung, für den Kurs der Integration in das System entschieden. Manche Kritiker sehen in Österreich die Gefahr der weitgehenden Eingliederung des Gewerkschaftsapparates in die staatliche Bürokratie und damit der Identifizierung mit dem herrschenden kapitalistischen System. Die Gewerkschaften würden damit systemkonform, würden in Rollenkonflikte geraten, weil sie gleichzeitig Unternehmerinteressen und Belegschaftsinteressen vertreten müsssen. Sie würden damit überhaupt aufhören, eine wirkliche Gewerkschaft zu sein. Richtig an den Einwänden und Kritiken gegen die befestigte Gewerkschaft unserer Zeit ist eine Tatsache: Sie haben als Großorganisation heute andere Einflußmöglichkeiten in Staat und Wirtschaft als diese kleinen geduldeten Vereine, in denen sich die Gewerkschaftsbewegung in ihren Anfängen darstellte. Aber wir meinen, niemand hat der Gewerkschaft vorzuschreiben, was sie zu tun hat. Als demokratische Organisation kann sie die Grenzen ihrer Arbeit nur selbst festsetzen. Im Bewußtsein ihrer Verantwortung haben sich die Gewerkschaften der freiheitlichen Gesellschaftsordnung solche Grenzen gesetzt. Zu den unabdingbaren Werten zählen wir die Anerkennung der Menschenrechte für alle, gleich welcher Religion, Rasse oder politischen Einstellung. Dazu gehört das Einstehen für die Demokratie und für den Rechtsstaat. Über allen wirtschaftlichen und sozialen Tagesfragen steht das Bekenntnis zur Idee des Humanismus. Die Schaffung der notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen für die Entwicklung der freien menschlichen Persönlichkeit ist nicht Endziel der Gewerkschaftspolitik, sondern Voraussetzung für die Verwirklichung ihres humanistischen Anliegens.

Mitbestimmen heißt mitverantworten

Gewerkschaft in unserer Zeit kann ihre Aufgabe nur erfüllen, indem sie ihre Macht in ihrem Bereich immer wieder einsetzt für mehr Demokratie im gesamten öffentlichen Leben. Natürlich bedeutet Mitbestimmen auch Mitverantworten. Scheinradikalität wäre manchmal vielleicht populärer. Es geht aber nicht um Popularität, sondern eben um Interessenvertretung. Sicherlich steht am Ende des Demokratisierungsprozesses in Wirtschaft und Gesellschaft auch kein Paradies, in welchem alle Probleme gelöst sein werden. Aber es gilt auch hier das Wort: Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, mit Ausnahme jener, welche die Menschheit bisher kennengelernt hat.

Der ÖGB ist hinsichtlich der Mitgliederdichte eine der stärksten Arbeitnehmerorganisationen der freien Welt. Er ruht auf einem gesunden finanziellen Fundament. Warum sollte er sich eigentlich mit dem Problem der Demokratisierung befassen? Wer in der deutschen Bundesrepublik die Auseinandersetzung mit der APO und den Vertretern der Neuen Linken verfolgt, erlebt, daß große Teile der Arbeitnehmerseite tatsächlich zum Konservatismus neigen: Nur nichts ändern, wer weiß, was dann kommt! Diese Haltung ist aus verschiedenen Gründen verständlich. Gerade wer so viele Jahre Angst um die Sicherung seiner Existenz hatte, ist dankbar, wenn er bei allen Wenn und Aber nun doch in einer Epoche einer gewissen wirtschaftlichen und sozialen Geborgenheit lebt. Er will nichts riskieren, Reform bedeutet aber immer ein Risiko. Wer erlebt, wie manche Intellektuelle liebevoll noch dazu ein Fachchinesisch pflegen, das außer ihnen niemand versteht, wird sich über die Isoliertheit dieser Gruppen kaum wundern. Die Methoden der Straße, die leider nicht selten von reformbegeisterten Vertretern der außerparlamentarischen Opposition gebraucht werden, müssen auch jene endgültig vor den Kopf stoßen, die für Änderungen sind, atoer dabei die Spielregeln der Demokratie einhalten wollen. Aber ebenso muß offen gesagt werden: eine Arbeiterbewegung, die das Kind mit dem Bade ausschütten würde und aus dem Mißbrauch der Bemühunigen um mehr Demokratie das Recht auf Ablehnung einer grundsätzlichen strukturellen Änderungen unseres politischen und gesellschaftlichen Lebens ableitete, könnte nur dazu führen, daß die Arbeitnehmerseite die Entwicklung in Richtung Zukunft aus dem Griff verliert. Es gibt zu viele

Tabus in unserer Gegenwart, auch im gewerkschaftlichen Leben. Mobilisierung der Demokratie muß auf allen Gebieten mit dem Mut beginnen, das jeweils Erreichte in Frage zu stellen. Festhalten an erstarrten Formen führt in einer sich dynamisch entwickelnden Welt unweigerlich zum Sumperrum, zum Provinzialismus. Was die Arbeitnehmerorganisationen bei dem Ringen um langfristige Perspektiven zu gewinnen haben? Nicht mehr und nicht weniger als den Anschluß an die Zukunft.

Die Gewerkschaften müssen der Herausforderung der zweiten industriellen Revolution mit einem neuen Demokratiemodell begegnen. Aufgabe sozialistischer Gewerkschaftsstrategie ist es, ihre Ziel- und Zukunftsvorstellungen aus dem Widerspruch zu den in den jeweiligen Bereichen vorzufindenden Mißständen zu formulieren und ihre Programme ständig zu verändern und fortzuschreiben. Dabei muß es uns vor allem um Gegenmodelle gehen, die sich nicht die Logik und die Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft zu eigen machen. Die Gewerkschaften, wollen sie mit der Humanisierung der Industriegesellschaft ernst machen, werden sich stärker als bisher gegen alle Formen antidemokratischer Haltung, gegen die Privilegierung der Macht oder des Geldes genauso wie gegen die Negierung der sozial Schwächeren, der Stiefkinder der sogenannten Wohlstandsgesellschaft, zu wenden haben. Humanität in der Industriegesellschaft heißt Respektierung der Würde des Menschen. Überall, wo der Mensch degradiert wird zum Instrument für den Willen anderer, also fremdbestimmt ist, wird die freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit verhindert. Humani-sierung und Demokratisierung der Industriegesellschaft sind identisch.

Wir bekommen die gesellschaftliche Wirklichkeit allerdings nur in den Griff, wenn wir konkrete Zukunftsvorstellungen auch auf längere Zeiträume hinaus erarbeiten, Zukunftsvorstellungen, die vom Zustand der Gesellschaft der Gegenwart ausgehen und die ihn so verändern wollen, daß wir ihn alle im großen und ganzen eines Tages als gerecht empfinden.

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