6846608-1976_24_05.jpg
Digital In Arbeit

Die Strategie mit der Krise

19451960198020002020

Daß die Macht der Gewerkschaften in den letzten Jahren überall in Europa kräftig zugenommen hat, zeigt — neben Großbritannien — in letzter Zeit besonders deutlich das italienische Beispiel. Italien, nach dem Zweiten Weltkrieg das wirtschaftliche Wunderland Europas, wird seit Jahren von wirtschaftlichen Krisen geschüttelt, die letzte Woche wieder einmal einen Höhepunkt erreicht haben. Daß die stark kommunistisch beeinflußten italienischen Gewerkschaften mit ihrer schon sprichwörtlichen Streikfreudigkeit wesentlich zum wirtschaftlichen Chaos und zur innenpolitischen Radikalisierung beigetragen haben, ist eine allgemein anerkannte Tatsiche. Daß nun auch — erstmals — bei wesentlichen wirtschaftspolitischen Entscheidungen die KPI konsultiert wird, ist zwar eine neue Entwicklung, die aber fugenlos in die seit Jahren von den marxistischen Gewerkschaften eingeschlagene Linie paßt, denn die derzeitige starke Position der italienischen Kommunisten wäre ohne die gründliche Vorarbeit ihrer Gewerkschaft undenkbar.

19451960198020002020

Daß die Macht der Gewerkschaften in den letzten Jahren überall in Europa kräftig zugenommen hat, zeigt — neben Großbritannien — in letzter Zeit besonders deutlich das italienische Beispiel. Italien, nach dem Zweiten Weltkrieg das wirtschaftliche Wunderland Europas, wird seit Jahren von wirtschaftlichen Krisen geschüttelt, die letzte Woche wieder einmal einen Höhepunkt erreicht haben. Daß die stark kommunistisch beeinflußten italienischen Gewerkschaften mit ihrer schon sprichwörtlichen Streikfreudigkeit wesentlich zum wirtschaftlichen Chaos und zur innenpolitischen Radikalisierung beigetragen haben, ist eine allgemein anerkannte Tatsiche. Daß nun auch — erstmals — bei wesentlichen wirtschaftspolitischen Entscheidungen die KPI konsultiert wird, ist zwar eine neue Entwicklung, die aber fugenlos in die seit Jahren von den marxistischen Gewerkschaften eingeschlagene Linie paßt, denn die derzeitige starke Position der italienischen Kommunisten wäre ohne die gründliche Vorarbeit ihrer Gewerkschaft undenkbar.

Werbung
Werbung
Werbung

Immerhin stehen in Italien der kommunistisch dominierten CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro) mit ihren vier Millionen Mitgliedern die christdemokratische CISL mit rund 2,2 Millionen und die sozialdemokratische UIL mit etwa 800.000 Mitgliedern gegenüber.

Die jahrelange Arbeit in den Betrieben hat sich bezahlt gemacht, so daß die Machtfülle heute ausreicht, über die traditionellen gewerkschaftlichen Agenden (insbesondere also die tarifpolitische Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern) hinaus Politik zu machen. Schon bei Lenin steht, daß „die Gewerkschaft der Transmissionsriemen zwischen der Partei und den Massen“ sei.

Was derzeit in Italien spektakulär vor sich geht, geschieht auch — weniger dramatisch — in zahlreichen anderen europäischen Staaten. In Frankreich stellt die kommunistische CGT mit ihren rund 2,3 Millionen Mitgliedern nicht nur die stärkste Gewerkschaft dar, sondern kann auch noch die beiden kleineren Gewerkschaften (die sozialistische CFDT mit 700.000 und die unabhängige FO mit 600.000 Mitgliedern) im politischen Eskalationsspiel regelmäßig miteinbeziehen, da die gemäßigten Gewerkschaften befürchten müssen, bei Ablehnung des „Mitgehens“ auch bei radikalen Forderungen Sympathien und Mitglieder einzubüßen.

Die starke Position der britischen Gewerkschaften ist bekannt. Zwar handelt es sich hier nicht um Richtungsgewerkschaften, doch zeigt sich einerseits das fatale System zu vieler, kleiner Fachgewerkschaften (die früher oft auf Kosten des volkswirtschaftlichen Ganzen gegeneinander gestreikt haben), anderseits ein starker kommunistischer Einfluß bei gewissen Schlüsselgewerkschaften. Es wurde in der britischen Öffentlichkeit schon wiederholt mit Sorge vermerkt, daß die KP, die bei Unterhauswahlen regelmäßig leer ausgeht, erfolgreich versucht, durch Einschleusen bestens geschulten Kaderpersonals in verschiedene Gewerkschaften Einfluß im Staate auszuüben.

Wie stark der Einfluß der englischen Gewerkschaften sein kann, haben sie 1974 gezeigt: der Bergarbeiterstreik brachte das Land an den Rand des Zusammenbruchs der Energieversorgung. In der Folge mußte die Regierung Heath einer Labour-Regierung Platz machen.

In den drei genannten Ländern haben und hatten die kommunistischen (und zum Teil auch die sozialistischen) Parteien kaum parlamentarischen Einfluß. Dies ließ nur einen strategischen Weg offen: über die Gewerkschaften politische Macht zu erringen. Wie in Österreich, sind die Gewerkschaften in diesen Ländern verfassungsrechtlich nicht geregelt. In Österreich hat die seit Jahren gepflogene Politik der Sozialpartner dem ÖGB ein hohes Maß an faktischer (moralischer) Verantwortlichkeit beschert, die es auch ermöglicht, daß hohe Gewerkschaftsfunktionäre in Phasen wirtschaftlicher Rezession maßvolle Lohnforderungen vorbringen können, was einem britischen Gewerkschaftsboß noch vor kurzem seitens seiner Kollegen bestenfalls mit mitleidigem Hohngelächter quittiert worden wäre.

Viele Gewerkschaften suchen erfolgreich, neben ihrer eigenständigen (außerparlamentarischen) Arbeit Einfluß auf jene Parteien zu nehmen, von denen sie ursprünglich zwecks Verbreiterung der Parteibasis gegründet worden sind. Sozialistischen Parteien, die in der Zwisohenzeit den Weg zur „Volkspartei“ eingeschlagen hatten, kamen ihre erstarkten Gewerkschaften mehr als einmal in die Quere. In Erinnerung sind noch die inneren Kämpfe des Kabinetts Wilson I. Damals war der Premier mehr damit beschäftigt, die Attacken seiner Genossen im TUC abzuwehren, als sich mit den Angriffen der Opposition auseinanderzusetzen.

Verbal lehnen zahlreiche Gewerkschaften zwar die direkte politische Verantwortung ab, sei es aus Respekt vor den parlamentarischen Institutionen, sei es, um nicht „mitschuldig an der Krise“ zu werden, doch geben selbst hohe Funktionäre wie etwa DGB-Chef Vetter unumwunden zu, daß „eine Art Symbiose zwischen uns und der jetzigen Bonner Regierung“ bestehe. Der stellvertretende Generalsekretär der italienischen CGIL, Piero Boni, stellt trocken fest, daß die Mitsprache der Gewerkschaften durch die Krise in Italien notwendig geworden sei, „weil wir die einzigen sind, die Lösungsvorschläge gemacht haben. Wir müssen da tätig werden, wo die Regierung tatenlos verharrt.“

Der britische Gewerkschaftsboß Jack Jones umschreibt es milder: „Ich war nie der Meinung, die Gewerkschaften seien ein Klub, der nur für die Interessen seiner eigenen Mitglieder eintritt und sich um das Schicksal der anderen Menschen nicht kümmert.“

Sicher ist, daß es heute keine politisch relevante Frage mehr gibt, die die Gewerkschaften nicht auf ihre Weise behandeln würden. Es sei hier nur auf die Rolle des ÖGB bei der ORF-Reform hingewiesen. Die politische Landschaft der europäischen Demokratien ist nicht zuletzt durch ein immer tieferes Eingreifen der Gewerkschaften in die Tagespolitik gekennzeichnet.

Die skandinavischen Gewerkschaften sind im allgemeinen starke Bollwerke der Sozialdemokratie. Besonders stark ist die Verschrän-kund in Schweden, wo der Gewerkschaftsbund (bezeichnenderweise) „Landesorganisation“ heißt und mit 1,8 Millionen Mitgliedern einen Organisationsgrad von 70 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung aufweist. Klassenkämpferische Töne sind nicht zu vernehmen, Streiks eine Seltenheit.

Finnland, mit einer relativ starken kommunistischen Partei, bietet ein etwas anderes Bild. Da zwischen Sozialisten und Kommunisten starke Rivalität besteht, wird das Klima zunehmend radikaler, Streikdrohungen und Streiks sind keine Seltenheit und zwingen die auf Stabilität bedachte Regierung regelmäßig zum Konsens.

So verändern in vielen europäischen Demokratien die Gewerkschaften nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische Realität. Dazu kommt das zunehmende Engagement der Gewerkschaften in der Wirtschaft, angefangen von Konsumgenossenschaften bis zu Banken (so ist die Bank für Gemeinwirtschaft in der BRD die viertgrößte überregionale deutsche Geschäftsbank mit rund 100 Tochtergesellschaften), Versicherungen und so fort Ein Trend der letzten Jahre ist die „Multinationali-sierung“ der Gewerkschaften, die — so Gewerkschaftsfunktionäre — als wirksame Waffe gegen die multinationalen Konzerne gedacht ist. Obwohl hier der „Organisationsgrad“ noch dünn ist und verschiedene Fraktionen in Konkurrenz stehen, waren dennoch bereits spektakuläre Aktionen zu verzeichnen, deren Signalwirkung wegen ihrer grenzüberschreitenden Schlagkraft nicht übersehen werden sollte. So zwang die holländische Metallarbeitergewerkschaft schon vor Jahren die Geschäftsleitung des Philips-Konzerns, die chilenische Philips-Tochtergesellschaft zu veranlassen, die chilenische Gewerkschaft anzuerkennen. Auch für Sympathiestreiks gibt es bereits zahlreiche Präzedenzfälle. Die bisher spektakulärste Solidaritätsaktion traf den französischen Chemie-Giganten Saint-Gobain, dessen amerikanische und italienische Betriebe 1969 über Ersuchen von Gewerkschaften in Drittländern bestreikt wurden.

So lange es sich „nur“ um Streiks handelt, die ja ohnehin „nur“ die jeweiligen Unternehmen treffen, mag man dies als Teil gewerkschaftlicher Strategie in der tarifpolitischen Auseinandersetzung betrachten,doch haben sich die internationalen Gewerkschaftssekretariate mehr vorgenommen. Eine Ausdehnung der gewerkschaftlichen Tätigkeiten auf internationaler Ebene, etwa in Form internationaler politischer Solidaritätsaktionen, würde, als Einmischung in die inneren (wirtschaftlichen wie politischen) Angelegenheiten eines Landes, die RegierunT gen mit völlig neuen Realitäten konfrontieren, die — wie zum Teil auch schon die Tätigkeit der multinationalen Konzerne — zu einem Großteil außerhalb ihres Machtbereiches liegen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung