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Der Tribun Poujade

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Paris, im Februar.

Steuern zahlt niemand gerne, besonders in Frankreich, wo sich das System der derzeitigen direkten Steuererklärung besonderer Unpopula-rität erfreut. Nach diesen abgegebenen Erklärungen gäbe es im Lande höchstens ein Drittel der tatsächlich in Gebrauch stehenden Autos, und auch sonst müßten sehr viele am Hungertuch nagen, die im allgemeinen den Künsten der französischen Küche Ehre antun. Aber es kann kein Zweifel bestehen, daß sich dieses Steuersystem für viele Klassen der Bevölkerung sehr ungünstig auswirkt. Besondere „Sympathie“ genießen die sogenannten „fliegenden Brigaden“ — Steuerinspektoren —, welche die Bücher der Betriebe und Kaufleute überprüfen. Diese Brigaden überwachen auch den Lebensstandard aller jener Staatsbürger, die zu Recht oder Unrecht Steuerschiebungen verdächtigt werden.

Gegen diese Form des Staates, der sich auch in die intimen Bereiche des Individuums einzumischen beginnt, entstand eine Bewegung, wie sie Frankreich seit den Tagen General de Gaulles, 1947/48, nicht mehr gesehen hat. Zur Zeit der größten Ueberschwemmungen, also unter schwierigsten Verkehrsverhältnissen, versammelten sich beinahe 100.000 Kaufleute und kleine Gewerbetreibende in den Ausstellungshallen der Pariser Messe. Aus den entlegensten Flecken des südlichen Frankreichs sowie aus Algerien kamen die Bürger, die um ihre Existenz bangen. Aber im Untergrund war es auch ein Protest gegen die derzeitige Form des parlamentarischen Regimes. Das Parlament — und dieser Umstand kann nicht nachdrücklich genug unterstrichen werden — arbeitet für viele Staatsbürger wie eine leerlaufende Maschine, die nur die Gesetze fabriziert und mit der Nation kerne organische Verbindung herzustellen imstande ist.

Derzeit kann keine politische Partei, nicht einmal die kommunistische, solche Massen auf die Beine bringen, wie es hier aus einer kritischen Haltung heraus geschieht. Der Tribun, der diese Bewegung leitet, Pierre Poujade, war bis vor kurzem ein friedlicher Papierhändler in Saint-Cere, Vater von vier Kindern und im wesentlichen nur am Fußball interessiert. In frühester Jugend betätigte er sich in rechtsextremen Gruppen. Nichts schien ihn für eine historische Rolle zu bestimmen. Anläßlich einer Steuerüberprüfung rotteten sich 300 Gewerbetreibende zusammen und hinderten am 22. Juli 1953 die Beamten an der Ausübung ihrer Pflicht. Dieser Vorgang glich dem Funken, der in einen riesigen dürren Holzstoß gefahren war.

Der erst 35jährige griff die Fahne der Revolte auf. In mehr als 300 Versammlungen rief er das Kleinbürgertum zu Kundgebungen zusammen, an denen oft bis zu 30.000 Personen teilnahmen. Seine Organisation nennt sich bescheiden „Union zur Verteidigung der Handel-und Gewerbetreibenden“ (Union de defense des commercants et artisans). Er selbst gibt 800.000 Mitglieder an. Wir werden etwas vorsichtiger von 600.000 Mitgliedern sprechen. Seine Zeitung „Union“ hat eine Auflage von etwa 300.000, außerdem gründete er eine Art Ordnungsdienst von 2000 Mann. Die Versammlungen sind übrigens stets in ziemlicher Ruhe und Ordnung verlaufen. Oft hat man den Eindruck, daß manche Teilnehmer es bedauern, zu solchen extremen Mitteln greifen zu müssen.

Poujade ist der Typ des geborenen Volkstribuns. Ohne besondere wirtschaftliche oder soziale Vorkenntnisse schleudert er seinen Anhängern immer wieder dieselben Schlagworte entgegen: „Der Staat will uns vernichten, ja es gibt eigentlich gar keinen Staat mehr... die Abgeordneten sind unfähig... wir wollen die wirtschaftliche Revolution, um die Wirtschaft einer Revolution neu zu gestalten.“ Derartige Parolen werden von seinen Zuhörern gläubig aufgenommen und phrenetisch beklatscht. Der „Chef“ drückt ja damit nur die Stimmung des Unbehagens weiter Kreise aus, die das typische Frankreich repräsentieren, wie des Besitzers des „Bistro“, des Händlers, des provinziellen Gewerbetreibenden; sie alle suchen nach einer neuen Politik, sie fühlen sich von mächtigen Interessengruppen mit ihren politisch-parlamentarischen Stützen bedrückt. Die Steifheit und Instinktlosigkeit der eigenen Berufsvertretungen trug das “ihrige dazu bei, um die neuartige Form dieser Massenbewegung zu gebären. Vielfach spielt auch das Unvermögen mit, sich den modernen wirtschaftlichen Tatsachen anzupassen, sich zu modernisieren, unrentable Grenzbetriebe aufzulassen und gegen das Lieberwuchern des Detailhandels von sich aus anzukämpfen.

Die Bewegung entwickelte sich im Süden und Südwesten Frankreichs, also in den ärmeren Gebieten des Landes. In diesen Departements zählen besonders die Linksparteien wie die Kommunisten auf eine sichere Anhängerschaft. Paris mit seinen lausenden kleinen Läden scheint sich nun ebenfalls, wenn auch zögernd, der Bewegung anzuschließen. Poujade und seine Genossen versuchen auch im nördlichen Teil die Organisation vorzutreiben. Die Anhänger und Mitglieder Poujades waren, politisch gesehen, jene Massen, die den Gaullismus cmpprgerragen haben, die sich vor dem Kriege den rechtsgerichteten Ligen verschrieben hatten und die durch den Sozialismus enttäuscht wurden. Die Sehnsucht nach der Ordnung, nach der Sicherheit der Arbeit sind die Grundelemente dieser Bewegung. Eine politische Struktur ist bisher nicht aufgetaucht. Alles verschwindet noch in der Reaktion gegen den Steuereintreiber. Ziehen wir Parallelen mit ähnlichen soziologischen Vorgängen in anderen Ländern, so ergeben sich gewisse Analogien mit der Frühzeit des Faschismus und Nationalsozialismus. Die Nachkriegsdemokratie konnte dieses fluktuierende Bürgertum geistig nicht erfassen, es sieht sich an den Wurzeln seiner Existenz bedroht.

Die Kommunisten haben natürlich versucht, diese für sie sehr willkommene Bewegung für sich zu verwenden. Bis in die leitenden Kreise um Poujade wurde eine Infiltration, vielfach mit Erfolg, in die Wege geleitet. Allerdings bemühte sich Poujade in der Mitte des vergangenen Jahres, sich von jeder kommunistischen Einflußnahme frei zu machen. Die Kommunisten beginnen derzeit, die Persönlichkeiten der Union anzugreifen, versuchen jedoch nach wie vor, die echte Sozialbewegung vor den eigenen Karren zu spannen. Mit besonderem Mißbehagen betrachten Sozialisten und Radikale eine Entwicklung, die ihnen bei den in 16 Monaten stattfindenden Parlamentswahlen empfindliche Stimmenverluste eintragen kann. Auch die großen Berufsverpände. wie zum Beispiel die Organisation der Bauern und die der mittleren und kleinen Betriebe, zeigen sich über die plötzliche Konkurrenz sehr ungehalten; G i n g e m b r e, der führende Kopf der Föderation der mittleren und Kleinbetriebe, wird immer mehr der Gegenspieler Poujades, ohne jedoch nur annähernd über den gleichen Einfluß zu verfügen.

Die Regierung schließlich hat noch keine offizielle Stellung eingenommen, obwohl die Bewegung Poujade ein Ultimatum gestellt und den Steuerstreik angedroht hat. Das Finanzministerium kündigte schon lange eine Steuerreform an, gewisse Erleichterungen wurden sicherlich geschaffen. Die Kontrollen wurden, nachdem mehrere hundert Male die Beamten mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt hatten, vielfach eingestellt oder merklich höflicher durchgeführt. Aber sowohl die Regierung wie das Parlament fühlen die Unzufriedenheit, das Grollen einer in Frankreich bisher traditionell staatserhaltenden Klasse. Die so oft verkündete neue Wirtschafts- und Sozialordnung, unter deren Parole teilweise die Regierung Mendes-France gebildet wurde, ist noch nicht einmal in Umrissen erkennbar. Im Gegenteil, der neue Finanz- und Wirtschaftsminister, Buron, kündigte an, daß der Achtzehnmonatsplan Edgar Faures logisch weitergeführt würde.

Eine echte Volksbewegung hat sich bereits in Ansätzen um die Aktion des Abb6 Pierre abgezeichnet. Mit Poujade tauchen nun aus der Tiefe des Volkes ganz andere Gewalten und Gestalten auf, deren Wirksamkeit noch nicht abzuschätzen ist, die jedoch wie Sturmvögel eine Flut ankündigen. Wird eine neue Form des Faschismus entstehen? Werden die Kommunisten die einzigen Nutznießer sein? Oder wird Poujade, klug beraten und im Bewußtsein der Grenzen auch seiner so schnell erworbenen Macht, durchführbare Reformen vorschlagen und sie durchzusetzen versuchen? Sollte sich um Poujade jedoch eine politische Doktrin kristallisieren, so würde dadurch Frankreich vor einer neuen innerpolitischen Situation stehen. Aber wir sind noch nicht so weit, die Experten beraten, und Poujade hämmert kräftig in den Versammlungen den aufnahmebereiten Zuhörern seine Demagogie ein.

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