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Das Karussell dreht sich wieder

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Die Kommentatoren der französischen Innenpolitik waren in den letzten Monaten beinahe von Arbeitslosigkeit bedroht und wandten sich ergiebigeren Objekten wie der Außen- oder Wirtschaftspolitik zu. In der Tat konnte die Regierung Mollet als die stabilste der Vierten Republik angesehen werden und man sagte ihr eine Lebensdauer bis Ende des Jahres voraus. Es schien ausgeschlossen, daß es eine Rechtspartei wagen würde, das traurige Erbe in Algerien zu übernehmen. Trotzdem wurde die Regierung durch 250 Stimmen gegen 213 in die Minderheit gesetzt. Das Ergebnis kam durch die zahlreichen Enthaltungen der konservativen Unabhängigen zustande, und die in letzter Minute unternommenen selbstlosen Stützungsversuche des MRP scheiterten.

Die Rechte konnte den Finanzplan Ramadiers, besonders seine Steuerpolitik, nicht mehr sanktionieren, obwohl es klar ist, daß jeder Nachfolger ähnliche Methoden anwenden muß, solange der Krieg in Algerien dauert. Die zusätzliche Belastung, die der Finanzminister den Betrieben auflegen wollte, war der Tropfen, der das Glas zum Ueberrinnen brachte. Die Suezaffäre hat die Gold- und Devisenvorräte Frankreichs auf das Empfindlichste verringert. Das amerikanische Petroleum wurde mit 150 Millionen Dollar bezahlt. Der Krieg und die weiteren militärischen Verpflichtungen halten 1,200.000 Mann unter Waffen. Ein Mangel an Facharbeitern macht sich immer deutlicher bemerkbar. Spekulative Käufe und die dadurch veranlaßten verstärkten Importe wurden auch durch drakonische Maßnahmen nicht ent- entsprechend gedrosselt. Es steht nun derzeit zur Diskussion, die Liberalisierung gänzlich aufzuheben. Die Gerüchte um eine Abwertung wollen nicht verstummen. Dadurch entstand ein Klima der Unsicherheit, das weitreichende psychologische Rückwirkungen auf die ganze Wirtschaftsstruktur zeigt.

Die Kassandrarufe der Regierung Mollet sind von der Rechten dahin gedeutet worden, daß Frankreich von einer finanziellen Katastrophe bedroht sei und ein weiteres Verbleiben der Regierung nicht mehr opportun wäre. Dabei wurde die Politik Lacostes in Algerien von den Konservativen uneingeschränkt unterstützt.

Frankreich steht in einem außergewöhnlich dramatischen Moment seiner Nachkriegsgeschichte. Der Terror in Algerien steigert sich von Tag zu Tag und nimmt Auswüchse an, die mit den barbarischesten Ausbrüchen der menschlichen Geschichte verglichen werden können. Eine Fellachenabteilung massakrierte in Melouza sämtliche Männer und Jünglinge, und zwang die Frauen und Kinder, diesem Gemetzel beizuwohnen. Franzosenfreundliche Politiker werden lebendig verbrannt oder der Vizepräsident der früheren algerischen Nationalversammlung in Paris bei einem Pferderennen trotz Leibwächtern in unmittelbarer Nähe des Präsidenten Coty ermordet. Fallschirmjäger nehmen wahllos blutige Rache in den Arabervierteln, nachdem ihre Kameraden selbst in den französischen Städten vor Attentaten nicht mehr sicher sind. Die Bürgermeister Algeriens verlangen die Generalmobilisierung. Die Logik der Dinge fordert eine derartige Maßnahme, sollen die bisherigen Opfer nicht umsonst gebracht werden. Es gibt nur noch zwei Möglichkeiten: die gesamte militärische Gewalt der Nation in die Waagschale zu werfen und den Aufstand niederzukämpfen oder sich an der indochinesischen Lösung ein Beispiel zu nehmen.

Präsident Coty, von seinem triumphalen Empfang im Vatikan und Quirinal zurückgekehrt, sah sich genötigt, in einem pathetischen Appell an die Weltöffentlichkeit das algerische Drama als eine Frage des Gewissens und der Humanität aufzurollen. Gleichzeitig mußte er sich der so unbequemen Aufgabe widmen, einen Nachfolger für Mollet zu finden. Es war zu natürlich, daß er in erster Linie an Pinay dachte, war es doch dem Präsidenten der Unabhängigen in der kritischen finanziellen Situation 1952 gelungen, die Währung zu halten, und außerdem war die Regierung durch das Votum seiner Partei gestürzt worden. Pinay lehnte jedoch ab, da die parlamentarische Plattform der Unabhängigen durch die letzten Wahlen sehr eingeengt wurde. Die Unabhängigen konnten jedoch in allen vier Neuwahlen der Legislaturperiode ihren Kandidaten zum Sieg verhelfen, selbst der Parlamentssitz Herriots in Lyon fiel ihnen zu. Kenner der Situation im französischen Parlament behaupten, daß eine dauernde Lösung der französischen Probleme durch die derzeitige Kammer nicht möglich sei. Der Gedanke an Auflösung und Neuwahlen findet eine immer größere Zahl von Anhängern. Die Unabhängigen machen sich mit diesem Gedanken vertraut und neigen dazu, ihre Unterstützung einem Uebergangskabinett zu leihen, als sich selbst die Finger zu verbrennen. Ohne Zweifel würde ein neuerlicher Wahlgang in diesem Moment zugunsten der Konservativen aus- fallen. Die Poujade-Bewegung ist geschwächt und zersplittert. Sie verfügt nicht mehr über den Nimbus der Jahre 1953/54. Der Mendesismus als die treibende Kraft zur Bildung der republikanischen Front ist so gut wie ausgelöscht. Nach dem Wuchern verschiedener Dissidenzen in der radikalen Partei ist Mendės im Zuge der Regierungskrise gezwungen worden, die Leitung des Restes der radikalen Partei aufzugeben. Die in der Regierung von ihm delegierten Minister hatten den Gehorsam aufgekündigt und kautionier- ten in so eindeutiger Weise die Algerien-Politik, daß seine Rolle als großer Mittler im Stile der Genfer Konferenz immer illusorischer wurde.

Der Präsident der Republik klopfte bei Pleven an und übertrug ihm einen Informationsauftrag. Pleven bestätigte nur die Gegensätze zwischen den nationalen Parteien, brachte jedoch keine neuen Elemente zum Vorschein. Mit Sympathie und Hoffnung wurde der Versuch Pflimlins von der öffentlichen Meinung und in Wirtschaftskreisen begrüßt. Der Chef des MRP versuchte eine Regierung der nationalen Union von den Unabhängigen bis zu der SFIO zu schaffen. Pflimlin gilt als einer der dynamischesten und fähigsten unter den jüngeren Politikern Frankreichs. Er ist ein ausgezeichneter Kenner wirtschaftlicher und Finanzprobleme. Als Wirtschaftsminister zahlreicher Kabinette vor Mollet war es ihm gelungen, einen geordneten Staatshaushalt herzustellen und den Franc stabil zu halten. Sein Regierungsprogramm war einfach und hätte eigentlich die Zustimmung der angesprochenen Parteien erhalten müssen. Und das MRP wollte damit versuchen, seine Mittlerrolle erneut bestätigt zu sehen, nachdem die Partei seit den Wahlen die Dinge an sich herankommen ließ. Mollet persönlich unterstützte die Versuche Pflimlins, nachdem er Versicherungen bezüglich der noch ausstehenden Sozialgesetze (Plan Gazier) erhalten hatte. Seine Partei jedoch stellte Forderungen, die in keiner Weise mit der finanziellen Orthodoxie zu vereinbaren waren, wie sie Pflimlin anzuwenden gedachte. Es ist beinahe unnötig, hinzuzusetzen, daß sich Mollet und Pflimlin im außenpolitischen Sektor treffen, das heißt, bilde verteidigen die sofortige Ratifizierung der Europa-Verträge. Der eben zu Ende gegangene Parteitag der Volksrepublikaner in Biarritz hat die Fortsetzung der Europa-Politik als absolute Bedingung für jede zu unterstützende Regierung gesetzt. Der Vater Europas, Robert Schuman, wurde eindeutig zum „Weisen Alten” der Partei gekürt, während der Stern Bidaults. der sich der europäischen Integration gegenüber immer reservierter gezeigt hatte, deutlich im Sinken begriffen ist.

Das erste zögernde „Ja” der Sozialisten zu einem Experiment Pflimlins wurde durch einen Druck von unten, von der Basis der Partei heraus, vereitelt. Alles Liebeswerben und auch die treueste Unterstützung der sozialistischen Regierung durch das MRP wurden von den sozialistischen Parteigängern mit Mißtrauen und offener Abneigjung entgolten. Es ist, als wären die Federationen der SFIO von einer Art Trauma befallen, sobald es sich um die christlichen Demokraten handelt. Zweimal bereits wurde eine durch christliche Demokraten geleitete Regierung durch die Sozialisten gestürzt und ein erster Versuch Pflimlins, Regierungschef zu werden, scheiterte vor zwei Jahren ebenfalls an dem Einspruch der Sozialisten.

Eine Regierung Sozialisten-MRP-Radikale, den Volksrepublikanern, die nicht an die konservative Rechte gebunden werden wollen, erwünscht, scheint damit ausgeschlossen. Jede französische Krise bedarf ihrer Zeit, bis die Müdigkeit die Parteien so weit ergreift, um ein, wenn auch faules Kompromiß zu erzielen. Dieses wird sicherlich zu-stande kommen, kann jedoch nicht jene Aktionen auslösen, dieinderLage wären, Algerien zu retten, die Finanzkrise zu bannen und die sehr ambitionierten Projekte zur wirtschaftlichen Entwicklung der Sahara durchzuführen. Immer deutlicher zeigt es sich, daß die derzeitigen Institutionen der Situation nicht gewachsen sind und eine.Reform dringend erforderlich wird. Frankreich sucht zur Stunde mehr als eine Regierung.

Die Anhänger De Gaulles schreien wieder nach dem starken Mann, der einsame Mendės- France erwartet die Stunde der Katastrophe, um sich als Retter zu präsentieren, die SFIO würde am liebsten im Schmollwinkel sitzen, die ganze Verantwortung jenen auflasten, die sie für den Sturz der Regierung Mollet verantwortlich machen. Die Konservativen arbeiten auf Neuwahlen hin. Wo soll da der gemeinsame Nenner gefunden werden, um die Interessen der Partei- und Wirtschaftsgruppen dem Gesamtinteresse der Nation unterzuordnen? Wenn das Blutbad von Melouza als Menetekel nicht genügt — was muß noch alles geschehen, um einen konstruktiven Abschnitt in der französischen Innenpolitik cinzuleiten?

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