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England im Krönungsjahr

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Es sind noch mehr als sechs Monate bis zu dem Tag, da die jugendliche Königin: von Großbritannien und Nordirland mit: den Insignien ihrer Würde bekleidet werden soll, aber schon jetzt ist für die englische Öffentlichkeit nur wenig von solchem Interesse wie die Vorbereitung für diesen großen und feierlichen Akt. Dies zeigte sich auch im Zusammenhang mit der Eröffnung der neuen Legislaturperiode; die majestätische Sicherheit, mitt der „Lilibeth“ vor dem versammelten Parlament aufgetreten war, verbunden mit ihrer gewinnenden Erscheinung, beschäftigte die Aufmerksamkeit der Massen weit mehr als der Inhalt der Thronrede und des Exposes, in dem der Premierminister die königliche Botschaft des näheren erläutert hatte.

Allerdings: beide Reden waren auffallend unverbindlich, und wer eine Sensation oder doch zumindest eine klare Skizze des Kurses,, den die Regierung Churchill im neuen parlamentarischen Jahr zu verfolgen gedenkt, erwartet hatte, der kam nicht auf seine Rechnung. Eine Reihe wichtigster Fragen, namentlich auf dem Gebiet der Außenpolitik, hatte gar keine oder nur eine beiläufige Erwähnung gefunden, und so fiel es auch der Opposition sichtlich leichter, die Unvollständigkeit des Regierungsprogramms zu bemängeln, als das, was es tatsächlich enthielt. Eine Ausnahme hievon bildeten die aus der letzten Session übernommenen Gesetzesvorlagen betreffend die Entstaatlichung des Straßentransportwesens und der Eisen- und Stahlindustrie; aber davon abgesehen, war in dem Programm kaum eine Maßnahme angekündigt, die, unter den heute gegebenen Umständen, nicht auch von einer Labourregierung ins Auge gefaßt werden müßte.

In ihrem offensichtlichen Wunsch, zumindest bis nach der Krönung nach Möglichkeit alles zu vermeiden, was zu einer Erhöhung der parteipolitischen Spannungen beitragen würde, hätte die Regierung, wenn nur irgend möglich, die Rücküberführung der beiden genannten Industrien in Privatbesitz am liebsten noch weiter verschoben. Dies aber verboten Parteiprestige — und nationales Interesse.

Wie kein anderer Zweig der unter Labour verstaatlichten Industrien hatte der Ferntransport von Gütern und Personen ein Betätigungsfeld des kleinen Mannes gebildet. Zwar waren schon bei der Nationalisierung des Kohlenbergbaus und besonders der Eisenbahnen nicht so sehr die „Kohlenbarone" und die „Bahnmagnaten" zu Schaden gekommen als vielmehr die ungezählten kleinen Sparer, die. für ihre guten, zu ungünstigem Kurse übernommenen Aktien niedrig verzinsliche Staatspapiere erhielten; noch drük- kender lastete die Verstaatlichung des Straßentransports, die die Konkurrenz für die Bahnen hätte ausschalten sollen, auf Tausenden von kleinen Unternehmern, darunter sehr vielen Veteranen des letzten Krieges, die ihre Ersparnisse zum Aufbau eines bescheidenen Transportbetriebes verwendet hatten und nun ihrer selbständigen Existenz beraubt worden waren. Hier also galt es, eine Maßnahme rückgängig zu machen, die sich in sozialer Hinsicht, übrigens auch vom verkehrstechnischen Standpunkt aus, als verfehlt erwiesen hatte.

Für die Entstaatlichung der Eisen- und Stahlindustrie lagen die entscheidenden Gründe auf einer anderen Ebene. Diese Industrie gehört zu den wichtigsten des Vereinigten Königreichs. Sie bildet das Rückgrat der Landesverteidigung wie des überwiegenden Teiles der Produktion, die England exportieren muß, um leben zu können. Ihre fachlichen Leistungen waren mustergültig, und auch das bei ihr herrschende Verhältnis zwischen der Arbeiterschaft und den Unternehmern gab kaum je Anlaß zu Klage. Mit ihrer Verstaatlichung, für die, wie von Labour selbst zugegeben werden mußte, nicht sachliche Momente, sondern lediglich die Forderungen der Doktrin maßgebend waren, sollte auch diese Industrie unter die Versuchsobjekte eines überdimensionalen Bürokratismus eingereiht werden. Das schien dem Führer der konservativen Regierung und seinen Ratgebern ein allzu gewagtes Experiment,, um nicht der Wiedereinschaltung der gerade in diesem Produktions- zwaig praktisch unersetztlichen Privatinitiative dien Vorzug zu geben. Im übrigen werden auch nach Durchführung der Entstaatlichungsoperation die Unternehmungen der Eisen- und Stahlindustrie, wie dies schon während des Krieges der Fall war, einem weitgehenden Aufsichtsrecht des Staates unterworfen bleiben.

Es ist somit anzunehmen, daß die Regierung Churchill auch im zweiten Jahr nach ihrer Amtsübernahme fortfahren wird, das von ihrer Vorgängerin übernommene Erbe soweit als möglich zu respektieren. Wenn man sich des vernichtenden Urteils erinnert, das die Konservativen in der Opposition über fast jeden Schritt des Labourregimes gefällt hatten, erscheint das behutsame Verhalten der zur Macht gelangten Partei einigermaßen paradox. Der Parteiführung, und dem greisen Staatsmann an ihrer Spitze, aber deshalb Zaghaftigkeit vorzuwerfen, wie es seitens mancher Jungkonservativen geschieht, oder Rastlosigkeit, wie es Mr. Attlee und seine Kolllegen mit Vorliebe tun, entbehrt der Begründung. Es ist eben so, daß die Voraussetzungen für die Errichtung des sogenannten Wohlfahrtsstaates, den die Sozialisten stolz als ihr Werk bezeichnen, nicht von der Regierung Attlee, sondern schon vor zehn Jahren von der Koalitionsregierung der Kriegszeit geschaffen worden sind. Durch die unmittelbaren Aufgaben der Kriegführung voll in Anspruch genommen, hatten Churchill und seine konservativen Mitarbeiter das Gebiet der Innenpolitik fast ganz den sozialistischen Koalitionspartnern überlassen und ihnen so die Möglichkeit gegeben, die Verwirklichung ihrer sozial- und wirtschaftspolitischen Theorien in die Wege zu leiten. Seither hat sich die große Masse des englischen Volkes mit dem neuen System abgefunden, und so umstritten die Vor- und Nachteile des Wohlfahrtsstaates auch sind, so könnte an eine Wiederherstellung des früheren Zustandes, gemäß dem traditionellen Konzept der englischen Freiheit, nur von einer Regierung gedacht werden, die der Meinung wäre, die Weltgeschichte habe erst mit ihrer Machtübernahme begonnen.

Winston Churchill ist viel zu sehr Realpolitiker und ein viel zu gründlicher Historiker, um einer solchen Illusion zu verfallen. Das haben manche übersehen, und daher das häufige Befremden darüber, daß der Premierminister nicht zu allen Fragen, namentlich auch auf dem Gebiet der Außenpolitik, die Haltung einnimmt, die seine Worte als Führer der Opposition erwarten ließen. Auch ein Churchill kann nichts daran ändern, daß die bedenkliche Saat, die mit der Devise des nationalen Selbstbestimmungsrechtes ausgesät worden war, selbst unter den Nomaden der Wüste und im afrikanischen Busch zur Reife gelangt ist; daß das Westminster- statut keine Klausel enthält, durch die es den souveränen Dominions unmöglich gemacht würde, eine Politik zu betreiben, wie etwa die Politik eines Dr. Malan, die das eigene Land wie das gesamte Commonwealth mit schwersten Gefahren bedroht; daß jeder Versuch Englands, die noch ungenügend entwickelten Völker seines Kolonialreiches von einem überstürzten Wettlauf um ihre Eigenstaatlichkeit zurückzuhälten, von aller Welt, und auch von Englands Freunden, als reaktionär und imperialistisch gebrandmarkt würde; daß England heute'nicht mehr in der Lage ist, seinen Willen in der internationalen Sphäre so durchzusetzen, wie in den Zeiten, da das seebeherrschende Albion die führende Großmacht war.

Englands Situation vor einem Jahr war nicht unähnlich jener des Sommers 1940, als Churchill zum erstenmal an die Spitze der Regierung trat. Auch im Herbst 1951 schien eine Katastrophe unvermeidlich, diesmal an der volkswirtschaftlichen Front. Das Defizit der Handels- und Zahlungsbilanz hatte eine beängstigende Höhe erreicht, der Gold- und Devisenvorrat näherte sich der Erschöpfung, und der Zusammenbruch der Währung, und damit auch der kostspieligen Sozialleistungen, die seit Kriegsende eingeführt worden waren, stand vor der Türe. Daß es der konservativen Regierung gelang, die Inflation abzuriegeln, ohne an jenen Leistungen wesentliche Abstriche vorzunehmen, war ein Verdienst, das zunächst kaum Anerkennung fand, denn diese Maßnahmen machten sich für jedermann in der Fortdauer, ja Verschärfung der so lange geübten „Austerity" sehr empfindlich bemerkbar. Allmählich ist da jedoch ein Wandel eingetreten, und der ständige Hinweis der Regierung auf die Tatsache, daß die Gesetze der Arithmetik im Staatshaushalt ebenso gültig sind wie im Haushalt des einzelnen, hat begonnen, seine Früchte zu tragen.

Zwar ist noch manches Problem zu lösen, vor allem das Problem einer Erhöhung der Produktion und Ausfuhr, bei unverändert strenger Drosselung der Importe; aber die bereits erzielte Halbierung des Handelsdefizits und die fortschreitende Besserung der Währungslage haben ermutigend gewirkt, und es ist kaum zu bezweifeln, daß die Regierung hei ihren fortgesetzten Bemühungen um die Hebung der Produktivität und um die schrittweise Beseitigung der vielfachen Schranken, die der Entfaltung persönlicher Initiative im Erwerbsleben entgegenstehen, in immer weiteren Kreisen Unterstützung finden wird; auch unter der Arbeiterschaft, die zu einem großen Teile schon bisher für die eingeschlagene Finanz- und Wirtschaftspolitik ein weitgehendes Verständnis gezeigt hat.

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