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Die Dritte Kraft

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Blut, Schweiß und Tränen verhieß Churchill seinem England, ehe er es zum Sieg gegen den einen Tyrannen führte. Und nun, da sich die Briten in einer vielleicht ebenso schweren Stunde zum zweitenmal auf ihn besonnen haben, dankt er ihrem erneuerten Vertrauen mit den harten Worten: »Wir stehen vor schweren Zeiten...“

Die Bedeutsamkeit des konservativen Wahlsieges in England reicht weit über die Grenzen des Empires hinaus. Ganz Europa, ja die halbe Welt erwartet sich von Winston Spencer Churchill, dem vielleicht größten Staatsmann unserer Zeit, daß er die bis zur Unerträglichkeit angespannte weltpolitische Situation zum Besseren wende. Nicht nur die englischen Wähler, die Verteidiger der Freiheit in fünf Kontinenten glauben, gern oder auch widerwillig, in einer möglicherweise übersteigerten Hoffnung, daß dieser eigentliche Sieger des zweiten Weltkrieges imstande sein könnte, den ersten Weltfrieden zu gewinnen.

König Georg VI. hat, dem Wunsch seines Volkes gemäß, Winston Churchill mit der Regierungsbildung beauftragt; dieser Auftrag krönt die Laufbahn des neuen, alten britischen Premierministers und legt ihm zugleich die schwerste Bewährungsprobe auf, vor die er je gestellt wurde. Denn Churchill wird sich diesmal nur dann bewähren können, wenn auch England sich bewährt.

Schon einmal, unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, hat England die Möglichkeit gehabt, auch den Frieden zu gewinnen. Hätte das britische Empire damals jene Stellung behaupten können, die es sich in den beiden Jahren errang, da es allein gegen Hitler kämpfte, wäre eine weltpolitische Situation wie die heutige undenkbar. Einig und in sich geschlossen stellt das britische Commonwealth of nations die einzige .Dritte Kraft“ dar, die im Spiel der politischen Kräfte denkbar ist, und nur das Fehlen dieser allenglischen Dritten Kraft war schuld daran, daß jenes unglückselige west-östliche »Gleichgewicht“ entstand, das in sich selbst die Ursachen aller machtpolitischen Auseinandersetzungen birgt.

Churchill hat in den verflossenen sechs Jahren unermüdlich darauf hingewiesen, daß der Frieden dann am stärksten bedroht sei, wenn England seine weltpolitische Verantwortung auf die Schultern der Vereinigten Staaten abwälzt. Es w.ar nicht Nationalstolz, der ihn die englische Sekundantenrolle im sowjetischamerikanischen Duell ablehnen hieß: Churchill wußte, daß ein aktives Eingreifen Englands in dieses Duell das sicherste Mittel sei, um jedes Blutvergießen zu verhindern. Aber ein solches Eingreifen verlangte Opfer, die nicht nur größer als jene waren, die man den sozialen Experimenten der britischen Nachkriegsregierung bringen mußte, sondern verlangten, daß eben diese Experimente vorerst zurückgestellt würden. Wie sich die Mitglieder der Labourregierung innerlich zu dem Ansinnen Churchills stellten, ist nicht bekannt; unbestritten bleibt jedoch, daß sie dem sozialen Frieden gegenüber dem Weltfrieden den Vorrang gaben und die Vereinigten Staaten die Verantwortung hiefür allein tragen ließen. Im vergangenen Jahr allerdings setzte sich Churchills richtiges Konzept durch; spät genug erkannte die amtierende Regierung, daß es notwendig sei, Englands Machtposition um des außenpolitischen Kräftespiels willen zu stärken. Und diesmal wurde der radikale Flügel der Regierungspartei, der weiterhin nichts Wichtigeres kennen wollte als den sozialen Frieden, aus dem sich seiner Meinung nach der Weltfrieden automatisch ergeben müsse, genau so überhört wie in den Jahren zuvor der prophetische Churchill.

Jetzt weiß man also, daß die Bewährungsprobe Englands nur hinausgeschoben wurde. Es mutet wie eine Fügung des Schicksals an, daß der Mann, der diese Bewährungsprobe unaufhörlich gefordert hat, gerade in dem Augenblick, da endlich auch seine Gegner deren Unvermeidbarkeit erkennen, dazu ausersehen wurde, England in dieser schweren Zeit vorzustehen. Denn Churchills und seiner Freunde Ziele sind seit langem schon die gleichen, die jede britische Regierung anstreben muß, wenn sie der weltpolitischen Entwicklung unserer Tage Rechnung tragen will. „ Das Empire muß die Rolle einer „Dritten Kraft“ spielen — die englischen Konservativen wollen jene Politik, die das Empire möglichst stark, das Commonwealth möglichst einig macht. England muß die Rolle der dominierenden Nation in Westeuropa übernehmen — die englischen Konservativen wollen durch die Förderung des privaten und individuellen Unternehmergeistes und durch erhöhten Ansporn der Arbeitsamen und Tüchtigen dem gesamten Kontinent, der die Folgen des letzten Krieges noch immer nicht überwunden hat, als wirtschaftlicher Rückhalt dienen, damit sich der noch nicht in Unfreiheit lebende Teil Europas mit Hilfe dieser Stütze um so schneller einigen kann. England darf nicht der stärkste Satellit, sondern muß der stärkste Bundesgenosse der Vereinigten Staaten in ihrem Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit der ganzen Welt werden — es ist das Ziel der Konservativen, Englands Position so sehr zu stärken, daß das weltpolitische „Gleichgewicht“ ein Ende nimmt und sich endlich die Waagschale der Freiheit und des Friedens und nicht diejenige der Willkür senkt.

All diese Aufgaben werden dadurch wohl nicht leichter, daß sie mit den Aufgaben identisch sind, die zu lösen Churchill und seine Freunde auf sich genommen haben; allein es scheint, als wäre diese Identität der augenblicklichen weltpolitischen Erfordernisse mit den langjährigen Zielen der englischen Konservativen ein gutes Vorzeichen.

Churchill ist schon einmal vor einer ähnlichen Situation gestanden. Als er im Mai 1940 an die Spitze der Regierung Seiner britischen Majestät trat, war die Lage Englands hoffnungslos. Und in fünf Jahren voll Blut, Schweiß und Tränen führte er sein Land zum Sieg. Warum sollte es diesem Mann, der schon einmal das schier Unmögliche vollbracht hat, nicht auch heute gelingen können, aus einer Lage, die keineswegs hoffnungslos, sondern nur ausweglos ist, den gangbaren Weg zu finden?

Wohin die Versuche Churchills zielen werden, eine gründliche Änderung der weltpolitischen Situation zu erreichen, auf welche Weise er zur Entspannung des alles beherrschenden Machtkonflikts beitragen will und ob es ihm gelingen wird, dem kalten Krieg ein Ende zu setzen, kann niemand voraussagen. Augenblicklich ist England in jene Probleme eingesponnen, die der konservative Wahlaufruf der vergangenen Wochen in die Worte „Abadan, Sudan, Bevan“ gekleidet hat. Aber mit größerer Zuversicht als zuvor kann man der Lösung dieser Probleme entgegensehen: die un-überschätzbare Zähigkeit, die Churchill stets dann hervorkehrt, wenn es um die Interessen des britischen Empire geht, seine Improvisationsgabe und seine Erfahrungen lassen hoffen, daß die britische Position nunmehr allen Ernstes gestärkt werden wird. Der Schwere unserer Zeit zum Trotz.

Allerdings — nur wenn diese vordringlichsten innerenglischen Probleme vollständig gelöst sind, nur dann kann Churchill das eine große Unternehmen erfolgreich beginnen, das alle von ihm erwarten: den Osten zum erlösenden Gespräch mit dem Westen zu nötigen. Gelingt Churchill die Wiederherstellung der englischen Sicherheit und Stärke nicht, sind wir um eine vielleicht entscheidende Hoffnung ärmer geworden, reüssiert er, dürfen wir auf einen Frieden hoffen.

Denn nur Frieden sollte die Welt von dem Mann erwarten dürfen, in den sie zum zweitenmal alle Hoffnung setzt. Mag er in Kriegszeiten kriegerisch gewesen sein, in gefährlichen Zeiten das gefährliche Leben nicht scheuen: man darf seiner staatsmännischen Weisheit, seiner Liebe zu England und nicht zuletzt seinem auf die Bewahrung des Erworbenen bedachten Konservativismus vertrauen. Churchill ist bei aller Brillanz ein zu nüchterner Politiker, um nicht zu wissen, daß er in einer Zeit, die so intensiv wie nie zuvor nach dem Frieden, dem wahren Frieden verlangt, auch tatsächlich diesem Frieden seine ganze Kraft widmen muß. Ob er diese Kraft auch tatsächlich, ob er sie noch immer besitzt, das ist eine Frage, auf die er nur durch die Tat selbst Antwort geben kann. Er möge aber wissen, daß ganz Europa, daß die halbe Welt gebannt auf diese Antwort wartet.

.Wir stehen vor schweren Zeiten“, sagte Churchill, als er erfuhr, daß sein letzter, großer Wunsch, England nach dem zweiten Weltkrieg in den ersten Weltfrieden führen zu dürfen, in Erfüllung gegangen sei. Und wir meinen, daß einer der Lichtpunkte dieser schweren Jahre jener Satz ist, den Churchill der zitierten Feststellung anfügte: .Ich glaube, wir werden auch jetzt unsere Aufgabe meistern.“ Ein Hinweis auf den Frieden..«

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