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Schlußstein im Geschichtswerk Churchills

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Der Verlag Scherz (Bern-Stuttgart-Wien) hat nun den letzten Band jenes Geschichtswerkes herausgebracht, den Churchill vor dem zweiten Weltkrieg begonnen und in den Jahren nach dem großen Ringen vollendet hat. Während die englische Ausgabe, die ungemein prächtig ausgestattete „Chartwell Edition“, den Titel „Die Geschichte der englisch- sprechenden Völker“ trägt, hat man der deutschen nur das Wort „Geschichte“ vorangestellt; der vorliegende IV. Band trägt den Untertitel „Die Großen Demokratien“. Er behandelt die Zeitspanne, die vom Wiener Kongreß und dem Tod der Königin Viktoria begrenzt wird, läßt dabei wie durch eine offene Türe auch Strahlen der Zukunft — von uns aus gesehen, der Vergangenheit — eindringen.

Die Diskussion um diese große Studie tritt damit in das entscheidende Stadium; denn man kann kaum den letzten Band so wie die ersten behandeln, Einzelheiten hervorheben und besprechen, einem Gesamturteil 'aber aus dem Wege gehen. So hat man gerade den letzten Band mit etwas Ungeduld erwartet: Wird er den Platz des Buches bestimmen? Wird er uns einen Fingerzeig geben, wie künftige Historiker sich zu dieser Arbeit stellen werden? Wird er die Rätsel lösen, die uns die anderen Bände aufgegeben haben?

Der IV. Band wirkt zunächst etwas schwächer als seine Vorgänger. Die Schilderung des nach- napoleonischen Europas und des nach-napoleonischen Englands ist gekonnt, aber nicht hinreißend. Dann und wann wirkt die Darstellung etwas monoton, nur hie und da lockert eine kleine Bosheit, eine ironische Formulierung, ein Augenzwinkern das ganze auf. „Kent heiratete eine Deutsche und zog sich nach Gibraltar zurück, um seine kriegerischen Talente auf dem Felsen zu pflegen“ oder „Georg IV. erkrankte ernsthaft, aber sei/i Haß gegen Karoline förderte und beschleunigte seine Genesung“, Parlamentsreform und Freihandel, der Krimkrieg, Palmerston, die Entwicklung in Australien und Neuseeland, all das zieht sich ein wenig mühsam hin. Diese Themen sind sehr oft behandelt worden, vielleicht läßt sich ihnen nicht allzuviel Neues abgewinnen! Unwillkürlich aber beschäftigt man sich bei dieser Lektüre mit einer anderen Frage: Es ist bekannt, daß Churchill die „Geschichte der englischsprechenden Völker" weder allein verfaßt hat noch auch verfassen konnte. Selbst die Arbeitszeit eines Titanei) ist beschränkt, und dem Verfasser standen eine Reihe groß ‘ Eiferten und Stilisten zur Verfügung, die das Material vorbereiteten, ein' Schema entwarfen und auch viele Seiten des Werkes schrieben, die allerdings von Churchill korrigiert, verändert oder mit Lazurlichtern versehen wurden. Man hat dabei bisher angenommen, daß Churchill bei der Abfassung dieses Werkes chronologisch vorgegangen ist. Wir wissen von ihm, daß das Werk bei Ausbruch des Krieges „halbfertig“ in der Schreibtischlade von Chartwell lag, und da der dritte Band weniger charakteristisch für Churchill schien als etwa der zweite, so nahm man an, daß der große, alte Mann etwas müder geworden sei und das Expertenkomitee, über das er präsidiert, etwas aktiver. Bestätigt der letzte Band diese Theorie? Am Anfang will es so scheinen, und man liest weiter und ist einigermaßen sicher, daß die vorgefaßte Meinung prompt und abschließend bestätigt wird. Aber dann stößt man plötzlich auf das Kapitel über, die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten, auf eine Schilderung des Sezessionskrieges, und da ist alles so lebendig und unmittelbar churchillisch, daß man erstaunt i'nne- hält. „Ende 1863". so liest man im Kapitel über die Sezessionskriege, „waren alle Illusionen verflogen. Der Süden wußte, daß er den Krieg verloren hatte und daß er unterworfen und niedergewalzt werden würde. Es ist eine der unvergänglichen, ruhmvollen Seiten in der Geschichte des amerikanischen Volkes, daß dieser Umstand dem Widerstandswillen der Konföderation nichts anhaben konnte. Der Norden, dem der Erfolg sicher war, konnte sich eine bittere Spannung leisten. Auf der Seite der Geschlagenen blieb nach dem Schwinden der letzten Hoffnung nur der Entschluß übrig, mit der Waffe in der Hand zu sterben. Lieber völlige Vernichtung ... lieber jede Farm niedergebrannt, jede Stadt bombardiert und jeder kämpfende Mann getötet, als daß die Geschichte ein Nachgeben hätte verzeichnen können. Jeder Mensch kann durch höhere Gewalt zu Boden getreten werden, und der Tod, in welcher Form er auch kommen mag, ist doch nur der Tod, der zu allen kommt. Wenn wir die militärischen Folgen des Jahres 1863 überblicken, dann will es uns unfaßbar scheinen, daß die Pein des Krieges . .. sich noch hinziehen sollte. .Tötet uns, wenn ihr könnt, vernichtet alles, was wir besitzen', rief der Süden. ,Wie ihr wollt', antwortete die unerschütterliche Mehrheit des Nordens.“

Man kann diese Worte unvernünftig finden, sie als Glorifizierung eines nutzlosen Heroismus abtun; aber eines kann man nicht: leugnen, daß sie von Churchill selbst stammen, daß niemand anderer gewagt hätte, sie so und nicht anders hinzuschreiben.

Man kann auch einwenden, daß diese Worte im Grunde nur eine etwas phantasielose Uebertragung der Situation nach Dünkirchen und der Lehre, die man damals gezogen hatte, auf eine bestimmte Phase der amerikanischen Geschichte darstellt. Merkwürdigerweise stimmt das aber nicht. Denn aus verschiedenen Anzeichen kann darauf geschlossen werden, daß das Kapitel über die Sezessionskriege schon

1939 fertig war, ein Teil des „halbfertigen Manuskriptes" von Chartwell; die Projektion muß daher in der entgegengesetzten Richtung erfolgt sein, was den Widerstandswillen nur noch großartiger erscheinen läßt.

Wenn wir das Bisherige zusammenfassen, so ergibt sich etwa das folgende: Churchill ist bei der Abfassung seiner Studie nicht chronologisch vorgegangen, auch im letzten Band sind früh vollendete Stellen, großartig und eindrucksvoll, wie sie nur seiner Feder entstammen können.

Versuchen wir aber das gesamte Werk zu überblicken und einzuordnen, so wird es gut sein, von unserem schnüfflerischen Ehrgeiz und textkritischen Bemühungen kurzfristig Abschied zu nehmen, die Arbeit als Ganzes zu betrachten, so zu behandeln, als hätte sie ein einziger Autor in einem Zug niedergeschrieben. Wer so seine Unvoreingenommenheit wiedergewonnen hat, würde wahrscheinlich zur Ansicht kommen, daß es ein großer Wurf ist: Ein riesiges Panorama von Fakten, Geschehnissen, Strö mungen, Begebenheiten, Episoden, Schlachten, Veränderungen und Wandlungen, von Aufstreben,

- Untergang, Vergehen und 'Auferstehen, konnte ge-j bändigt und geordnet werden. Eine Zusammenschau ist entstanden, ein geordnetes Bild. Macaulays Werk; „The History of England“, das der junge Churchill so genau gelesen hatte, ist abgerundet, ergänzt und vollendet. Am Ende seines Geschichtswerkes schrieb Macauly: „Die Geschichte unseres Landes in den vergangenen 160 Jahren ist vorwiegend die Geschieht e eines materiellen, moralischen und intellektuellen Aufstiegs.“

Churchill, der immer Zuversichtliche, nie Verzagende, kann sich am Ende seiner Betrachtung doch zu einem ähnlichen Fortissimo der Zuversicht nicht aufschwingen. „Eine neue Epoche kündigt sich an“, so schreibt er, „eine Epoche, in der dieses Bündnis (zwischen den englischsprechenden Völkern) abermals auf die Probe gestellt werden und in der seine herrlichste Frucht vielleicht die Erhaltung des Friedens und der Freiheit sein wird. Die Zukunft läßt sich nicht voraussehen, aber die Vergangenheit sollte uns zuversichtlich stimmen.“

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